11.12.2016, 18:40
Irgendwie gab ihm die Besatzung der Sphinx doch öfters den Anhalt, daran zu zweifeln, dass sie wirklich Piraten waren. Er wusste nicht, was die einzelnen Leute vorher getan hatten oder wie lange sie nun schon auf See unterwegs waren – er wusste nur, dass sie etwa einen Monat nun gemeinsam segelten. Shanaya schien in ihrer Rolle als Piratin aufzugehen. Sie nutzte die Gelegenheit, die sich ihnen bot und ließ es sich nicht nehmen, Prinz Eisenherz zurecht etwas aufzuziehen. Liam rollte nur kurz mit den Augen, ehe er den Blondschopf abwinkte und sich dranmachte, den anderen beiden zu folgen. Offenbar war nämlich gerade nur er derjenige, der das Wesentliche aus den Augen verloren hatte. Leichtsinn? Gehörte etwas Risikobereitschaft nicht dazu? Oder hatte Aspen eigentlich geplant gehabt, so lange um das Gebäude herumzuschleichen, bis sie zufällig jemand zu Kuchen und Tee hereinbat? Dass ausgerechnet Liam es war, der die Ambitionen des Blonden anzweifelte, verwunderte selbst ihn. Gottseidank hatte er aber keinerlei Verantwortung darüber – es konnte ihm egal sein, ob er seine Berufung gefunden hatte oder nicht. Eigentlich machte so ein verirrtes Schäfchen die ganze Sache ja nur amüsanter.
Shanaya hatte die Tür als erste erreicht. Liam lehnte sich locker daneben gegen das Gebäude und spähte die Wege entlang, während sich das Mädchen darum kümmerte, ihnen Einlass zu gewähren. Auch der Schmächtige, der kurzzeitig vor ihm gewesen war, dann aber noch einmal zu Aspen zurückgekehrt war, tänzelte keine Sekunde später bei ihnen an, um – Liam machte überrascht einen Schritt zur Seite – die Tür gleich darauf aufzureißen. Na bitte! Der hatte eindeutig mehr Zeug zum Piraten als ihr grimmiges Schäfchen! Gut, ein wenig leiser wäre auch okay gewesen, aber zumindest drückte er sich nicht wie der Rest auffällig in der Dunkelheit herum, sondern ging das Ganze mit der Selbstverständlichkeit an, die Liam damals in der Berufsbeschreibung zu lesen gehabt glaubte, als er das erste Mal Fuß auf einen Piratendampfer gesetzt hatte, um sich die Überfahrt zu sichern. Auch im Inneren des Gebäudes hechtete er nach vorne, ihm hinterher Aspen in einen Gang auf der linken Seite. Liam sah sich kurz um und stellte ebenfalls fest, dass hier nicht wirklich etwas nach Aufgang aussah. Wenn die anderen beiden nach Links verschwanden, dann blieb für sie wohl erstmal nur die rechte Seite des Anwesens. Mit einer kurzen Handbewegung wies er in besagte Richtung, die andere Hand umschloss den Knauf seines Degens, den er – welch Zufall! - sogar in Shanayas Anwesenheit erworben hatte.
„Die Treppen können nicht weit weg sein. In einem Nebengang schätz' ich.“
Alles andere wäre ja auch mehr als unpraktisch gewesen. Liam sah davon ab, sich nun vor Shanaya zu schieben und vorauszugehen. So, wie er sie kannte, konnte sie es ohnehin nicht lassen, ihre neugierige Nase in jeden Winkel zu stecken. Da sicherte er lieber die Rückseite und überließ es ihrem Riecher, den richtigen Weg zu finden. Die Dokumente – das war dann eher wieder sein Bereich. Von links her drang Gepolter, doch statt Sorge fand sich bald darauf schon ein zufriedenes Lächeln im Gesicht des Mannes.
„Ich glaub', wir haben alle Zeit der Welt. Wenn die so weiter machen, haben sie bald alle Wachen hier drin an sich kleben.“
Schließlich erwies sich seine Vermutung als richtig und bald darauf hatten sie auch die massiven Treppen erreicht, die ins Obergeschoss führten. Liam hob kurz den Zeigefinger seiner freien Hand vor die Lippen und lauschte, ob irgendwer auf den Lärm im linken Teil des Gebäudes aufmerksam geworden war und sie beiden sich nicht doch erst noch einmal hinter einer Ecke verdrücken sollten.