22.12.2016, 09:57
Es überraschte Samuel, dass Lowell nicht sofort und ansatzlos zuschlug, nachdem er sich erdreistet hatte, derart mit ihm zu sprechen. Im Gegensatz zu den meisten Menschen, mit denen er während seines Gefängnisaufenthalts zu tun gehabt hatte, war der Gefängnisleiter selbst nie sonderlich beeindruckt von ihm oder seiner Tat gewesen. Zwar hätte man dies von einem Mann mit seiner Aufgabe zweifelsohne erwartet - denn wie gut konnte jemand ein Gefängnis führen, dessen Insassen ihn das Fürchten lehrten? -, doch der Verurteilte war sich sicher, dass dahinter noch ein ganz anderer Grund steckte. Dass sein Vater nämlich wusste, dass er den Mord an seiner Frau nicht begangen hatte, sondern ihn ganz im Gegenteil sogar eigenständig in Auftrag gegeben hatte, stand für ihn außer Frage. Und wenn dies der Fall war und sein Vater irgendeinen Menschen außer den Mörder selbst in seine Pläne eingeweiht hatte, wäre seine Wahl wohl au Lowell gefallen, dessen unbedingte Loyalität er genoss. Dieser Umstand führte natürlich dazu, dass Samuel den Gefängnisleiter nur noch mehr verabscheute und ihm angesichts des Verhaltens des Mannes die Galle in den Mund stieg.
Dass er letztendlich, zumindest vorläufig, überhaupt keine Prügel einstecken würde, hatte er überraschenderweise dem Offizier zu verdanken, der Lowells Aufmerksamkeit einforderte und Samuel damit gehörig verwunderte. Dass ein Mann der Marine sich selbst und seiner Mannschaft den Anblick eines windelweich geprügelten Schwerverbrechers versagte, erschien ihm untypisch und ihm fielen nur zwei mögliche Erklärungen dafür ein: Entweder wollte der Dunkelhäutige es Lowell nicht gönnen, derart seine Macht auf dem Schiff, das zurzeit in seiner Befehlsgewalt stand, zu demonstrieren. Dafür sprach der Gesichtsausdruck, den Samuel einige Momente zuvor hatte beobachten können. Eine ebenso wahrscheinliche Schlussfolgerung war jedoch, dass er die körperliche Zurechtweisung des Gefangenen lieber in die eigenen Hände nehmen wollte. In dem Fall käme Samuel zwar um die Bestrafung nicht herum, doch allein die Tatsache, dass Lowell sich mit Sicherheit grün und blau darüber ärgern würde, sie nicht selbst ausgeführt zu haben, bereitete ihm eine gewisse Genugtuung.
Aus diesem Grund beschloss er auch, noch einen Schritt weiter zu gehen. Je mehr Eindruck er jetzt schindete und je gefährlicher er wirkte, desto eher würde ihn die Mannschaft der Morgenwind in den nächsten Tagen oder Wochen in Ruhe lassen. Er spekulierte darauf, dass der Offizier seiner Linie treu bleiben würde und Lowell so schnell wie möglich von seinem Schiff haben wollte, auch wenn er sich bewusst war, dass diese Annahme enorm riskant war. Der Befehlshaber der Morgenwind mochte offensichtlich nicht viel Sympathie für den Amtsträger hegen, doch es war beinahe so sicher wie der Tod, dass er von einem verurteilten Mörder noch wesentlich weniger angetan war. Nichtsdestotrotz, es war das Risiko wert - allein schon, um Lowells wutverzerrte Miene begutachten zu können.
"Wenn ich Euch einen Handel vorschlagen dürfte, Sir", wandte er sich an den Offizier, nachdem Lowell ihm den Rücken zugekehrt und damit begonnen hatte, die Übergabepapiere zu begutachten. "Erlaubt mir, den da" - mit einem Kopfnicken deutete er auf Lowell - "im Anschluss an die Unterzeichnung kopfüber über Bord zu werfen und ich schwöre Euch, dass Eure gesamte Mannschaft die Fahrt ungehäutet überstehen wird."
Samuel wusste natürlich, wie übertrieben diese Worte klangen und dass sie weder bei Lowell, noch bei dem Offizier auch nur ansatzweise Eindruck schinden würden - ganz anders als bei der Crew, wie er hoffte, die den Geschichten über ihn deutlich aufgeschlossener gegenüberstand. Sie bewirkten beim Gefängniswärter jedoch genau die Reaktion, die er beabsichtigt hatte. Wutentbrannt schoss dieser zu ihm herum, hob den Arm mit der Gerte, rannte beinahe schon auf ihn zu und ließ sie mit einem laut vernehmbaren Klatschen über seine linke Wange schnellen. Blut floss aus der daraus resultierenden Wunde und Lowell begab sich direkt vor ihm in die Hocke.
"Noch ein Wort, Zaedyn, und ich lasse dich zu Tode prügeln wie einen räudigen Köter", sprach er leise, aber so deutlich, dass die umstehenden Männer ihn verstehen konnten. Samuel indes grinste ihn weiter höhnisch an - und spuckte ihm dann unvermittelt ins Gesicht. Ein Raunen ging durch die Reihen der versammelten Crew.