08.05.2024, 20:55
Mit einem wütenden Ruck und einem deftigen Fluch riss Lucien die Laterne aus ihrer Halterung am Stützbalken, wo sie sich ausgerechnet jetzt hatte verkeilen müssen. Er hatte keinen Nerv dafür, sie ordentlich vom Haken zu lösen und verschwendete auch keinen Gedanken an den nun verbogenen Eisenring oben am Lampengehäuse. Fahrige Ungeduld und gereizte Frustration prickelten unter seiner Haut wie ein Schwarm Ameisen und er hätte beim besten Willen nicht sagen können, wie er es geschafft hatte, Shanaya am Losmarschieren zu hindern, während Tarón auch ihn nur mit Müh und Not davon hatte abhalten können, alleine loszuziehen und nach Talin zu suchen.
Irgendwann, wenn seine Schwester wohlbehalten zurück auf der Sphinx war, würde er seinem Quartiermeister vielleicht dankbar sein. Doch im Augenblick brodelte nur unkontrollierte Wut in seinen Adern über jede verschwendete Minute, die er nicht mit der Suche nach ihr verbrachte.
Wenn es nach dem jungen Captain ging, wäre er schon seit dem Morgengrauen – oder wie auch immer man diese Tageszeit in völliger Dunkelheit auch nannte – dabei, die Stadt nach ihr zu durchkemmen. Er war gar nicht auf die Idee gekommen, die Crew zusammenzutrommeln und um Hilfe zu bitten. Für ihn ging es um Talin – einzig um Talin. Und damit war es etwas Persönliches. Der Gedanke, jemand anderen mit in diese Sache hineinzuziehen, war ihm so völlig fremd wie der Himmel dem Fisch. Wenn es um Talin ging, gab es keine Mannschaft. Keine Freundschaft. Nur sie und ihn.
Er hätte nicht einmal Shanaya mitgenommen, bestünde nicht die reelle Möglichkeit, dass ihr Bruder irgendetwas mit dieser Sache zu tun hatte. Er hätte ihr auch gar nicht davon erzählt, dass er Bláyron begegnet war, wäre Talin nicht verschwunden. Jetzt blieb ihm keine andere Wahl, als sie mitzunehmen und ein Auge auf sie zu haben, um zu verhindern, dass sie sich mit irgendeiner einzelgängerischen Aktion ebenfalls in Gefahr brachte. Also genau das, was er zu tun im Begriff gewesen war, bevor Tarón ihn mit dem Argument zurückhielt, dass eine zwanzigköpfige Mannschaft deutlich effektiver bei dieser Suche sein würde als ein einzelner Mann.
Dieser Tatsache konnte Lucien sich nicht erwehren, so sehr er es auch versuchte. Also ließ er den Quartiermeister mit knirschenden Zähnen den Rest der Mannschaft zusammentrommeln, während er Shanaya von der Begegnung mit ihrem Bruder erzählte. Seitdem stand sie unten am Kai – von nicht mehr zurückgehalten, als seinem Befehl – und er quälte sich durch die Planung einer Suchaktion, von der er überzeugt war, dass sie einzig und allein die seine sein sollte.
Und auch wenn Tarón die Besprechung kurz, knapp und bündig hielt, dauerte es ihm einfach zu lange. Viel zu lange. Seine Gedanken schweiften immer wieder zu Talin, zu den letzten Worten, die sie miteinander gewechselt hatten, bevor sie mit Soula und Skadi aufgebrochen war. Die Kälte in ihrer Stimme. Die Verbitterung in der seinen. Die darauf folgenden drei Tage lang hatte er sich nachts in bohrender Unruhe herumgewälzt, bis diese Unruhe mit fortschreitender Stunde in nervöse Sorge umschlug. Wie hatte er auch so unglaublich dumm, verbohrt und frustriert sein können?
Mühsam verdrängte er diese Gedanken, versuchte, sich auf diese verdammte Suche zu konzentrieren. Als er an Deck trat und mit langen Schritten zur Planke lief, warf er einen kurzen Blick über die Reling und stellte mit einem Hauch Erleichterung fest, dass Shanaya noch genau dort stand, wo er sie zurückgelassen hatte. Darüber hinaus hatte sich eine zweite Gestalt zu ihr gesellt, die er einen Moment später als Zairym identifizierte.
Luciens Züge verfinsterten sich kurz, aber er würde jetzt sicher nicht umdrehen und noch eine verdammte Laterne holen. Blieb zu hoffen, dass der Söldner selbst daran gedacht hatte. Und wenn nicht, hatte eben einer von ihnen beide Hände frei, was soll’s.
Er marschierte die Gangway hinunter, bemerkte gerade noch Trevors davon hüpfende Gestalt, ehe er selbst zu Shanaya und Zairym trat und dem wandelnden Chaos mit einem Stirnrunzeln hinterher sah. Ein kleiner, garstiger Teil in ihm wollte schon anmerken, dass sie mit diesem Spinner im Gepäck wahrscheinlich überhaupt niemanden je fanden. Doch eine zynische Stimme in seinem Kopf erinnerte ihn an das unverschämte Glück, das Trevor zu folgen schien, wohin er auch ging. Und dieses Glück könnte ihnen heute noch wertvolle Dienste erweisen.
Mit einem wortlosen Kopfschütteln wandte der junge Captain sich ab, drückte Rym ohne hinzusehen die Laterne gegen die Brust, sodass er unweigerlich danach greifen musste, und nickte dann in Richtung Hafenviertel.
„Lasst uns gehen, ehe wir hier festwachsen“,
knurrte er, ohne mit einem Wort in Frage zu stellen, dass der Söldner sie begleitete. Wenn sie schon in kleinen Grüppchen losziehen mussten, dann lieber er, als irgendein hilfloser Trottel, der kaum wusste, in welche Richtung die Mündung einer Pistole zeigen musste.
Dann schob er sich an den beiden vorbei und lief los, ohne sich umzusehen.