03.12.2016, 16:50
Als das Klirren eines Schlüsselbundes das Herannahen eines Wachmanns ankündigte, horchte Lucien unwillkürlich auf. Er wusste nicht einmal, warum überhaupt noch. Die Pläne seiner Flucht und der Rückkehr zu seiner Schwester hatte er in den trostlosen Monaten seines Aufenthalts in Linaras Gefängnis ohnehin längst aufgegeben. Nicht, weil es ihm aussichtslos erschien, bestimmt nicht. Viel mehr, weil... nun ja... die Zeiten änderten sich, nicht wahr? Inzwischen wusste er nicht einmal mehr, ob er überhaupt auf seine Heimatinsel zurück wollte. Ob es nicht besser wäre, wenn sie dort glaubten, er würde niemals wieder kehren. Denn raus kommen würde er früher oder später mit Sicherheit.
Immerhin saß er nur für ein paar Jahre ein. Ihn hatte man schließlich nur für etwas so Lapidares wie Schmuggel und Hehlerei verhaftet. Das war doch nichts im Vergleich zu dem bärtigen Typen, mit dem sich der junge Mann auf diesem Kutter eine Zelle teilte. Der hatte schon in seiner dunklen Ecke gesessen und sich in seinen Schleier aus möglichst bedrohlichem Schweigen gehüllt, als Lucien die Ehre zuteil wurde, sich zu ihm zu gesellen. 'Pass bloß auf, dass du dem da nicht ans Bein pisst, Junge. Der dreht dir den Hals um, wie einem krähenden Gockel.', hatte ihn der zahnlose Schwarze in der Nachbarzelle ohne Umschweife wissen lassen. Warum genau der Kerl in der Ecke das tun würde, hatte man ihm dann bedauerlicherweise nicht erklärt – wohl, weil Lucien nicht, wie vermutlich erhofft, das eingeschüchterte Klatschweib gespielt und sich die Geschichte hatte erzählen lassen. Sondern weil er es vorzog, sich kommentarlos zurück zu lehnen, die grünen Augen zu schließen und das stumpfsinnige Gelaber zu ignorieren.
So saß er noch immer da; die hölzerne Schiffswand dieses Marinekleppers im Rücken und drei Halme Stroh unter dem Hintern, die den armseligen Versuch darstellten, die Pfützen aus Angstpisse aufzusaugen, nach denen es hier unten überall stank. In diesem Moment wurde die Zellentür ein weiteres Mal geöffnet und der nächste Unglückselige gesellte sich in ihre muntere Runde. Das Geräusch eines fallenden Körpers, die hämische Lache des Soldaten und Lucien öffnete ohne sichtbares Interesse die Augen, um zu verfolgen, was sich vor ihm abspielte. Der Neuankömmling richtete sich gerade umständlich wieder in eine sitzende Position auf, was dem 21-Jährigen einen zwar kurzen, aber völlig ausreichenden Blick auf den blutdurchtränkten Rücken gewährte. Dann lehnte sich der Fremde gegen die Gitterstäbe und der Soldat schloss die Zellentür.
Doch gerade, als er die Augen wieder schloss und seine Gedanken auf das sanfte, gleichmäßige Schwappen der Wellen am Schiffsrumpf richten wollte, funkte Lucien das unbestimmbare Gefühl von Erkennen dazwischen. Kurz runzelte sich seine Stirn, dann schlug er die Augen ein weiteres Mal auf und musterte den Neuankömmling mit leise erwachendem Interesse. Nicht dieses völlig unpassende Lächeln machte ihn stutzig – ehrlich, irgendwie war ihm in seiner Lage auch bloß nach einem trockenen Lächeln – sondern dieses Gesicht. Es kam ihm aus irgendeinem Grund wage bekannt vor, obwohl er seinen Kopf darauf verwettet hätte, dem Mann noch nie zuvor begegnet zu sein. Dunkles Haar, markante Züge, starrend vor Schmutz wie alle hier. Im Grunde nur ein rauer Kerl wie jeder andere. Lucien hätte es dabei belassen sollen, doch die nachdenklich verengten Augen lösten sich nicht von dem Älteren, während er in seinen Gedächtnis nach einer Antwort kramte.