20.08.2024, 14:20
Als sie nacheinander das Wirtshaus betraten, schlug Lucien prompt der vertraute Geruch von abgestandener Luft, schwitzender, Alkohol ausdünstender Leiber und schwerem Rauch entgegen. Doch im Gegensatz zu früheren Besuchen kroch ihm die raue Atmosphäre nicht unter die Haut und hieß ihn willkommen, sondern prallte an ihm ab wie von einem unsichtbaren Schleier zurückgehalten. Dieses Mal hatte er eine Aufgabe und sich ganz und gar darauf zu konzentrieren, verdrängte zumindest das Bild von Talins leblosem Körper, das sich hartnäckig in seinem Verstand festklammerte.
Shanaya und Zairym tauchten am Rande seines Blickfeldes auf, während er sich mit flüchtiger Aufmerksamkeit im Raum umschaute. Dann wandte er den Kopf halb in Richtung der Piratin, die das Wort ergriff. Mit einem wortlosen Nicken bestätigte Lucien kurz, dass er verstanden hatte. Ihren Rat nahm er ohne jedes Hinterfragen an, denn wenn irgendjemand aus ihrer kleinen Gruppe den Charakter des Wirtes einigermaßen einschätzen konnte, dann war es Shanaya. Und sofort überschlug er gedanklich seine Möglichkeiten, griff nach der erstbesten Idee, die am erfolgversprechendsten war.
Das Gespräch seiner beiden Begleiter bekam der Dunkelhaarige überdies kaum mit, war schon drauf und dran, sich in Bewegung zu setzen, als die Stimme der Navigatorin ihn zurückhielt. Die Überzeugung darin sagte ihm, dass ihre Worte hauptsächlich ihm galten. Ein stilles Versprechen, eine mutige Gewissheit. Die tiefgrünen Augen kehrten zu der jungen Frau zurück, wanderten nach kurzem Ausharren zu Zairym weiter, der sich ihrer Zuversicht anschloss.
Lucien teilte sie nicht. Ein Teil von ihm wünschte sich vielleicht, dass er es könnte, doch Optimismus lag ihm nicht. Das einzige, was er wusste, war, dass ihm gar keine andere Wahl blieb.
„Das müssen wir“,
antwortete er deshalb nur leise, ohne Shanayas Lächeln zu erwidern, wandte sich schließlich ab und durchquerte den Schankraum, bis er die Theke am anderen Ende erreichte.
Dahinter polierte ein bulliger Mann von vielleicht fünfzig Jahren ein Glas, das die Mühe kaum noch wert war. Er sah nicht auf, als Lucien sich an das mit undefinierbaren Flecken verzierte Holz lehnte und eine Münze aus seiner Geldbörse zog. Auf den Zügen den gleichen grimmigen Ernst, wie die ganze Zeit schon.
„Rum“,
verlangte er knapp, nicht in Stimmung für die Schauspieleinlage, die vielleicht nötig gewesen wäre. Er konnte nur hoffen, dass der nachdenkliche Zug über seinen Brauen reichte, um die Geschichte, die er sich ausgedacht hatte, überzeugend genug klingen zu lassen.
Der Wirt gab ein missgelauntes Brummen von sich, stellte das dreckige Glas ab und warf sich den noch dreckigeren Lappen über die Schulter, bevor er nach einem Tonkrug und einer Flasche griff. Mit einem lauten Klonk landete das Gefäß vor Luciens Nase und wurde im nächsten Moment zu gut zwei Dritteln mit einer feinen, karamellfarbenen Flüssigkeit gefüllt.
Lucien ließ das Gold los. Doch statt nach dem Getränk zu greifen, bedeutete er dem Wirt mit einem flüchtigen Wink, ein Stück näher zu kommen. Der Mann strich die Münze ein, wirkte ansonsten jedoch reichlich desinteressiert, als er mit halbem Ohr zuhörend näher trat.
„Hmm...“, machte der Kelekunier widerwillig, als sträube sich etwas in ihm, die nächsten Worte hervorzubringen. Dann senkte er die Stimme. „Habt Ihr schon einmal von diesen Untergrundkämpfen gehört, die es überall geben soll? Hohe Wetteinsätze, jede Menge hübsche Mädchen und so weiter?“
Er wischte diese Nebensächlichkeiten mit einer Hand weg, als interessierten sie nicht weiter, und der Wirt gab ein erneutes Brummen von sich. Dieses Mal lag Bestätigung darin. „Und?“, knurrte er und ging wieder dazu über, seine Gläser dreckig zu polieren.
Innerlich brodelte Ungeduld in dem jungen Captain. Er hatte keinen Nerv für diese Herumfragerei. Er wollte Antworten. Und doch zwang er sich, weiter zu reden. Verkrampft. Mühsam beherrscht. Immer weiter.
„Wusstet Ihr, dass es diese Art von Geschäft auch hier in der Stadt gibt?“, fragte er mit einem grimmigen Lächeln und der Wirt horchte auf. Gut. Er nickte also. „Ich war vor ein paar Tagen erst dort. Hab ne Stange Geld gewonnen.“
– „Ach“, machte der Mann hinter dem Tresen und tat, als interessiere ihn das Gerede nicht. Doch seine Bewegungen, mit denen er an seinem Glas herum wischte, wurden langsamer, kamen ins Stocken, verrieten seine Ablenkung. „Und was kümmert’s mich?“
Lucien griff nach seinem Rum, trank jedoch nichts.
„Wie gesagt, hohe Wetteinsätze“, erwiderte er. „Wahrscheinlich mehr, als Ihr hier in einer Woche an Gewinn macht. Ich kann Euch sagen, wie ihr rein kommt, wenn Ihr’s wissen wollt.“
Der Wirt hielt erneut in der Bewegung inne, zögerte und zog dann skeptisch eine Braue hoch. „Wette, du willst was dafür, nicht wahr?“
Anspannung kribbelte unter Luciens Haut, während das bittere Lächeln, das sich auf seine Lippen legte, nicht einmal gestellt war. Es hatte nur andere Gründe, als die, die er nannte.
„Aye. Ich suche jemanden, vielleicht könnt Ihr mir weiterhelfen.“ Wie gern hätte er einfach seinen Dolch gezogen und diesen Mann auf andere Art zum Reden gebracht. Das wäre schneller gegangen. Nur nicht besonders unauffällig. Und ehe er sich versah, hätte er eine Hand voll Soldaten am Arsch, die ihn bei der Suche nach Talin nur aufhielten.
„Ich war vor Kurzem mit einem Freund hier, vielleicht erinnert Ihr Euch. Groß, blond?“
Zum ersten Mal musterte der Wirt seinen Gegenüber nun genauer, kniff dabei nachdenklich die Augen zusammen. Dann erhellten sich seine Züge ein wenig. „Hm, ich erinnere mich. So’n ganz Hübscher“, meinte er spöttisch und entlockte Lucien trotz der Situation ein kurzes Verziehen der Mundwinkel.
„Wir saßen mit noch jemandem am Tisch. Auch blond, Narbe im Gesicht, hatte ein paar Freunde mit Pistolen dabei?“
Der Mann nickte erneut. „Sah aus, als wär mit dem nicht gut Kirschen essen. Warum suchst du nach dem?“
Darauf erwiderte Lucien im ersten Moment nichts, biss nur die Zähne zusammen, um die Antwort, die ihm auf der Zunge lag, zurückzuhalten. Dann neigte er leicht den Kopf und zwang sich zu einem zynischen Lächeln.
„Sagen wir einfach, einer hat gewonnen, einer hat verloren und die Rechnung ist noch offen. Habt Ihr ihn danach noch mal irgendwo gesehen? Hier oder am Hafen vielleicht? Auf einem der Schiffe dort? Er könnte sich in Gesellschaft dreier auffallend hübscher junger Frauen befunden haben, die Euch sicher nicht entgangen wären...“
Wieder kehrte einen Moment Stille ein, als der bullige Kerl sein Oberstübchen nach einer passenden Erinnerung durchsuchte. Dann schüttelte er langsam den Kopf.
„Nee, weder den Blonden, noch irgendwelche hübschen Weiber. Außer die, die ich schon hier hab.“ Er grinste dreckig und setzte dazu an, sein Glas weiter zu polieren. „Aber wenn der Kerl Dreck am Stecken hat, hat ihn vielleicht die Stadtwache erwischt. Die durchsuchen in letzter Zeit öfter die Schiffe, die reinkommen.“ Er wies mit einem Nicken in die hintere Ecke der Schankstube, wo sich ein mittelalter Mann in Uniform gerade die Kante gab. „Vielleicht weiß der Marinebastard da hinten mehr. Wenn er besoffen genug ist, singt er wie ein Vögelchen.“
Lucien warf einen unauffälligen Blick über die Schulter, musterte den Soldaten für einen Moment. Besser als nichts, oder? Wenn die Spur hier kalt war, brauchte er ohnehin eine neue.
Rasch überflog er die Gesichter der übrigen Gäste, suchte nach seinen beiden Begleitern, um zu sehen, wie weit sie mit ihren Nachforschungen waren und sie wenn nötig auf das neue Ziel aufmerksam zu machen.