30.11.2016, 23:40
Selbst die dunkelste Ecke der Brig der Morgenwind, in die er sich verkrochen hatte, wurde für Samuels Geschmack noch von zu vielen Lichtstrahlen beleuchtet. Der als vermeintlicher Mörder zum Tode Verurteilte wollte so wenig Aufmerksamkeit auf sich ziehen wie möglich und am besten von keiner Menschenseele behelligt werden - und er hatte sich diesen Zustand in der Zeit, die er bereits auf diesem Schiff verbracht hatte, mühsam erarbeitet. Seine Mitgefangenen auf der Morgenwind kamen nicht aus demselben Ort wie er, hatten deshalb nicht bereits von seiner Tat gehört und waren folglich nicht von Beginn an so sehr eingeschüchtert gewesen, dass sie es überhaupt nicht erst wagten, das Wort an ihn zu richten oder ihn auch nur offen anzusehen. Nein, hier hatte er sich den Ruf als kaltblütiger, wahnsinniger Mörder durch verschiedene Versionen seiner Geschichte neu aufbauen müssen. Was sicherlich dabei half, waren die leicht herausfordernde Körperhaltung und der manische Blick, den er immer dann auflegte, wenn er sich beobachtet fühlte oder besonders abschreckend auf seine Umgebung wirken wollte. Aus diesen Gründen hatten seine Mitgefangenen schnell damit begonnen, seine Gesellschaft zu meiden - und das war die Art und Weise, wie er die letzten Tagen oder Wochen seines Lebens schlussendlich verbringen wollte. Allein.
Der 37-Jährige hatte es schon vor einiger Zeit aufgegeben, seine Unschuld zu beteuern. Er hatte seine Ehefrau nicht ermordet - doch sein Vater, der oberster Richter auf seiner Heimatinsel war, hatte dafür gesorgt, dass niemand ihm Glauben schenkte. Er wurde ohne richtigen Prozess zum Tode durch den Strick verurteilt und eingesperrt. Doch nicht nur die anständigen Bewohner seines Dorfes, Männer und Frauen, die er gekannt hatte, sahen ihn als Mörder, auch andere Verbrecher, mit denen er sich in den letzten Jahren notgedrungen unterhalten hatte, schienen ihm seine Version der Geschichte nicht zu glauben, sodass er schließlich beschlossen hatte, sich in sein Schicksal zu ergeben und die Gefahr, die andere anscheinend in ihm sahen, zu nutzen, um die letzten Tagen oder Wochen seines Lebens möglichst unbehelligt verbringen zu können.
Als der Neue in die Zelle geworfen wurde, blickte Samuel nur für einen Moment auf. Ein weiteres Gesicht, dem er irgendwann seine Geschichte würde erzählen müssen - oder ein anderer Häftling würde das für ihn übernehmen. Dann gab es zwei Möglichkeiten: Entweder, der Neuankömmling würde sich daraufhin nicht mehr trauen, ihn persönlich anzusprechen, oder er würde kein Wort davon glauben. Dann würde Samuel sich mit ihm abgeben müssen, was ermüdend war und ihn langsam, aber sicher langweilte. Mit düsterem Blick versuchte er, noch ein wenig weiter in die Dunkelheit seiner Ecke zu rücken, um dem Blick des Mannes, der etwas jünger als er sein musste, möglichst lange zu entgehen. Mit etwas Glück würde dieser eine Zeit lang mit sich selbst beschäftigt sein, und vielleicht wären sie dann bereits auf Esmacil.