26.08.2024, 21:17
Sie fühlte sich hin und her gerissen. Sollte sie den Piraten, denen sich ihr Bruder angeschlossen hatte, nachjagen und vorübergehend die Suche nach ihrer Schwester unterbrechen? Oder doch der Spur ihrer Schwester nachgehen, die sie über Umwege schließlich auf diese Insel gebracht hatte? Es fühlte sich an, als müsste sie sich zwischen ihren Geschwistern entscheiden, und das war eine Entscheidung, die sie nicht treffen konnte und auch nicht wollte. Aber sie musste.
Als ihr schließlich die Gaukler, mit denen sie sich während ihres Aufenthaltes in Ghisleen angefreundet hatte, davon erzählten, dass in der letzten Zeit auffällig viele junge Frauen auf der Insel als vermisst gemeldet wurden (unter anderem auch eine von ihnen), wurde Kay hellhörig. Vielleicht war das ein Zeichen. Ein Wink, dass sie noch hierbleiben sollte. Auch wenn es bedeutete, dass sie unter Umständen ihren Bruder dabei aufs Spiel setzte. Sie erinnerte sich nur ungerne an die kurze, aber wirkungsvolle Begegnung mit dem blonden, hämisch grinsenden Pirat, die zwar bereits einige Tage zurücklag, ihr aber noch tief in den Knochen saß und eine Mischung aus Angst und Wut in ihrem Inneren hinterließ.
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Als sie rund 24 Stunden später in der Taverne, in der sie auch ihr Zimmer gemietet hatte, saß, einen halbleeren Grog vor ihrer Nase und über ihre nächsten Schritte grübelte, schnappte sie am Nebentisch ein interessantes Gespräch zweier Männer auf, die ihr zu ihrem Glück kaum Beachtung schenkten. Wenn sie eines gelernt hatte auf ihrer bisherigen Reise, dann, wie man sich unauffällig verhielt.
Nachdem die Männer ihre Unterhaltung beendet und ihre Becher ausgetrunken hatten, legten sie der Wirtin das nötige Gold auf den Tisch und verließen die Taverne ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Kay wartete noch einen Augenblick, bevor sie es ihnen gleichtat.
Sie folgte den Männern eine ganze Weile, ließ sich hin und wieder ein wenig zurückfallen, um zu verhindern, dass sie auf sie aufmerksam wurden, vor allem dann, wenn sie kurz stoppten, um sich zu versichern, dass keine unliebsamen Zeugen an ihren Fersen hafteten. Je weiter sie sich von der Taverne entfernten, desto unbelebter wurden die Gassen. Die meisten Leute hatten sich in Wirtshäuser und andere Etablissements zurückgezogen und feierten und tranken, als gäbe es kein Morgen.
Aber als sie um die nächste Häuserecke in eine schmalere Seitengasse bog und ein paar Meter weit hinein lief, wäre sie einem der Männer beinahe in die Arme gelaufen. Im fahlen Mondlicht konnte sie gerade so seine grinsende Fratze unter der Kapuze erahnen.
Gerade als sie den Mund öffnen und etwas sagen wollte, ertönte eine zweite Männerstimme in ihrem Rücken. „Was haben wir denn hier?“ Na, wunderbar. Da hatte sie die beiden Herren wohl doch ein wenig unterschätzt in ihrer Auffassungsgabe.
„Zwei gegen einen? Schon ein bisschen unfair, findet ihr nicht?“, feixte sie. Auch wenn die Männer in der Überzahl waren, weigerte sie sich, sich von ihrem Gerede einschüchtern zu lassen. Sie konnte nur hoffen, dass ihre Kampffähigkeiten nicht so ausgeprägt waren wie ihre Mundpartien.
„Warum kompliziert, wenn man sich’s auch einfach machen kann?“ Der Mann vor ihr lachte dreckig. Er machte zwei Schritte auf sie zu, aber anstatt zurückzuweichen, zog die junge Frau nur ihr Messer aus der Scheide.