21.12.2016, 17:02
War da eine Reaktion auf dem Gesicht des Gefangenen zu sehen gewesen? Enrique hatte keine Gelegenheit genauer hinzuschauen. Stattdessen konzentrierte er sich darauf Lowells Blick standzuhalten und weiterhin nicht die Beherrschung zu verlieren. Er zwang seinen Körper dazu sich zu entspannen und dachte an seine Schwester, an ihre Reaktionen, wann immer seine Gefühle aus ihm hervor brachen und dieses Mittel half auch jetzt. Es gelang ihm ruhig zu werden.
Auf die Ausführungen brauchte er nicht so genau zu achten, er hörte den Geschichten über Samuels Taten nicht zum ersten Mal zu, immerhin war dass hier fast Stadtgespräch und vor denen die den Verbrecher abholten mussten diese Geschichten natürlich in allen Einzelheiten breitgetreten werden. Selbstverständlich reichlich ausgeschmückt und ergänzt, dass der Kern an Wahrheit darin kaum noch zu finden war, weil jeder eine bessere, spannendere Version hatte. Und bei diesem Exemplar von Erzähler würde es auf seine eigene perfide Art besonders schlimm sein, rechtfertigte Lowell doch nicht nur seine Überlegenheit, sonder auch seine Grausamkeit diesem Insassen gegenüber. Dem 2. Leutnant war klar, dass er die erneut in ihm aufsteigende Finsternis nicht von seinem Gesicht fernhalten konnte. Da war es für ihn eindeutig von Vorteil, dass sich Gregorys Aufmerksamkeit gänzlich auf den Knienden richtete. Wahrscheinlich würden die Meisten glauben, dass es Abscheu vor den Taten des Mörders war. Gut so, sollten sie.
Den Marinesoldaten blieb hingegen nicht verborgen, dass sich die Laune des Leutnants verschlechterte. Waren sie bis eben einfach bereit gewesen auf eventuelle Dummheiten Samuels zu reagieren, so wurden sie jetzt nervös, galt es doch zwei mögliche Probleme im Auge zu behalten und bei einem waren sie sich nicht sicher, ob und wie sie eingreifen sollten käme es zum Äußersten.
Ihr Sergeant wollte just neben Enrique treten, um dem zuvorzukommen, als der Bärtige seine Teilnahmslosigkeit abstreifte und im aufsässigen Ton antwortete. Sir Lowells Augen verengten sich ruckartig.
“Das hättest du wohl gerne, Abschaum. Aber du hockst hier in Ketten, Flinten auf dich gerichtet. Eine falsche Bewegung und du suhlst dich sterbend auf den Planken im eigenen Blut.“
Samuels Blick auf die Aktivitäten des Schiffes war nach wie vor eingeschränkt. Dennoch hatte er erkennen können, dass dort, wo die Arbeit fordernd war, auch konzentriert gearbeitet wurde. Die Meisten waren hingegen mit kleineren oder stumpfsinnigen Arbeiten beschäftigt wenn sie nicht sogar frei zu haben schienen. Da kam diese Sache als gelungene Abwechselung in ihren Alltag und die wenigsten dieser einfachen Leute schienen sich darum zu bemühen dieser Versuchung Widerstand zu leisten. Die einzige Frage war wohl, wie weit ihre Offiziere ihnen das durchgehen lassen wollten.
Jetzt, nach seiner Äußerung lief wieder eine Welle des Tuscheln über das Schiff und ließ viele der Arbeiten abermals zum Stillstand kommen. Murren und Knurren wurde laut. Sie mochte das Verhalten des Beamten nicht gutheißen, seine Arroganz sogar verabscheuen, dass was sich dieser Mörder da gerade erlaubte ging allerdings zu weit, maßte er, ein verurteilter Verbrecher, sich doch an, sich mit ihnen auf eine Stufe zu stellen. Alle Augen richteten sich auf die Gruppe um den 2. Leutnant.
Gregory wollte weiter reden, als ihn eine Stimme höflich aber bestimmt abschnitt, bevor er so richtig in Fahrt kommen konnte:
„Sir Lowell?“ Enrique war über sich selbst überrascht, denn er lächelte sogar freundlich. “Ich denke wir sollten uns den Übergabepapieren zuwenden, auf diese Weise verlieren sie nicht noch mehr ihrer sicher überaus kostbaren Zeit?“
Der Dunkelhäutige zog ein Schriftstück und eine Feder aus der Innentasche seines Uniformrockes und deutete damit auf einen Kistenstapel, auf dem Tinte bereitstand.
Gregory knurrte. Dem Gefängnisleiter gefiel es ganz und gar nicht, dass er in einem seiner kleinen Spielchen unterbrochen wurde, schon gar nicht, wenn die Herausforderung von einem Wurm wie diesem ausging. Andererseits erinnerte sein Magen ihn gerade unliebsamer Weise daran, dass er schon viel zu lange an einem Ort war, wo er gar nicht sein wollte.
„Sicher“, sagte er, betont von oben herab, wandte sich dem improvisierten Schreibpult zu, wo Enrique gerade das sich im Wind sträubende Pergament ausbreitete und damit Samuel den Rücken zu.