06.06.2023, 22:35
Rúnar wusste von Anfang an -- schon als er Tarón ergriffen hatte -- dass er keine Chance gegen ihn haben würde. Trotzdem hielt er kurz gegen, aber gab schnell auf -- vor allem, weil er sich gerade noch nicht ganz bei Kräften fühlte -- erwiderte jedoch kurz Taróns raubtierhaftes Grinsen, ehe dieser aus seinem Bildfeld verschwand, die Wasseroberfläche darin auftauchte, und er im nächsten Moment dastand, auf die Wellen starrend, in Taróns ... Umarmung. (Doch den letzten Gedanken verwarf er wieder. Sie hatten nur etwas rumgealbert. Sie hatten eben klar gemacht, dass die letzte halbe Stunde etwas gewesen war, dass sie wohl besser schnell wieder vergaßen.)
Rúnar hatte den Impuls sich etwas gegen Taróns Griff zu stemmen, um deutlich zu machen, dass er losgelassen werden wollte. Aber er tat es nicht. Eigentlich ... wollte er es nicht. Und selbst wenn Tarón ihn nun loslassen würde ... er hatte ihn. Trotzdem.
Und wieder war er ihm so nah, dass Rúnars Körper in ihn der Kühle des Wassers ein wenig wärmte. Und der Blonde wich nicht von ihm – auch wenn Taróns Griff um seine Handgelenke sich mittlerweile gelockert hatte. Dem Falken wurde eines erschreckend bewusst: wenn er sich eingebildet hatte die reine Anziehung wäre mit ihrem Akt erloschen - eine Eintagsfliege, ein schnell sterbendes Glühwürmchen – dann hatte er sich geirrt. Vielleicht aber war der erneute Wunsch Rúnar so nahe zu sein aber auch erst Resultat der zuvor gemachten Erfahrung. Des Augenöffners, der ihm eine Begierde offenbart hatte, die er zuvor nicht einmal vermutet hatte.
Natürlich kannte er Männer, die schlicht sachlich betrachtet attraktiv waren – aber nie hatte er auch nur den leisesten Wunsch verspürt sie auf solch eine Art zu berühren. Wenn er an die anderen Typen auf der Sphinx dachte…nein. Auf keinen Fall.
Aber er hatte auch nicht wirklich Männer wie Rúnar gekannt – auf eine feminine Art zarter als die anderen Typen. War es das? Dass Rúnars Haut sich so zart unter seinen streichenden Fingern auf dessen Unterarm anfühlte? Seine im Vergleich zu ihm so viel schmalere Statur? Zu einem guten Teil war es das Machtgefühl – das wusste er. Unleugbar. Macht über einen anderen Mann – ihn zur vollen Unterwerfung zu bringen. Das hatte er getan – und es war wie ein Rausch gewesen.
Er hatte Frauen genommen – auch hart. Auch ohne jegliche Liebe und aus einem Akt reiner Wollust. Aber auch das war anders gewesen. Berauschend, ja – aber nicht so.
Auch Tarón bewegte sich nicht weg. Lehnte sich sanft gegen Rúnar und ließ die Finger stumm über dessen Unterarme wandern, für einen Moment – den ersten wirklichen Moment und ohne Panik – analysieren, nachdenken, was hier los war.
Auch in den nächsten Momenten konnte Rúnar nicht anders, als einfach da zu stehen, in Taróns ... sanftem? ... Griff? Sein Kopf wiederholte die Worte, die sie eben noch gewechselt hatten und wehrte sich gegen die Vorstellung, gegen das Gefühl wie Tarón ihn gerade berührte -- dieses innerliche Paradox drückte so von beiden Seiten auf ihn ein, dass er sich nun in dieser Stasis befand. Dass ein Teil von ihm sich aus Taróns Armen winden wollte, ein anderer sich an ihn schmiegen wollte.
Sein Gewissen, seine Gefühle, sein ganzes Dasein tickte wie ein Metronom -- das Pendel zwischen Vernunft und Verlangen hin- und herschwingend. Und umso länger er dort stand und fühlte, wie Taróns Finger über seine Haut strichen, umso mehr übertönte das Ticken das Tosen seines Gedankensturms und es blieben diese zwei Dinge übrig. Tick. Tack. Vernunft. Verlangen.
Ordnung. Chaos.
Und dann erwischte er das Metronom im richtigen Moment und drehte sich aus Taróns Armen, wandte sich ihm zu. Auch, wenn seine Hand dabei den Unterarm des anderen ergriffen hatte. Trotzdem.
Ordnung.
Sein Blick wanderte von seiner Berührung Taróns Arm hinauf, seine Schulter, sein Schlüsselbein entlang, sein Hals, seine Lippen, seine Augen ... ob er nicht vielleicht etwas darin sehen konnte, ob der andere nicht vielleicht etwas sagen konnte, das Rúnar helfen würde, das Metronom zu stoppen.
Schließlich entwand sich Rúnar seiner seltsamen Umarmung und Tarón tat nichts, um ihn aufzuhalten, obwohl das kühle Meerwasser nun ein wenig kälter wirkte. Doch Rúnars Hand umschloss noch seinen Unterarm. Tarón sah auf sie, ehe er den Blick hob, selbst spürte, wie Rúnars Augen über ihn wanderten – und in seinem Gesicht nach etwas suchten.
Tarón hatte es gewusst: das Meer machte alles besser. Ihm war noch immer duselig im Kopf, doch das Taumel darin folgte nun dem Takt der Wellen, die ihn schaukelten und beruhigten. Ihn und die Bestie, das Unbekannte in ihm, das Rúnar geweckt hatte. Sie war da – das wusste er nun ganz genau. Sie war aufgetaucht um zu bleiben, geboren aus einem unheiligen Verlangen das sich für ihn noch nicht greifen oder erklären ließ.
Den Kopf ein wenig gesenkt sah er Rúnar von unten her an und lächelte leicht.
„Echt seltsam, oder? Wie das Leben manchmal so spielt…was ist das nur an dir, Rúnar?“
Mit der Hand des Armes, die der andere nicht festhielt strich Tarón nun an dem Unterarm des anderen entlang und hob den Blick.
„Ich nehme an für dich war das alles…weniger neu…oder?“
Weniger überraschend… er war sich verdammt sicher, dass Rúnar…nun…seine „Erfahrung“ mit Männern hatte. Dennoch schien auch er verwirrt. Und Taróns mit dem Meer schwimmender Geist schob die verschwemmten Puzzleteile ein wenig näher zusammen. Erst Taróns - zugegeben völlig hysterische, aber er glaubte noch immer einen Grund dafür zu haben – Reaktion hatte ihn aus dem Tritt gebracht.
Was das an ihm war? Er war doch nur ... es war nichts an ihm. Er war einfach nur ... Rúnar. Oder er versuchte es. Doch ein Teil von ihm kam nicht drum herum, sich etwas berauscht davon zu fühlen, dass jemand wie er -- der behütete, naive Adlige, der zu allem Ja und Amen sagte -- dass er ohne sich auch nur Gedanken darüber gemacht zu haben, genug Wirkungsmacht gehabt hatte um jemandem wie Tarón mit keinerlei Mühe den Boden unter den Füßen wegzuziehen.
Rúnar atmete tief ein, als Tarón seinen Arm entlang fuhr und mit einem wohligen Schauer stellten sich die feinen Haare auf seinem Arm auf. Ihre Blicke trafen sich -- Rúnar verstand die Frage erst nicht. Weniger neu? Er hob die Augenbrauen und blinzelte. Öffnete den Mund um etwas zu sagen, aber stolperte über seine Worte, bevor er dann einen vollständigen Satz herausbrachte. "Was ... wie meinst du?" Und sobald die Frage draußen war, war Rúnar schon fast klar, was Tarón damit meinte. Die Teile waren gerade dabei, sich zusammenzusetzen, er musste nur nochmal kurz hinsehen, um das ganze Bild zu bekommen.
Tarón beobachtete seine Reaktion – natürlich tat er das. Das war, was er immer tat, worin er wirklich gut war, nicht wahr? Andere Leute beobachten, sie analysieren, Schlüssel ziehen, um Fäden und Teile zu verbinden. So war er – so war er wahrscheinlich schon immer gewesen.
Und so ahnte er was Rúnar so straucheln ließ. Was diese fast wunderbare Verwirrung auf sein Gesicht und in seine Augen rief. Und doch schoben sich auch für den anderen die Teile zusammen – auch das sah der Falke und er lächelte ihn wissend und mit einem Funken Anerkennung an. Sein Nicken war angedeutet – eine kaum sichtbare Bewegung vor der Kulisse der Wellen.
„So, wie du es verstanden hast. Dachtest du ich hab sowas schon öfter gemacht?“
Er klang ein amüsiert.
„Hm…naja, dann habe ich mich fürs erste Mal wohl ganz gut angestellt nehme ich an…?“
Rúnar stand die ganze Zeit, während Tarón sprach, der Mund offen. Er sah auf die Wellen, auf ihre -- fast schon verschlungenen -- Arme, in Taróns Gesicht, wieder auf ihre Arme. "Ganz gut ist vielleicht ein wenig untertrieben", murmelte er. Und dann wandelte sich sein überraschter Gesichtsausdruck zu einem Grinsen und er nickte leicht, zu sich selbst. Auch, wenn man nichts davon bemerkt hatte, es bedeutete, dass Rúnar dem über zehn Jahre älteren, abgebrühten, erfahrenen Seemann etwas voraus hatte -- sein Selbstbewusstsein trug ihn kurz auf Händen, ehe er seine Fassung wiederfand, sich räusperte und einen ernsten Gesichtsausdruck auflegte -- nur um die gewonnene Fassung dann komplett zu verlieren und laut aufzulachen. Nicht schadenfroh oder herablassend, lediglich amüsiert. Worüber genau, das wusste nur der Alkohol, der wohl noch immer durch seine Adern strömte.
Rúnars Worte brachten auch ihn zum Lachen.
„Oho – ein Kompliment. Ich werde noch rot…nicht, dass du davon viel sehen würdest. Es ist verdammt dunkel…“
Sein Blick legte sich wieder auf seine eigene Hand, die Rúnars Arm entlangwanderte – auf und ab…auf und ab.
„Ich bereue es nicht… nicht um seiner selbst willen zumindest. Falls das eben…falsch rüberkam.“ Er hielt in seinen Bewegungen inne, sah Rúnar nun wieder in die Augen.
„Ich schätze ich habe einfach…“
Er kaute an dem Wort, wandte den Blick ab auf das Schwarz der Nacht
„…Angst. Und ich verstehe es nicht.“
Er atmete durch, sah Rúnar mit einem schiefen Lächeln wieder an.
„Aber verdammt es war gut.“
Rúnar folgte Taróns Blick, den Bewegungen seiner Finger auf Rúnars Haut. Auf, ab, auf, ab -- tick, tack, ging das Metronom.
Wieder trafen sich ihre Blicke. Wieder sah Tarón weg -- haderte mit seinen Worten. Sah Rúnar wieder an. Und Rúnar lächelte zurück. Er wusste ganz genau wie Tarón sich fühlte. Nicht nur in dieser Sache, sondern fast immer -- fast immer tosten Rúnars Gedanken in seinem Kopf, wenn etwas passiert war, das er nicht kannte, nicht definieren konnte, oder nicht in der Lage war zu verarbeiten. Und dann griff er nach der nächstbesten Hand, die sich ihm entgegenstreckte, und diese Hand gehörte einmal dem Zweifel, und beim nächsten Mal gehörte sie der Akzeptanz, und die dritte dann wieder dem Zweifel, und so ging es immer weiter, bis der Sturm sich legte. Und er wollte Tarón eine helfende, zuverlässigere Hand reichen, als die, die dessen Emotionen ihm geben konnten, also sagte er: "Da gibt es nichts zu verstehen. Das ist etwas, das ist einfach so wie es ist." Das mit der Angst war etwas komplizierter. Es lief darauf hinaus, dass es sich mehr lohnte, so wie man war in Angst zu leben, als nicht zu sein wie man war. Doch dies war ein Gerüst, das bei Rúnar auf enorm wackeligen Beinen stand. Und hatte Tarón diesem Gerüst vorhin noch ein Bein abgeschlagen, hob Rúnar nun einen Mundwinkel, wohlwissend, dass es Taróns eigene Worte gewesen waren: "Und ich verrate dir ein Geheimnis: Alle haben Angst."
Und ja, es war gut. Rúnar verging das Lächeln, desto länger sie sich so ansahen. Tarón bereute es nicht, hatte er gesagt. Trotzdem. Seine erste Reaktion -- reine Verwirrung. Zu viel Alkohol. Dennoch. Tick, tack -- Vernunft, Verlangen -- Ordnung, Chaos.
Rúnar nahm einen tiefen Atemzug und fast ohne nachzudenken hob er seine Hand, führte sie an Taróns Gesicht -- machte kurz davor halt--
Tick.
--zog sie wieder ein wenig zurück.
Tack.
Chaos.
Er legte seinen Hand um Taróns Nacken, zog ihn an sich und küsste ihn.
Nicht zu verstehen…
Vielleicht. Vielleicht war das so. Und dennoch war es…abnormal. Oder? Diesen Gedanken, sein ganzes Leben hindurch genährt, konnte Tarón nicht abschütteln.
Aber traf das nicht auch auf eine ganze Menge anderer Sachen zu die ihn betrafen?
Es fiel seinem analytischen Gehirn dennoch schwer die Sache ruhen zu lassen – nicht nach einem Grund zu suchen, nach Verstehen. Fakt war jedoch, dass die Begierde da war – kein Verliebtsein oder so ein Blödsinn. Er mochte Rúnar, zweifellos – aber das stand nicht wirklich im Bezug zu dem was sein Körper von ihm wollte. Trotzdem war es auch nicht wirklich wie bei anderen Freunden – eher ein seltsames Zwischenland, in dem er Rúnar weder unter den anderen Männern noch unter einer weiblichen Liebschaft wie er sie kannte oder ebenfalls platonischen Freundschaften, die er durchaus auch mit Frauen gehabt hatte, einordnen konnte.
Das hier war anders. Einzigartig – zumindest in seiner bisherigen Welt.
Rúnars nächste Worte durchbrachen seinen Gedankenstrom und Tarón musste erneut schief lächeln und leicht nicken.
„Ah…du hörst mir also zu!..Ja…so ist es wohl.“
Auch wenn seine Angst sehr konkret war – und sehr real. Das hier war eine Gefahr. Es gab die Möglichkeit, dass sie das hier umbrachte – wenn er es auch nicht mehr ganz als Gewissheit ansah. Panik würde ihm jedoch nicht helfen…Panik half niemals. Und er hatte seinen Kopf schon aus ganz anderen Schlingen gezogen…
Grade steckte er ihn jedoch bereitwillig wieder hinein: geradewegs in den Strick und unter die Axt des Henkers.
Rúnars Hand vor seinem Gesicht, dann in seinem Nacken – und wieder spürte er diese weichen feminin anmutenden Lippen auf seinen. Und er hatte dem Kuss nichts entgegenzusetzen und ließ sich erneut in den Strudel hinabziehen, als er ihn erwiderte.
Nach einem Moment löste er die Lippen von Rúnars, nahm seinen Kopf ein Stück zurück und sah ihn an. Sein Kopf funktionierte etwas besser als das letzte Mal aber er die Begierde lag bereits in seinen Augen. Einen Moment dachte er darüber nach andere Worte zu wählen – Worte, die Rúnar vielleicht zum Rückzug bewegt hätten…aber er tat es nicht. Er wollte das hier.
„Schätze nun ist es auch egal, oder? Ich meine…der Abend ist bereits gelaufen wie er ist und eine Ausrede brauchen wir so oder so…“
Er beugte sich vor, küsste Rúnars bereits dunkel gegen den Rest seiner hellen Haut wirkenden Hals.
„Viel schlimmer können wir es wohl kaum machen…“
Als Tarón sich wieder von ihm löste, hielt Rúnar seine Augen für einen Moment länger geschlossen. Als er sie dann öffnete, blickte er direkt in Taróns. Trotz der Dunkelheit konnte er das Verlangen in Taróns Augen schimmern sehen -- und sein eigener Blick musste ein Spiegel davon sein.
"Der Meinung bin ich auch ..." Das letzte Wort verlor sich schon in einem Wispern, als Taróns Lippen Rúnars Hals berührten.
Er fuhr mit der einen Hand, die eben noch im Nacken des anderen war, in dessen Haare. Mit der anderen Hand fuhr er unter Taróns Arm hindurch, umschlang dessen Brustkorb und zog ihn enger an sich.
Nein, schlimmer wurde es gewiss nicht.
Zustimmung – er hatte es nicht anders erwartet.
Rúnar zog ihn an sich und Tarón gab sich sowohl in seine Umarmung, wie auch in die des Verlangens, das in ihm aufwallte und die Kälte von Nacht und Wasser zu einer Nebensächlichkeit werden ließ.
[...]
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[...]
Einmal mehr hätte es ewig so bleiben können.
Taróns Kopf fühlte sich auf angenehme Art völlig leer an, sein Körper schwer und träge – mehr noch als nach dem ersten Akt. Und Rúnar unter ihm war so schön warm gegen die Kühle, die sich langsam wieder in sein Bewusstsein schlich. Kurz schloss der Falke die Augen, genoss für einen letzten ewigen Moment das Gefühl einer geeinten Welt in der sein Körper nahtlos mit dem des anderen zu verschmelzen schien und ein gemeinsames Herz in ihrer beiden Brust raste. Rúnars Finger strichen durch sein Haar und für einen Wimpernschlag fühlte er etwas anderes als tobende Lust und Gier – er fühlte sich geborgen. Als wäre er Treibgut, das endlich jemand an Land gezogen hatte.
Der Gedanke, die Erkenntnis, stach so sehr in seinen Geist, dass es ihn veranlasste sich mit einem schweren Grunzen zu erheben, Distanz zwischen sich und Rúnar zu bringen. Das Gebilde zerbrach – zurück blieben wieder zwei getrennte Teile. Der blonde Rúnar und er und über ihnen der Sternenhimmel, der sie beobachtete und über seine Idiotie lachen mochte.
Immernoch außer Atem setzte sich tarón neben den anderen, sah ihn an und lehnte sich seufzend etwas zurück.
Er lachte leise, lenkte sich selbst von dem Gedanken ab, der ihn überspült hatte, wie eine kalte Welle.
„Sieht nach nochmal baden aus, he?“
Die letzten bebenden Wogen der Erschöpfung liefen durch Rúnars Körper und das einzige was letztendlich blieb, war eine Gänsehaut, die die Meeresbrise über seine schwitzige Haut streifte. Verstärkt durch die Dissonanz, die Taróns warmer Körper auf ihm dazu bildete.
Für einen Moment hatte Rúnar Hemmungen, den Falken so liebevoll zu berühren -- sie hatten sich deutlich gemacht, dass dies hier einfach nur eine Sache aus reiner Trunkenheit und Geilheit gewesen war -- und trotzdem. Und trotzdem. Wie schon die ganze Zeit an diesem Abend: Rúnar konnte nicht anders.
Und für einen noch kürzeren Moment war es Rúnar, als wäre dem Drachen bewusst, dass der Drachenfänger ihn hatte. Als hätte der Falke sich freiwillig eine Haube über die Raubvogelaugen gezogen. Als bestünde ihre Verbindung nicht nur aus einem rein körperlichen Akt; als wären sie nicht nur eine tosende See, die ihre Wellen gegeneinanderschlug und sie gegenseitig verschlang -- sondern als wären sie die ruhige See, die all ihre sanften Wellen in dieselbe Richtung schwemmte. Doch ehe er sich diesem Gefühl hingeben konnte -- ehe er überhaupt richtig feststellen konnte, ob es wirklich da war -- brachte Tarón die nötige Distanz zwischen sie beide.
Rúnar schauderte nochmal als die Wärme schwand, doch er bliebt so liegen, die Hände auf seiner Brust, wo eben noch Taróns Kopf gelegen war; die Beine angwinkelt. Er musterte Tarón und er erwischte sich bei dem Gedanken, dass er schön war. Nicht auf die Art und Weise, die dafür gesorgt hatte, dass sie übereinander hergefallen waren. Zwei Mal. Sondern einfach nur ein schöner Anblick -- der Rúnars Herz einen Stich versetzte. Weswegen er nicht weiter darüber nachdenken wollte.
Und sein schönes Lachen erst.
Jetzt reichte es aber. Rúnar schloss die Augen und legte für einen Moment den Arm übers Gesicht, grinste jedoch selbst auch. Baden. "Gute Idee."
Und wieder erwischte er sich bei dem Gedanken: Und dann nochmal von vorne. (Zumindest war es das, was er wollte.)
Sein Blick glitt bei Rúnars Worten zurück zu diesem. Wie er fast noch genauso dalag wie eben zuvor, gezeichnet und markiert von der Sünde, der sie beide sich so bereitwillig hingegeben hatten. Den Arm übers Gesicht, als wolle er die Welt aussperren. Und doch war es vielleicht das, was Tarón erlaubte seinen Körper noch einmal genauer anzusehen, den Blick über jeden Zentimeter Haut gleiten zu lassen. Ein Anblick den er trotz der erneut aufkeimenden Scham behalten wollte. In Bernstein eingießen, um sie der Kollektion seiner Erinnerungen hinzuzufügen.
Seufzend riss er sich hoch, erhob sich und streckte sich im bleichen Mondlicht mit einem hörbaren Knacken des Rückens.
„Na dann komm! Und dann…Rúnar ich sags nicht gerne aber diese Schlägereigeschichte…die geht niemals durch.“
Rúnin sah noch lädierter aus als zuvor…aber immernoch nicht auf eine Art wie sie ein Kneipenschläger hervorbringen würde. Und verprügeln – auf de altmodische Art – wollte er ihn auch nicht. Also musste etwas anderes her.
„Aber…ich denke ich habe eine Lösung. Wird wirklich ne lange Nacht…baden, dann machen wir uns zum nächsten Bordell auf oder sehen ob wir ein paar Huren auf der Straße aufgabeln und in zwei Zimmer schleppen können.“
Zwei – getrennt! Das war wichtig…
„Und keine Sorge…ich bezahle…“
Irgendwie fühlte er sich, als schulde er dem anderen das.
Als Runár hörte wie Taróns Knochen knackten nahm er seinen Arm vom Gesicht und sah den anderen an. Versuchte nochmal, das Bild aufzunehmen bevor es von dem Sturm, der wieder in seinem Kopf aufkam, verschlungen werden würde und nie wieder auftauchen würde.
Auch Rúnar setzte sich auf mit einem Ächzen, während er nickte um Tarón zu bedeuten, dass er zuhörte.
Der Drachenfänger in ihm sagte sich, dass Tarón nicht hatte an sich halten können, als sie schon beschlossen hatten, dass nichts mehr in der Art passieren würde. Und trotzdem hatte der Drache sich so leicht fangen lassen. Er könnte ihn wieder fangen. Und dieser Teil von ihm jagte ihm ein kurzes Lächeln über die Lippen. Doch das Metronom war noch immer da, wenn auch langsamer. Und es schlug um in etwas, das Rúnar das Lächeln wieder aus dem Gesicht wischte und ihm einen Stich versetzte, den er ignorierte, indem er aufstand und Tarón antwortete: "Das klingt nach einem guten Plan." Überzeugt war er davon jedoch nicht. Es war ein guter Plan, ja, aber er gefiel ihm nicht. Der Riss, den Tarón vorhin in sein Fundament geschlagen hatte krachte ein Stück weiter auf. (Obwohl Rúnar nicht wirklich unterscheiden konnte, ob es das Fundament seines Selbstbewusstseins war oder ob es sein Herz war, das gerade versuchte, ihm deutlich zu machen, er sollte diese Gefühle, die er vorhin glaubte gehabt zu haben, lieber wieder schnell loswerden, bevor der Riss sich noch weiter ziehen würde.)
Ihn schauderte, als den ersten Schritt ins Wasser machte. Aber das war gut. Sein Körper und sein Geist brauchten dringend diese Abkühlung. Die kleinen schmerzhaften Blitze, die das Salzwasser durch seine Nerven jagte als es die offenen und beanspruchten Stellen seines Körpers berührte, lenkten ihn von den Blitzen ab die irgendwo in seinem Geist gerade einschlugen.
"Du musst nicht allein bezahlen." Sie waren ja wohl beide an dieser ... Situation beteiligt. Gewesen.
Tarón bemerkte sehr wohl, wie das Lächeln auf Rúnars Lippen erstarb – auch wenn dieser dem Plan zustimmte. Aber glücklich machte den Blonden das nicht. Und nachdem wie Tarón ihn nun sah, nachdem einige Teile des Puzzles ihren korrekten Platz gefunden hatten, wunderte ihn das nicht. Tarón würde ihn damit in eine Situation zerren, die dem anderen wahrscheinlich verdammt unangenehm war – um selbst der für ihn unangenehmen Wahrheit was hier passiert war zu entgehen.
Natürlich: er glaubte das auch für Rúnar selbst tun zu müssen. Und seiner Ansicht nach ging es um so viel, dass dieses Opfer verdammt klein war…dennoch fühlte er sich damit irgendwie beschissen. Und es fühlte sich auf eine seltsame Art ziemlich unfair an – dass er ihm nun diesen Weg aufzwang, genauso wie, dass sie diesen überhaupt gehen mussten.
Manchmal war die Welt einfach beschissen.
Doch auch wenn sein Herz so fühlen mochte, regierte nun wieder sein Verstand. Nicht mehr kopflos und panisch, sondern der Teil von ihm der voll kalten Kalküls über Leichen gehen konnte. Und dieser Teil verbannte diese Zweifel und Gedanken. Der Plan stand – sie würden ihn durchziehen. So einfach war das.
Er folgte Rúnar in die Wellen, sah, wie aufgeschrammt dessen Rücken mittlerweile aussah…nun zum Glück hatten die Ladies meist ordentliche Fingernägel, die auch das erklären mochten…abgesehen davon würde wohl kaum einer Rúnar ausziehen und einer Leibesvisitation unterziehen.
Bei dem absurden Gedanken musste er fast lachen.
Rúnars Gestalt in den Wellen hielt ihn jedoch davon ab. Irgendwie wirkte nun er wie Treibgut…Treibgut, das niemand eingesammelt hatte.
Mit einem leisen Knurren verschloss Tarón sein Herz vor dem Anblick und den erneut aufkommenden Gedanken, die diese Sache nicht besser machen würden. Wischte sie fort – warf sie hinaus in die Wellen. Auf dass sie ertrinken mochten.
Stattdessen stahl sich auf seine Züge das charmante Tarón Lächeln – wenn es diesmal auch nicht bis in seine Augen reichte.
„Nun, ich hab dein Hemd zerrissen…also doch: ich zahle. Vielleicht haben wir sogar Glück und eine der…Damen kann nähen. Ansonsten kommst du zumindest langsam in das echte authentische Piratenaussehen. Hm…oder doch nur verarmter Adel?“
Der Witz in seiner Stimme klang fast überzeugend.
Rúnar hatte über das Geräusch der Wellen und das Geräusch des (noch) undefinierbaren Gedankensturms in seinem Kopf nicht bemerkt, dass Tarón ihm direkt ins Wasser nachgegangen war. Erst als der zu sprechen begann, wandte Rúnar sich zu ihm -- und erwiderte sein Lächeln.
So war das doch schon besser. Tarón machte sich über Rúnar lustig. Alles beim Alten. (Dass ihm exakt dieser Gedanke einen weiteren kurzen Stich versetzte, ignorierte Rúnar.)
Echtes Piratenaussehen oder verarmter Adel. "Beides, möchte ich behaupten", sagte er, noch immer lächelnd. Und es stimmte sogar. Seine Kleidung war offensichtlich hochwertig, aber mittlerweile verschlissen in einem Ausmaß, den man einem Mann von gutem Stand nicht zutrauen würde. Geld hatte er auch keins mehr in der Tasche, oder lange nicht so viel, wie das, was ihm davor zugänglich gewesen war. Seine Haare hingen mittlerweile über seine Augen und ein Federvieh hing bisweilen wie ein großes, buntes Klischee auf seiner Schulter. Und er hatte es akzeptiert. Das war wohl das bedeutendste. Er fühlte sich nicht mehr so, als würde sich in ihm alles zusammenziehen, wenn er darüber nachdachte, dass, er ein Pirat war. Er sah sich nicht mehr als Mitreisender bei einer Piratencrew, sondern als Crewmitglied der Sphinx. Doch an diesen Gedanken wollte er Tarón im Moment nicht teilhaben lassen, auch, wenn sie vorhin darüber schon gesprochen hatten. Der Bann war gebrochen. "Was heißt hier langsam? Musst du etwa noch mehr meiner Kleidung zerreißen, bevor ich angemessen aussehe?" Ihm war bewusst, wie sich das anhörte. Und vielleicht hatte er es absichtlich so formuliert. "Außerdem trägt doch Harald bestimmt sehr dazu bei, dass ich authentisch wirke." Rúnar grinste, doch es wandelte sich zu einem ernsthaften Lächeln. "Gute Idee." Die mit dem Nähen. "Und Tarón ... danke." Rúnar wusste nicht genau, für was er dankte. Dafür, dass Tarón so einfallsreich war? Dass er anbot, die Kosten ihres Plans und die des Schadens zu übernehmen? Für ... die Nacht?
Schmunzelnd sah er den anderen an. Und langsam schmolz ein wenig der Schauspielerei und wurde zu dem wahren Humor, der den Falken auszeichnete, als das Lächeln den bitteren Glanz in seinen Augen zurücktrieb.
„Ja…beides. Also sollten wir dein Hemd vielleicht einfach so belassen.“
Überlegte er laut, eine nachdenkliche Miene zur Schau tragend. Bei Rúnars nächsten Worten zog sich die Stirn kurz in Falten. Da war es wieder…Einladung? Spiel?
Nein…er würde keine Kleidung mehr zerreißen – zumindest nicht auf diese Art. Welch seltsame Gedanken: wenn man wusste, dass man etwas nicht wieder tun würde, war es, als verlöre man etwas, vermisste es bereits – selbst, wenn Tarón bis vor kurzer Zeit garnicht gewusst hatte, dass er es vermissen konnte. Weil er es nicht gekannt hatte. Doch nun war es Teil seines seltsamen Kosmos geworden. Eine Tür, die aufgegangen war – und sich nun wieder schloss. Und er selbst drehte den Schlüssel um und warf ihn zusammen mit seinen Gefühlen ins Meer.
„Ich glaube das Hemd reicht erstmal – sonst wirst du vom Piraten noch zum gewöhnlichen Vagabunden…obwohl beides schon seine Ähnlichkeiten hat, muss man die feine Linie dazwischen bewahren.“ Wischte er auch das mit Humor beiseite, sperrte die Gedanken erneut aus. Nichts war geschehen. Nichts hatte sich verändert - wenn er diese Tür verschlossen hielt.
Er schaffte es sogar zu lachen.
„Ja, dein kleiner Geier macht sich in der Tat ganz gut! Wo hast du den eigentlich her? Das kam in deiner Erzählung bisher nicht vor.“
Doch dann stutzte er – Unverstehen im Blick.
„Wofür? Dafür, dass ich zu deinem authentischen Aussehen beigetragen habe? Gern geschehen. Hab ja gesagt wir machen noch nen richtigen Pirat aus dir.“
Rúnar glaubte auf seinen Witz hin einen etwas zu ernsten Blick von Tarón zu ernten, aber er war sich nicht sicher -- das Mondlicht war zu karg, sein Kopf zu benebelt und seine generelle Wahrnehmung, wie so oft, nicht besonders gut. Trotzdem schoss es ihm durch den Kopf: Doch nicht alles beim Alten? Und im Moment konnte er nicht sagen, ob ihm das missfiel oder gefiel. (Nicht die Umstände der Gesamtsituation, sondern Taróns Blick. Doch je mehr er darüber nachdachte, desto mehr dachte er sich, dass er sich Taróns seltsamen Gesichtsausdruck nur eingebildet hatte -- denn jetzt blickte er den anderen für einen Moment konzentriert an und alles sah aus wie immer. Alles war wie immer. Wie davor.
Was beim Weltenwind war das nur gewesen?
Und wofür Rúnar ihm dankte, das wusste er noch immer nicht. Es klang wie ein Scherz, aber auch jetzt war er nicht sicher, ob es das war oder nicht. Es war, als hätte Tarón ihm zuvor noch seine Geschichte mehr oder minder anvertraut und nun schlug er ihm gewaltsam das Buch vor der Nase zu. Er konnte ihn nicht mehr einschätzen -- nicht so, wie er es vorhin getan hatte.
Er kniff die Lippen zusammen als er den anderen ansah, legte kurz den Kopf schief und schöpfte dann Wasser mit seinen Händen, um sich damit kurz das Gesicht und den Hals zu waschen und sich durch die halbtrockenen Haare zu fahren. Er atmete kurz scharf ein als das Salzwasser über die offenen Stellen auf seiner Haut lief.
Feine Linie dazwischen. Rúnar hätte fast gelacht. Wenn er sich den Verlauf des Abends so ansah, dann hatten wohl beide, Tarón und er, keinen Schimmer wie man feine Linien bewahrte.
Nun lachte er tatsächlich auf, als er drüber nachdachte, wie Harald zu seinem Begleiter geworden war. (Der Gedanke, wie tragisch im Gegensatz dazu Taróns Geschiche mit Calwah war, schlich sich dazwischen -- ehe er ihn wieder beiseite schob.) "Klingt wie erfunden, aber ich hab ihn zusammen mit Trevor von einer Wahrsagerin gestohlen."
Beobachtend, abwartend – die Reaktionen des anderen mit Auge und Instinkt messen. So, wie er es immer tat.
Und ohne, dass er ahnte, was Rúnar in diesem Fall dachte oder wie er sich fühlte spürte auch Tarón ein Pendel in sich schlagen- doch seinen schwang zwischen der Hoffnung, dass alles einfach so sein würde wie zuvor und der Sorge, dass er sich selbst etwas vormachte. Zwischen Erheiterung und einem anzüglichen Witz angesichts Rúnars zusammenzucken vor dem salzigen Biss des Wassers und der Schuld und der Scham darüber, wie diese Kratzer überhaupt entstanden waren. So sagte er nichts und wandte zeitgleich jedoch auch nicht den Blick ab, um sich schamvoll zu verstecken.
Er verharrte, beobachtete weiter, darauf wartend in welche Richtung und in welchen Abgrund er, der Falke, seinen Sturzflug antreten würde.
Doch zumindest hatte er mit der Frage nach dem Vogel einen Treffer gelandet, sich selbst und vielleicht auch Rúnar einen Ausweg aus diesem seltsamen Wellenland geschaffen, in dem die Brandung sie ziellos hin und her zu schubsen schien.
Tarón hob eine Braue und sah Rúnar an. Das mochte man als Skepsis deuten aber im war mittlerweile so viel untergekommen und Rúnar war eine ehrliche Haut, also stimmte das wohl – und Trevor war involviert. Trevor…die wild card – der den Tarón nach wie vor irgendwie sehr schwer greifen und von dem er bisher kaum eine Meinung hatte, weil er nicht sagen konnte, ob dessen Chaos Kalkül…oder ob der Junge einfach völlig irre war.
„Ok…also ich fürchte die Geschichte musst du mir nun doch noch erzählen. Aber vielleicht sollten wir uns dafür wieder was anziehen.“
Seine Witze darüber, dass sich die Sache sonst wiederholen könnte oder dass er sich eine Fettschicht angefressen hätte, wenn ihm bewusst gewesen wäre, dass sie zu Wassertieren würden schob er beiseite. Sie wären nur Wind für das Pendel gewesen.
In dem Moment, in dem Tarón erwähnte, dass sie sich etwas anziehen sollten, begann es, Rúnar unangenehm zu werden, dass sie da so nackt beieinander standen -- wenn auch das Wasser sie zum Großteil bedeckte. Doch es war nun ein seltsames Gefühl. Dass er wusste, dass sie sich nie mehr so gegenüber stehen werden, wenn sie jetzt aus dem Wasser gingen und sich anzogen.
"Das sollten wir." Er zwang sich ein Lächeln auf aber sah den anderen nicht an, als er sich umwandte und gezielt auf die Stelle am Strand, am Felsen zuwatete, wo er seine Kleidung hatte liegen lassen -- wo Tarón seine Kleidung hingeworfen hatte.
Und kurz fragte sich Rúnar, ob er richtig kombinierte, aber sein Gefühl sagte ihm, dass er das tat -- diese Beobachtung war so sehr mit einer Art Gefühl behaftet, dass er daraus nur schließen konnte, dass sie richtig waren. Mit jemandem eine Nacht verbringen im vollen Bewusstsein, dass es nur für ein wenig Spaß und Erlösung war, das war etwas anderes. Das war etwas, das in Rúnar schon länger nicht mehr auslöste, dass er sich plötzlich dafür schämte, nackt vor einem Mann zu stehen, der zuvor gefühlt jeden Zentimeter seiner Haut berührt hat. Er wusste, dass Tarón sich dafür schämte, was sie getan hatten und nicht nur brandeten diese Wellen an den Strand, den Rúnars Kopf oft für die Gefühle anderer spielte; sondern sie liefen geradewegs in den Malstrom seiner eigenen Scham, auf den er versucht hatte, sich ein Fundament zu bauen.
Wie götterfroh er war, dass sie komplett -- komplett das Thema gewechselt hatten.
Er sah sich -- zum ersten Mal an diesem Abend -- kurz am Strand um, ob nicht noch irgendwer anders zugegen war. Sein Herz schlug einmal kurz aus. Wenn sie so leicht (so betrunken wie sie gewesen waren) an diesen Strand gefunden hatten, dann würden andere das auch. Andererseits -- vielleicht waren sie ewig durch die Gegend geirrt und der Alkohol hatte Rúnars Zeitgefühl ertränkt. Aber so betrunken war er nun auch nicht gewesen. Jedenfalls war niemand hier. Rúnar hob seine Strümpfe auf, schüttelte einmal kurz die Sandkörner ab und zog sie an. Dasselbe mit seiner Hose. "Also, folgendermaßen ...", begann er, während er sich dann seine Stiefel überstreifte. "Es ist wahrscheinlich sehr viel weniger spektakulär, als ich es habe klingen lassen. Wir waren auf diesem Markt auf Silvestre und da war diese Wahrsagerin. Trevor hatte es wohl spannend gefunden, sich die Karten legen zu lassen und ich dachte mir, warum denn nicht." (Dass Rúnar mitunter an die Macht solcher Dinge glaubte, das sollte er zunächst für sich behalten. Doch Tarón war aufmerksam und er konnte sich das sicher zusammenreimen, nachdem Rúnar schon die ganze Zeit hinter Svavar her war. Mit Trevor Zeit zu verbringen war auch nichts, das jemals dazu führen würde, den rationaleren Teil seines Geistes anzuregen.) "Wir gehen also hinein und man sieht sofort, wie unglaublich schäbig alles ist. Was an sich vielleicht nicht gerade professionell wirkt, aber halb so schlimm wäre, wenn da nicht dieser Vogel gesessen wäre, der genau so schäbig ausgesehen hat." Rúnar hob sein Hemd und seinen Mantel auf und ein paar der abgesprungenen Knöpfe, die er auf Anhieb fand. "Sag, meinst du wir finden jemanden, der nicht nur nähen kann, sondern auch Ersatzknöpfe hat?" Er hob demonstrativ einen davon hoch. "Oder du hilfst mir gefälligst, alle wiederzufinden."
Tarón folgte dem Blonden an den Strand und währed er auf Rúnars Rücken sah und versuchte die roten Kratzer darauf zu ignorieren musste er sich bemühen seine Gedanken nicht wieder in falsche Richtung davontreiben zu lassen. Nicht der lustgesteuerte wilde Kurs, der ihn veranlasst hatte sich wie von Sinnen auf den anderen zu stürzen und sich ihm hinzugeben – dieser Funke schien vorerst erloschen, sein Brand gelöscht-…sondern eine Richtung, die er beinahe noch mehr fürchtete. Das leise Sirenenlied des Bedauerns, das Gefühl, als würde etwas von ihm davontreiben, das er festhalten wollte. Vielleicht war es nicht einmal Rúnar als Person, sondern eher die Offenbarung, die er ihm gebracht hatte – ungefragt, ungewollt und doch…
Doch seine Füße fühlten den Sand und mit dem Meer ließ er die ihm überantworteten Gedanken hinter sich zurück, als auch er begann sich wieder anzuziehen – darauf bedacht diesen Felsen nicht zu genau zu betrachten, um den herum verstreut seine und Rúnars Sachen lagen.
Stattdessen konzentrierte auch er sich auf die Geschichte, die nun folgte.
Er schmunzelte, während er seine Hose schloss.
„Und da habt ihr euch gedacht ihr rettet das Federvieh vor der alten Schrulle, die ihn so verkommen lässt? Hm…Schicksalsvogel sozusagen? Vielleicht ein Zeichen…“ witzelte er und hob die Brauen.
Dann jedoch spülten Rúnars nächste Worte das Meer heran. Tarón schaffte es sein Lächeln beizubehalten. Sein Spielergesicht aufzusetzen, obwohl er sich bei Rúnars letzten Worten wie ein gescholtener Junge vorkam. ‚Gefälligst…‘ Nun, vielleicht hatte er das verdient.
Er lachte das Gefühl weg.
„Warte, hier ist einer…und da…ach nein, nur eine Muschel. Sähe vielleicht auch ganz gut aus, wenn noch welche fehlen. Dann könnten wir vielleicht behaupten die Meerjungfrauen wären über dich hergefallen.“
Er bereute den Scherz fast sofort als er ihn ausgesprochen hatte.
Tarón war seit jeher berühmt berüchtigt anzügliche, provokante und seltsame Witze zu machen – aber nun hatte das ganze eine Tiefe bekommen, die sich wie ein Krater unter ihm auftat…zumindest wenn er mit Rúnar sprach. Die Sache war ungeahnt…kompliziert geworden. Aber vielleicht war dies auch eine Chance – eine Möglichkeit zu sehen ob der andere das Spiel mitspielen konnte so zu tun als sei alles wieder „ganz normal“…auch wenn Tarón ahnte, dass der komische Beigeschmack selbst dann eine Weile bleiben würde.
Als Tarón schon wieder einen Witz machte, wollte Rúnar einerseits den Kopf schütteln. Andererseits fand er es amüsant. Und auch irgendwie liebenswürdig. Und auf wieder eine andere Art, hatte er nach wie vor -- oder abermals? -- das angenehme Gefühl, dass alles wie immer war. Doch allein die Tatsache betrachtend, dass er all diese Gedanken hatte, war ihm klar, dass er gerade einfach nicht festlegen konnte, wie die Situation war. Und er wusste noch nicht, ob es gut oder schlecht sein würde, aber er entschied sich, es nun erstmal einfach dabei zu belassen. Es hatte sonst keinen Sinn. (Nicht, dass die meisten seiner Gedanken -- oder besser: die Tatsache, dass er sich Gedanken über etwas machte -- überhaupt einen Sinn hatten, aber man durfte ihm ja auch hier und da einmal einen Moment der sinnvollen Eigenwahrnehmung zutrauen.)
Rúnar schnaubte und hatte den Impuls, Tarón die Muschel spielerisch aus der Hand zu schlagen, aber das hatte zu große Ähnlichkeit mit der vorigen Situation und wahrscheinlich würden sie dann wieder nackt zusammen auf dem Felsen liegen, bevor sie überhaupt 'Meerjungfrau' sagen konnten. Aber Rúnar ließ es sich trotzdem nicht nehmen, auf den Scherz einzusteigen. "Ich könnte das Hemd auch sein lassen und mich ganz authentisch nur mit Muscheln bedecken." Um seine Idee zu visualisieren, legte er sich beide Handflächen auf die Brust und nahm eine demonstrativ graziös Haltung ein. (So graziös es ging mir der Hälfte seiner Kleidung über einem Arm hängend.) "Das fiele dann aber für die Authentizität natürlich eher in die Kategorie Meerjungfrau, weniger in die Kategorie Pirat."
Und wieder legte sich Taróns Stirn kurz in Falten, als er darüber nachdachte, ob Rúnars Entgegnung auf seinen vorschnell geäußerten Witz mehr implizierte, als sie sollte oder ob der andere es ganz harmlos meinte – das Niveau ebenso wieder auf den „Normalstand“ ziehend, den Tarón so sehr herbeisehnte. Vielleicht war es dieses Sehnen, dass ihn entscheiden ließ, dass er es genau so auffassen würde: ein harmloser Scherz unter Freunden.
Auf sein Gesicht stahl sich abermals ein schiefes Grinsen. „Nun zu der Meerjungfrau passen zumindest ihre höchst adeligen Züge, mein Herr. Soll ich ein paar Fische für den Schwanz entschuppen? Hm…und ob wir die Löwin dann abbauen und dich als Galionsfigur aufhängen sollten? Soll Glück bringen so eine Meerjungfrau am Bug.“ Nachdenklich betrachtete er den anderen.
Rúnar fiel für einen Moment Taróns etwas verwirrter Blick auf, doch das darauffolgende Grinsen und die darauffolgende Aussage hielten ihn davon ab, genauer über Taróns Gemütszustand nachzudenken. (Das würde sicherlich auch noch kommen. Sobald er sich mit seinen ganz eigenen Gedanken einmal vollständig im Kreis gedreht hatte, würde er auf eine Ebene gelangen, auf welcher er anfangen würde, sich auch um die Gedanken anderer zu scheren -- was ihm in dieser Situation auch sicherlich zum Nachteil gereichen würde. Nicht immer, aber hier schon.)
In seiner üblichen Manier -- so unterschwellig ironisch, dass man es kaum bemerkte -- sagte Rúnar: "Das klingt nach einem verlockenden Angebot, ich fürchte jedoch, ich muss ablehnen." Dabei zog er sich sein halb verrissenes Hemd an, das er zudem auch nicht mehr zuknöpfen konnte -- also ließ er es offen und zog auch seinen Mantel über. Wahrscheinlich war es auch besser so, dass er das im Moment so handhaben konnte. Er hatte es eben noch nicht einmal geschafft, seine Mimik unaufschlussreich zu belassen, als der Stoff seines Hemdes über seine offenen Hautstellen gestriffen war. Nun ging er in die Hocke, um ebenfalls nach dem Knöpfen zu suchen. "Ich fasse das jedenfalls als Kompliment auf", sagte er und lächelte den anderen Mann an. Er hatte das ernst gemeint, doch wusste er nicht, ob Tarón den kleinen Unterschied darin hörte, wie sein Ton sich verschoben hatte -- von kaum merklicher Ironie zu Ernsthaftigkeit. Dann wandte er sich dem Sand zu, ließ seine gespreizten Finger durch die oberflächliche Schicht gleiten um sie auszuwühlen und im Sand vielleicht einen weißen Knopf zum Vorschein zu bringen.
"Jedenfalls", knüpfte er an der vorigen Stelle an. "Das mit Harald war etwas anders als man vielleicht erwarten würde. Entgegen dem, was man Menschen mit normaler Vernunft und Mitgefühl zutrauen würde, haben wir Harald nicht mitgenommen, weil er uns leid getan hat bei dieser Frau -- zumindest nicht in erster Linie, weil leid getan hat er uns natürlich schon -- aber mitgenommen haben wir ihn, weil die uns so übers Ohr gehauen hat und uns die Karten so beschissen gelegt hat, dass wir -- ja, praktisch aus Rache -- einfach ihren Vogel geklaut haben." Er zuckte die Schultern um sich im Einklang mit dieser Geste nicht fragen zu müssen, wie moralisch vertretbar diese Aktion gewesen war.
Ganz offensichtlich blieb es bei der harmlosen Variante – nur die feine Note, kaum hörbar, in Rúnars Antwort brachte seine Gedanken ein wenig ins Straucheln, als Tarón ihm zusah, wie der Blonde sich das Hemd überstreifte. Doch beim kurzen Straucheln blieb es.
„Zu schade!“ witzelte er zurück.
Und in Rúnars nächsten Worten fand sich keine versteckte Note, als dieser sich wieder der Suche nach den Knöpfen widmete. Tarón schloss sich ihm an und begann ebenfalls im Sand nach verstreutem Gut zu fischen, während der andere mit der Geschichte fortfuhr. Während Tarón zwei Knöpfe fand, lauschte er der Erzählung.
Nun, das machte Sinn, nicht wahr? Selbst wenn einem irgendein Vieh leidtat: man band sich eigentlich nicht jedes Mal irgendein Haustier ans Bein, nur weil sein aktueller Besitzer es herunterkommen ließ. Ansonsten wäre die Sphinx wohl vollgestopft mit allerlei Viehzeug. Aber er hatte es Rúnar zugetraut…und irgendwie war ihm der Gedanke sehr sympathisch gewesen, dass der Jüngere einen armen zerrupften Vogel nur um seiner selbst willen gerettet hatte.
Die Realität holte auch diese Vorstellung wieder ein. Rache – wahrscheinlich Trevors Idee. So banal waren die Dinge und die menschliche Natur in ihrem Kern. Es war nicht um Harald gegangen – den armen leidenden Vogel – es ging um die Frau, der er gehört hatte und darum dieser einen Schaden zuzufügen. Oh, er fand es durchaus vertretbar der Alten eins auszuwischen – weniger für ihren schlechten Dienst (was auch immer das beim Kartenlegen genau heißen sollte) als deswegen, weil sie ohnehin nicht für den Vogel hatte sorgen können. Aber eine kleine bittere Note blieb – und das ausgerechnet bei ihm: dem Piraten der weitaus moralisch verwerflichere Dinge getan hatte. Weitaus.
Und nicht, dass das Federvieh sich über die Wendung seines Daseins beklagen konnte. Für den Sittich spielte es wohl kaum eine Rolle, warum er bei Rúnar gelandet war. Manchmal waren Tiere in ihrer Einfachheit zu beneiden.
Nicht zum ersten Mal an diesen Abend dachte sich Tarón, dass er wohl alt wurde. Zumindest irgendwie seltsam und verstörend sentimental. Und wie zuvor lachte er es weg.
„Oho! Und da fragt sich der blasse Drachenzähmer noch vor kurzem, ob er für das Leben als Pirat gemacht sei! Alte Frauen bestehlen passt auf jeden Fall wunderbar in den Lebenslauf!“
Rúnar hielt inne in seiner Suche. Es war ja doch absurd, wie sie beide im Sand hockten und nach Hemdknöpfen buddelten (und dabei Scherz um Scherz wie Backsteine stapelten, damit sie sich schön eine Mauer um die Unbehaglichkeit, die die Situation nun mit sich brachte, ziehen zu können). Er wünschte für einen Augenblick, sie würden einfach darüber reden. Dieses Drumherumschleichen um eine Sache, die unwillkürlich zu Geheimnistuerei führte -- oder diese eben mit sich brachte -- daran hatte Rúnar nicht gerade schöne Erinnerungen. Deshalb hatte er auch nicht den Nerv, diese Art von Spielchen zu spielen.
Doch etwas in ihm überschrieb dieses Gefühl. Etwas, das er früh gelernt hatte. Etwas, das in solchen Situationen seinen Geduldsfaden zuverlässig zusammenhielt: Fügsamkeit. Akzeptanz. Es war alles einfacher, wenn man die Dinge so nahm, wie sie kamen -- das hatte er vorhin Tarón selbst erklärt. Vor allem, wenn es Leute betraf, die man mochte.
Und dazu gehörte auch-- "Ich wurde wohl eher dazu verleitet. Aber das muss natürlich keiner Wissen, wenn ich das nächste mal nach Referenzen gefragt werde." Er erwischte sich bei einem schiefen Lächeln. Da war er schon wieder. Tarón behielt recht. Ein neuer Beweis dafür, dass Rúnar sich ein Stück weiter zu dem hinbewegt hatte, was sich die Leute unter einem Piraten vorstellten. (Er traute sich nicht, sich zu Fragen, was passieren würde, wenn der Chaosfunke in ihm einmal für längere Zeit brennen würde als für eine Vogelklauaktion oder eine -- zwei -- Nummern am Strand auf einem Felsen.) "Du tust ja so, als sei es keine Leistung, sich den Titel 'Drachenfänger' zu verdienen", sagte er, wieder mit seinem subtilen, sarkastischen Unterton. Im vollen Bewusstsein, dass Tarón es ursprünglich selbst gewesen war, der ihm diesen Titel gegeben hatte.
Rúnar gab ein Nicken in Taróns Richtung: "Wie viel Knöpfe hast du? Das müssten bald alle sein, oder nicht?" Er hatte sechs Stück. So viel mehr könnten es nicht gewesen. Wiederum absurd. Rúnar hatte in seinem Leben auf hoher See, als Pirat, in jeglichen Liebschaften, mit vielem gerechnet, aber nicht damit, dass es einmal relevant wäre zu wissen, wie viel Knöpfe an seinem Hemd waren. Gewesen waren.
Verleitet – ja. Trevor also. Der Falke hatte sich das bereits gedacht. Und es sehr seltsamer Teil in ihm atmete bei dem Gedanken fast auf, dass er sich sein Bild von Rúnar als…nun „unschuldig“ war sicher das falsche Wort, aber eben als den vielleicht noch etwas naiven, lieben Burschen, der in seinem Groll nicht einfach vorschlug, eine alte, vielleicht gar nicht mehr zurechnungsfähige Frau zu bestehlen, die auch nur versuchte irgendwie über die Runden zu kommen. Und immer noch ging es weniger um die Aktion an sich, als um irgendetwas anderes (er hatte schon weit Schlimmeres getan, gebilligt und gehört. Die Frau war so gesund und munter wie vor dem Streich. Dem Vogel ging es nun deutlich besser), das Tarón weder benennen wollte noch wirklich konnte.
„Also, dass Trevor dich darauf gebracht hat, solltest du weglassen. Und immer dran denken: du musst die Geschichten schön dramatisieren! Es gab bestimmt ein Feuer irgendwo und die Alte war eine Hexe.“
Erneut lachte er leise und fischte noch einen weiteren Knopf aus dem Sand.
Da war wieder dieser Unterton…Tarón sah mit einem schiefen Lächeln auf.
„Oh, das war in der Tat eine Großleistung von dir.“ ein wenig neckend, auch wenn er Rúnar das Einfangen von Calwah durchaus dankte und es ihn ohne Frage beeindruckt hatte.
„Immerhin hat der Drache dich dabei fast gefressen! Das darfst du beim Erzählen auf keinen Fall vergessen!“
Den Blick schmunzelnd senkend entdeckte er noch zwei hell schimmernde runde Dinger im sand und fügte sie den anderen hinzu.
Moment mal…er stockte, betrachtete wie sich das Licht in einem der Knöpfe brach, der offenbar aus Perlmut zu bestehen schien. Seine Stirn legte sich in Falten.
Es müssten alle sein? Nein…das waren definitiv zu viele! Und sie waren nichtmal alle gleich.
„Ehm…Rúni… sag mal, dein Hemd… hat da schonmal irgendwer Knöpfe neu angenäht?“
Jemand, der kein Stück drauf geachtet hatte ob die auch zusammen passten…der eine da war viel größer als der Rest…
Amüsiert schüttelte Rúnar den Kopf, als Tarón ihm den Rat gab, alles ja schön zu dramatisieren. Sowohl über den Scherz als auch über sich selbst. Für einen Moment haderte er, ob er das nun laut sagen sollte, denn immerhin waren sie nun wieder auf Distanz, doch andererseits ... war es auch ziemlich egal -- und Tarón wäre ein ziemlicher Narr, wenn er bisher nicht mitbekommen hätte, was Rúnar ihm nun sagte: "Dramatisieren muss ich da noch nicht mal was, das macht mein Kopf schon von ganz allein -- und der Rest geht dann wie von selbst." Er schnaubte und es klang zynischer, als er gewollt hatte. Er versuchte, den Ton ein wenig zu retten, indem er hinzufügte: "Und ich kann mich zwar nicht mehr erinnern, was ich gedacht habe, als ich Calwah gefangen habe, aber es würde mich nicht wundern, wenn ich der Meinung gewesen bin, dass er mich fressen wird." Trotzdem hatte er in dem Moment seine Intuition walten lassen -- mit einem erfolgreichen Ergebnis. Das konnte man ihm sehr wohl zugute lassen kommen. (Das nächste Mal, dass er ohne große Vorgedanken seine Intuition hatte walten lassen, war vermutlich gewesen, als er sich dazu nicht-entschieden hatte, Tarón zu küssen, sondern es einfach getan hatte. Es war einfach passiert. Und jetzt waren sie hier, Rúnar -- für den anderen konnte er ja nicht sprechen -- mit diesem seltsam nachhängenden, wirren, undefinierbaren Gefühl und dem mehr oder weniger erfolgreichen Versuch, so zu tun, als wäre nichts passiert. Da lässt man einmal seine Gedankenbrühe außer acht und schon schüttet jemand einen Eimer Salz hinein. Nun ja. Er hatte sich eben noch gesagt, er würde das jetzt einfach so lassen und nicht groß weiter drüber nachdenken.)
Die Möglichkeit weiter in seine Gedanken zu kreiseln nahm Tarón ihm auch sogleich ab. Ob jemand schon mal Knöpfe neu an das Hemd genäht hatte. Rúnar legte fragend den Kopf schief. "Bestimmt." Sein Blick schweifte kurz ab, zur Seite, aufs Meer, in seine Erinnerung. Aber es kam nichts konkretes auf. "Ich hab das schon seit einiger Zeit, würde mich wundern, wenn nicht." Als Rúnars Blick zurückschweifte bemerkte er erst, wie Tarón auf die Knöpfe in seiner Hand sah. Rúnar tat es ihm nach. Führte seine Handfläche, in der er die Knöpfe hielt, etwas näher an sein Gesicht. War sich noch nicht komplett sicher, worauf Tarón hinaus wollte, aber irgendwas schaltete und er realisierte, dass einer der Knöpfe zwar auch weiß, aber grünlicher war als die anderen. Dass dieser grünliche Schimmer Algen waren. Weil dieser Knopf schon so lange hier herum lag.
Rúnar dachte gar nicht nach, es platzte nur ein, "Was zum--?!", aus ihm hinaus und die Knöpfe schleuderten in die Luft, als seine Hand sie so schnell wie möglich loswerden wollte und er verlor fast das Gleichgewicht, machte einen kleinen Ausfallschritt nach hinten, um nicht rücklinks in den Sand zu fallen.
Wie die Dinge von selbst liefen hatten sie ja gesehen…und zu welchem Drama dies geführt hatte. Weit mehr als Tarón lieb war… Ja – vielleicht kannte Rúnar sich auch ohne absichtliches Dazu erfinden damit schon genug aus. Doch Tarón überging diese Spitze, weigerte sich wieder in dieses Gedankenmeer hinabzusteigen und konzentrierte sich stattdessen auf den Rest.
„Soso – derart schreckhaft? Ich meine Calwah kann schon furchterregend und gefährlich sein – besonders für Waden und nackte Zehen.“
Wie schreckhaft Rúnar wohl offenbar tatsächlich war zeigte sich im nächsten Moment. Erst antwortete ihm der Blonde noch im ruhigen Ton und mit Worten, die es zumindest zur Möglichkeit gemacht hätten, dass doch alle Knöpfe an sein Hemd gehörten (und doch wusste Tarón dass dem nicht so war – diese Ungleichmäßigkeit wäre ihm aufgefallen…ziemlich sicher.), dann sah er sich die Knöpfe in seiner Hand genauer an. Tarón beobachtete ihn nichts Böses ahnend und plötzlich flogen die sorg und mühsam eingesammelten Kleinode in alle Richtungen davon, als Rúnar sie wie glühende Kohlen von sich schleuderte und dabei fast mit dem Arsch im Sand landete.
Also…DAS war definitiv dramatisch!
Einen Moment sah Tarón den anderen an – reine Verblüffung ob dieser Reaktion im Blick.
„Okay...ich hab gesagt du sollst dramatisieren, aber das habe ich an sich nicht gemeint…!“
Und er prustete los angesichts des verschreckten Gesichtsausdruckes und wie Rúnar da einer krummen Pappel gleich im Mondlicht stand.
Grinsend ging sein Blick zu dem dunklen Stein. Und nun konnte er nicht anders, als seiner Natur zu folgen und trotz des unsicheren Bodens seine Witze zu machen.
„Tja…scheint das hier ist nicht exklusiv „unser“ Felsen…entweder das oder hier treffen sich die Frauen zur Schneiderarbeit….“
Er wusste nicht welche Vorstellung er komischer fand also kicherte er schon wieder los. Und als er sich vorstellte wie hier eine Gruppe Frauen am Tag irgendwelche Knöpfe annähte und dabei dort rumhockte wo des Nächtens irgendwelche Leute übereinander herfielen verwandelte sich das Kichern in schallendes Gelächter. Rúnars Gesicht tat sein übriges.
„Götter du guckst so bescheuert...!“
Brachte er keuchend hervor.
Natürlich guckte Rúnar bescheuert, denn die Vorstellung wurde Wort um Wort aus Taróns Mund schlimmer. Dabei wusste Rúnar zunächst gar nicht warum er deshalb so entsetzt war -- vielleicht weil er dadurch gezwungen war, sich auszumalen, wie andere Leute es auf diesem Felsen getrieben hatten und in Erweiterung also, wie sie beide es ebenfalls auf diesem Felsen getrieben hatten und wie absurd das gewesen war und in den Augen der meisten äußerst skandalös. (Er blieb kurz dabei hängen, dass Tarón es "ihren" Felsen nannte.) Und er war auf eine Art und Weise großgezogen worden, die dazu geführt hatte, dass er skandalöse Dinge nunmal eben skandalös fand.
Doch es fiel ihm immer leichter, sich aus diesem erzwungenen, ihm seit Geburt an auferlegten Habitus herauszuwinden. Deshalb fing er zunächst an zu grinsen, schüttelte dann nochmals amüsiert den Kopf und begann schließlich ebenfalls zu lachen. Und stellte dabei fest, wie sehr Taróns Lachen ihm gefiel. (Und stellte ebenfalls fest, wie oft ihm dieser Gedanke in Zukunft wohl noch durch den Kopf gehen würde.)
Aber wenn Tarón austeilen konnte, dann konnte er wohl auch einstecken. "Ich war nur schockiert über die Vorstellung, dass es außer dir noch mehr solch brutale Menschen gibt, die ihren Liebhabern direkt wirklich die Kleidung vom Leib reißen." Er hob etwas suggestiv die Augenbrauen (bereute es sofort ein wenig) und wandte dann seinen Blick von Tarón ab und begann abzuzählen, wie viele Knopflöcher sein Hemd hatte, damit er am Ende mit mindestens der richtigen Anzahl an Knöpfen dastand und hoffentlich mit allen den korrekten darunter.
Was auch immer da grade hinter Rúnars Stirn vorging: es war zu komisch! Die Gesichtsentgleisung setzte sich noch einige wundervolle Sekunden fort in denen der Blonde sich wohl was-auch-immer ausmalte und Tarón vor Lachen fast wieherte.
Was da in seinem Kopf vorging konnte Tarón diesmal allerdings nicht wirklich erraten. Nachdem er selbst bisher eindeutig derjenige gewesen war, der sich hier den Kopf zerbrach und über das, was sie getan hatten entsetzt gewesen war, machte Rúnars Reaktion eigentlich keinen wirklichen Sinn, denn der schien die ganze Aktion eigentlich ganz…“normal“ zu finden. Zumindest kein Grund in Panik zu geraten und sich über die Maße zu schämen, wie der Falke es getan hatte.
Aber gerade dieses Absurde machte das Ganze so komisch…und es tat gut so zu lachen.
Gut genug, dass Rúnars nächste Worte ihn nicht so sehr aus dem Gleichgewicht brachten, wie es vielleicht ansonsten passiert wäre. Nach Luft schnappend wischte Tarón sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
„Ja…pass nur auf…das hier ist ein Sammelpunkt für Monster, die über unschuldige Damen und Knaben herfallen…“ konterte er daher fast schon automatisch und ohne sich in zu viele Hintergedanken zu verirren.
„Wahrscheinlich sind sie mit den ansässigen Schneiderinnen im Bunde…“ er gluckste schon wieder „Die nähen die Knöpfe dann wieder an...“ beim Versuch eine erneute Lachsalve zu unterdrücken verschluckte er sich fast. Rúnars Beschämtsein entging ihm unter seinem Anfall beinahe – jedoch nur beinahe. Aber wie zuvor beschloss er nicht auf diesen Kahn aufzuspringen. Das Ganze etwas ins Lächerliche zu ziehen war viel besser als die wahnsinnigen Gedanken zuvor. Und es war ja auch völlig absurd – dies alles hier. Und sollte ihm die Sache am Ende doch den Kopf kosten, nun, dann hatte er zumindest jetzt Spaß damit gehabt.
„Und…wie viele Knöpfe passen an dein Hemd? Sollten wir vielleicht ein paar zusätzliche annähen lassen? Nur für den Fall?“
Dass er das nun äußerte war definitiv alleine dem Umstand geschuldet, dass sein eigenes lachen so heftig in seinem Schädel widerzuhallen schien, dass Tarón für einen Moment nicht wirklich klar denken konnte.
Rúnar sah es Tarón nach, dass er sich über ihn lustig machte und ihn dazu noch vom Zählen ablenkte. Bestimmt war der Alkohol noch nicht aus seinem System -- aus ihrer beider Systeme -- und außerdem hatte jeder seine Bewältigungsstrategien. Wenn dies Taróns war, dann ... gut für ihn.
Rúnar grinste trotzdem, als er von vorn begann zu Zählen, konzentrierte sich stark auf die Knopflöcher, um nicht Tarón anzusehen, auf dass sein Herz nicht schneller schlagen würde, auch wenn der andere gerade für jeden Außenstehenden einfach nur seltsam wirken musste. (Aber Rúnar war nun schon so betört, dass Tarón nicht mehr neutral wahrnehmen konnte.)
"Acht Stück", sagte er. Und nun sah er doch wieder auf. Das Grinsen noch immer auf sein Gesicht gepflastert hallte in Rúnars Kopf nach, was Tarón gesagt hatte. Für den Fall. Für den Fall? Rúnar fürchtete, dass das Metronom wieder zu pendeln beginnen würde, also fiel ihm nichts besseres ein als dem Impuls nachzugehen, etwas Sand nach Tarón zu kicken. Ein Knopf flog mit. Für einen Moment -- das Grinsen jedoch wie festgewachsen noch immer auf dem Gesicht -- sprang in ihm ein Funke auf. Er dachte kurz es war der Chaosfunke, aber beim abebben des Impulses, wurde ihm klar, dass es ein Funke war der sagt: 'O-oh. Vielleicht hast du es diesmal mit den Scherzen übertrieben.'
Langsam bekam er sich wieder unter Kontrolle. Das Lachen ebbte schließlich ab und hinterließ ein seltsames fast flaues Gefühl in seinem Magen. Vielleicht war es ganz gut, dass Rúnar ihn sehr deutlich absichtlich nicht ansah – er fühlte sich ein wenig wie ein Irrer, der grade wieder zu Sinnen kam. Andererseits – Rúnars Gesicht war komisch gewesen! Was sollte er da tun? Und das Alles hier war so absurd, dass er sich diesen Anfall auch verzeihen durfte.
„Acht.“ Echoete er. Und wich dann mit einem belustigten Schnauben dem Sand aus, den Rúnar nach ihm kickte. Der Knopf traf ihn dennoch auf Höhe des Schienenbeines. Tarón fischte ihn auf. Überging dabei nach wie vor jedwede Möglichkeit, dass die Situation wieder in eine andere Richtung kippen könnte. Wenn man es nicht beachtete verhungerte dieses Monster vielleicht von ganz alleine?
„Nun…ich habe alleine schon sechs – welche sollen es sein, die aus Perlmut, die großen irgendwie kantigen…oh hier ist einer der leicht bläulich ist…vielleicht…bei dem Licht schwer zu sagen.“
'Ich will meine eigenen Knöpfe haben', schoss es Rúnar durch den Kopf und er fühlte sich sofort wie ein kleines, trotziges Kind.
Am Ende war es doch egal. Seine Kleidung würde immer mehr verschleißen, je länger er mit der Sphinx fahren würde. Er -- oder besser gesagt Tarón -- hatte nur den Prozess etwas beschleunigt. Außerdem konnte er sich einfach neue Kleidung kaufen, wenn er genug Geld zusammen hatte. Aber da war eben noch immer etwas in ihm, das nicht ganz von seinem alten Leben loslassen konnte. Und bald war davon nichts mehr übrig, bis auf seine Kleidung.
Rúnar hob noch zwei Knöpfe aus dem Sand auf. Einer davon war ziemlich sicher seiner, der andere hatte ebenfalls einen Perlmuttschimmer. "Solange sie alle halbwegs ähnlich aussehen bin ich zufrieden", sagte er. Dann klaubte er jedoch kurzerhand noch zwei deutlich sichtbare auf, ohne darauf zu achten, was es genau für welche waren. "Allerdings könnten wir aus Prinzip alle mitnehmen, falls irgendwer doch mal Ersatz braucht." Wie sich das nun schon wieder anhörte. "Aus der Crew."
Tarón drehte einen der Knöpfe dicht vor seinen Augen hin und her, die er dabei im versuch irgendetwas sinngebendes zu erkennen zusammenkniff. Das Licht war einfach zu schlecht um wirklich etwas genauses auszumachen und schließlich gab er es mit einem leisen seufzen auf und schob die Knöpfe – alle – in seine Tasche.
„Hm…vielleicht sind ein paar von denen sogar etwas wert. Also nehmen wir sie natürlich mit. Man kann nie zu viele Knöpfe haben – das hat zumindest meine Tante immer gesagt.“
Und deshalb fischte er noch zwei weitere auf, die seine Augen im Sand ausmachen konnten – einer entpuppte sich allerdings als ein Stück zerbrochener Muschel.
„Na wenn wir nun genug haben…lass uns gehen. Die Nacht wird nicht jünger und ich ahne jetzt schon, dass mein Kopf sie sehr bereuen wird, wenn die Sonne aufgeht… Gucken wir also, wo sich die hoch ehrenwerten Damen so tummeln…hm?“
Vielleicht konnte eine davon massieren. Das wäre nicht schlecht – er bezweifelte nämlich, dass er zu dem wozu er sie eigentlich buchen würde noch groß in der Lage wäre.
Seine Tante, hm. Rúnar hätte Tarón gerne mehr darüber gefragt. Für einen Moment spürte er den kleinen Funken der zuvor etwas Vertrauen zwischen ihnen hatte aufflammen lassen. Das und mehr. Und jetzt--
Nun ja ...
Rúnar nickte und gab dem anderen ein schiefes Lächeln, aber es war kein echtes. Wo sich die Damen tummelten ... Nein, an diesen Ort in seinen Gedanken würde er sich jetzt nicht schon wieder begeben. Warum Tarón--
Nein, eigentlich wusste Rúnar, warum Tarón so geheimnistuerisch war, dass er sogar mit einem derartigen Alibi sicher gehen wollte. Er wusste es nicht nur, er konnte es auch nachvollziehen. Und das war fast noch schlimmer--
Nicht! Er würde nicht weiter darüber nachdenken. Einatmen. Ausatmen.
"Weißt du, wo wir hin müssen?", fragte Rúnar, als sie gingen. Er steckte seine Hände in seine Manteltasche und hielt sie etwas vor sich, sodass die Front des Mantels zumindest ein klein wenig Schutz bort vor neugierigen Augen, die sein zerstörtes Hemd beäugten -- aus welchem Grund auch immer. Es gehörte sich einfach nicht mit einem solch zerrissenen Hemd draußen herumzulaufen.
Rúnar hatte den Impuls sich etwas gegen Taróns Griff zu stemmen, um deutlich zu machen, dass er losgelassen werden wollte. Aber er tat es nicht. Eigentlich ... wollte er es nicht. Und selbst wenn Tarón ihn nun loslassen würde ... er hatte ihn. Trotzdem.
Und wieder war er ihm so nah, dass Rúnars Körper in ihn der Kühle des Wassers ein wenig wärmte. Und der Blonde wich nicht von ihm – auch wenn Taróns Griff um seine Handgelenke sich mittlerweile gelockert hatte. Dem Falken wurde eines erschreckend bewusst: wenn er sich eingebildet hatte die reine Anziehung wäre mit ihrem Akt erloschen - eine Eintagsfliege, ein schnell sterbendes Glühwürmchen – dann hatte er sich geirrt. Vielleicht aber war der erneute Wunsch Rúnar so nahe zu sein aber auch erst Resultat der zuvor gemachten Erfahrung. Des Augenöffners, der ihm eine Begierde offenbart hatte, die er zuvor nicht einmal vermutet hatte.
Natürlich kannte er Männer, die schlicht sachlich betrachtet attraktiv waren – aber nie hatte er auch nur den leisesten Wunsch verspürt sie auf solch eine Art zu berühren. Wenn er an die anderen Typen auf der Sphinx dachte…nein. Auf keinen Fall.
Aber er hatte auch nicht wirklich Männer wie Rúnar gekannt – auf eine feminine Art zarter als die anderen Typen. War es das? Dass Rúnars Haut sich so zart unter seinen streichenden Fingern auf dessen Unterarm anfühlte? Seine im Vergleich zu ihm so viel schmalere Statur? Zu einem guten Teil war es das Machtgefühl – das wusste er. Unleugbar. Macht über einen anderen Mann – ihn zur vollen Unterwerfung zu bringen. Das hatte er getan – und es war wie ein Rausch gewesen.
Er hatte Frauen genommen – auch hart. Auch ohne jegliche Liebe und aus einem Akt reiner Wollust. Aber auch das war anders gewesen. Berauschend, ja – aber nicht so.
Auch Tarón bewegte sich nicht weg. Lehnte sich sanft gegen Rúnar und ließ die Finger stumm über dessen Unterarme wandern, für einen Moment – den ersten wirklichen Moment und ohne Panik – analysieren, nachdenken, was hier los war.
Auch in den nächsten Momenten konnte Rúnar nicht anders, als einfach da zu stehen, in Taróns ... sanftem? ... Griff? Sein Kopf wiederholte die Worte, die sie eben noch gewechselt hatten und wehrte sich gegen die Vorstellung, gegen das Gefühl wie Tarón ihn gerade berührte -- dieses innerliche Paradox drückte so von beiden Seiten auf ihn ein, dass er sich nun in dieser Stasis befand. Dass ein Teil von ihm sich aus Taróns Armen winden wollte, ein anderer sich an ihn schmiegen wollte.
Sein Gewissen, seine Gefühle, sein ganzes Dasein tickte wie ein Metronom -- das Pendel zwischen Vernunft und Verlangen hin- und herschwingend. Und umso länger er dort stand und fühlte, wie Taróns Finger über seine Haut strichen, umso mehr übertönte das Ticken das Tosen seines Gedankensturms und es blieben diese zwei Dinge übrig. Tick. Tack. Vernunft. Verlangen.
Ordnung. Chaos.
Und dann erwischte er das Metronom im richtigen Moment und drehte sich aus Taróns Armen, wandte sich ihm zu. Auch, wenn seine Hand dabei den Unterarm des anderen ergriffen hatte. Trotzdem.
Ordnung.
Sein Blick wanderte von seiner Berührung Taróns Arm hinauf, seine Schulter, sein Schlüsselbein entlang, sein Hals, seine Lippen, seine Augen ... ob er nicht vielleicht etwas darin sehen konnte, ob der andere nicht vielleicht etwas sagen konnte, das Rúnar helfen würde, das Metronom zu stoppen.
Schließlich entwand sich Rúnar seiner seltsamen Umarmung und Tarón tat nichts, um ihn aufzuhalten, obwohl das kühle Meerwasser nun ein wenig kälter wirkte. Doch Rúnars Hand umschloss noch seinen Unterarm. Tarón sah auf sie, ehe er den Blick hob, selbst spürte, wie Rúnars Augen über ihn wanderten – und in seinem Gesicht nach etwas suchten.
Tarón hatte es gewusst: das Meer machte alles besser. Ihm war noch immer duselig im Kopf, doch das Taumel darin folgte nun dem Takt der Wellen, die ihn schaukelten und beruhigten. Ihn und die Bestie, das Unbekannte in ihm, das Rúnar geweckt hatte. Sie war da – das wusste er nun ganz genau. Sie war aufgetaucht um zu bleiben, geboren aus einem unheiligen Verlangen das sich für ihn noch nicht greifen oder erklären ließ.
Den Kopf ein wenig gesenkt sah er Rúnar von unten her an und lächelte leicht.
„Echt seltsam, oder? Wie das Leben manchmal so spielt…was ist das nur an dir, Rúnar?“
Mit der Hand des Armes, die der andere nicht festhielt strich Tarón nun an dem Unterarm des anderen entlang und hob den Blick.
„Ich nehme an für dich war das alles…weniger neu…oder?“
Weniger überraschend… er war sich verdammt sicher, dass Rúnar…nun…seine „Erfahrung“ mit Männern hatte. Dennoch schien auch er verwirrt. Und Taróns mit dem Meer schwimmender Geist schob die verschwemmten Puzzleteile ein wenig näher zusammen. Erst Taróns - zugegeben völlig hysterische, aber er glaubte noch immer einen Grund dafür zu haben – Reaktion hatte ihn aus dem Tritt gebracht.
Was das an ihm war? Er war doch nur ... es war nichts an ihm. Er war einfach nur ... Rúnar. Oder er versuchte es. Doch ein Teil von ihm kam nicht drum herum, sich etwas berauscht davon zu fühlen, dass jemand wie er -- der behütete, naive Adlige, der zu allem Ja und Amen sagte -- dass er ohne sich auch nur Gedanken darüber gemacht zu haben, genug Wirkungsmacht gehabt hatte um jemandem wie Tarón mit keinerlei Mühe den Boden unter den Füßen wegzuziehen.
Rúnar atmete tief ein, als Tarón seinen Arm entlang fuhr und mit einem wohligen Schauer stellten sich die feinen Haare auf seinem Arm auf. Ihre Blicke trafen sich -- Rúnar verstand die Frage erst nicht. Weniger neu? Er hob die Augenbrauen und blinzelte. Öffnete den Mund um etwas zu sagen, aber stolperte über seine Worte, bevor er dann einen vollständigen Satz herausbrachte. "Was ... wie meinst du?" Und sobald die Frage draußen war, war Rúnar schon fast klar, was Tarón damit meinte. Die Teile waren gerade dabei, sich zusammenzusetzen, er musste nur nochmal kurz hinsehen, um das ganze Bild zu bekommen.
Tarón beobachtete seine Reaktion – natürlich tat er das. Das war, was er immer tat, worin er wirklich gut war, nicht wahr? Andere Leute beobachten, sie analysieren, Schlüssel ziehen, um Fäden und Teile zu verbinden. So war er – so war er wahrscheinlich schon immer gewesen.
Und so ahnte er was Rúnar so straucheln ließ. Was diese fast wunderbare Verwirrung auf sein Gesicht und in seine Augen rief. Und doch schoben sich auch für den anderen die Teile zusammen – auch das sah der Falke und er lächelte ihn wissend und mit einem Funken Anerkennung an. Sein Nicken war angedeutet – eine kaum sichtbare Bewegung vor der Kulisse der Wellen.
„So, wie du es verstanden hast. Dachtest du ich hab sowas schon öfter gemacht?“
Er klang ein amüsiert.
„Hm…naja, dann habe ich mich fürs erste Mal wohl ganz gut angestellt nehme ich an…?“
Rúnar stand die ganze Zeit, während Tarón sprach, der Mund offen. Er sah auf die Wellen, auf ihre -- fast schon verschlungenen -- Arme, in Taróns Gesicht, wieder auf ihre Arme. "Ganz gut ist vielleicht ein wenig untertrieben", murmelte er. Und dann wandelte sich sein überraschter Gesichtsausdruck zu einem Grinsen und er nickte leicht, zu sich selbst. Auch, wenn man nichts davon bemerkt hatte, es bedeutete, dass Rúnar dem über zehn Jahre älteren, abgebrühten, erfahrenen Seemann etwas voraus hatte -- sein Selbstbewusstsein trug ihn kurz auf Händen, ehe er seine Fassung wiederfand, sich räusperte und einen ernsten Gesichtsausdruck auflegte -- nur um die gewonnene Fassung dann komplett zu verlieren und laut aufzulachen. Nicht schadenfroh oder herablassend, lediglich amüsiert. Worüber genau, das wusste nur der Alkohol, der wohl noch immer durch seine Adern strömte.
Rúnars Worte brachten auch ihn zum Lachen.
„Oho – ein Kompliment. Ich werde noch rot…nicht, dass du davon viel sehen würdest. Es ist verdammt dunkel…“
Sein Blick legte sich wieder auf seine eigene Hand, die Rúnars Arm entlangwanderte – auf und ab…auf und ab.
„Ich bereue es nicht… nicht um seiner selbst willen zumindest. Falls das eben…falsch rüberkam.“ Er hielt in seinen Bewegungen inne, sah Rúnar nun wieder in die Augen.
„Ich schätze ich habe einfach…“
Er kaute an dem Wort, wandte den Blick ab auf das Schwarz der Nacht
„…Angst. Und ich verstehe es nicht.“
Er atmete durch, sah Rúnar mit einem schiefen Lächeln wieder an.
„Aber verdammt es war gut.“
Rúnar folgte Taróns Blick, den Bewegungen seiner Finger auf Rúnars Haut. Auf, ab, auf, ab -- tick, tack, ging das Metronom.
Wieder trafen sich ihre Blicke. Wieder sah Tarón weg -- haderte mit seinen Worten. Sah Rúnar wieder an. Und Rúnar lächelte zurück. Er wusste ganz genau wie Tarón sich fühlte. Nicht nur in dieser Sache, sondern fast immer -- fast immer tosten Rúnars Gedanken in seinem Kopf, wenn etwas passiert war, das er nicht kannte, nicht definieren konnte, oder nicht in der Lage war zu verarbeiten. Und dann griff er nach der nächstbesten Hand, die sich ihm entgegenstreckte, und diese Hand gehörte einmal dem Zweifel, und beim nächsten Mal gehörte sie der Akzeptanz, und die dritte dann wieder dem Zweifel, und so ging es immer weiter, bis der Sturm sich legte. Und er wollte Tarón eine helfende, zuverlässigere Hand reichen, als die, die dessen Emotionen ihm geben konnten, also sagte er: "Da gibt es nichts zu verstehen. Das ist etwas, das ist einfach so wie es ist." Das mit der Angst war etwas komplizierter. Es lief darauf hinaus, dass es sich mehr lohnte, so wie man war in Angst zu leben, als nicht zu sein wie man war. Doch dies war ein Gerüst, das bei Rúnar auf enorm wackeligen Beinen stand. Und hatte Tarón diesem Gerüst vorhin noch ein Bein abgeschlagen, hob Rúnar nun einen Mundwinkel, wohlwissend, dass es Taróns eigene Worte gewesen waren: "Und ich verrate dir ein Geheimnis: Alle haben Angst."
Und ja, es war gut. Rúnar verging das Lächeln, desto länger sie sich so ansahen. Tarón bereute es nicht, hatte er gesagt. Trotzdem. Seine erste Reaktion -- reine Verwirrung. Zu viel Alkohol. Dennoch. Tick, tack -- Vernunft, Verlangen -- Ordnung, Chaos.
Rúnar nahm einen tiefen Atemzug und fast ohne nachzudenken hob er seine Hand, führte sie an Taróns Gesicht -- machte kurz davor halt--
Tick.
--zog sie wieder ein wenig zurück.
Tack.
Chaos.
Er legte seinen Hand um Taróns Nacken, zog ihn an sich und küsste ihn.
Nicht zu verstehen…
Vielleicht. Vielleicht war das so. Und dennoch war es…abnormal. Oder? Diesen Gedanken, sein ganzes Leben hindurch genährt, konnte Tarón nicht abschütteln.
Aber traf das nicht auch auf eine ganze Menge anderer Sachen zu die ihn betrafen?
Es fiel seinem analytischen Gehirn dennoch schwer die Sache ruhen zu lassen – nicht nach einem Grund zu suchen, nach Verstehen. Fakt war jedoch, dass die Begierde da war – kein Verliebtsein oder so ein Blödsinn. Er mochte Rúnar, zweifellos – aber das stand nicht wirklich im Bezug zu dem was sein Körper von ihm wollte. Trotzdem war es auch nicht wirklich wie bei anderen Freunden – eher ein seltsames Zwischenland, in dem er Rúnar weder unter den anderen Männern noch unter einer weiblichen Liebschaft wie er sie kannte oder ebenfalls platonischen Freundschaften, die er durchaus auch mit Frauen gehabt hatte, einordnen konnte.
Das hier war anders. Einzigartig – zumindest in seiner bisherigen Welt.
Rúnars nächste Worte durchbrachen seinen Gedankenstrom und Tarón musste erneut schief lächeln und leicht nicken.
„Ah…du hörst mir also zu!..Ja…so ist es wohl.“
Auch wenn seine Angst sehr konkret war – und sehr real. Das hier war eine Gefahr. Es gab die Möglichkeit, dass sie das hier umbrachte – wenn er es auch nicht mehr ganz als Gewissheit ansah. Panik würde ihm jedoch nicht helfen…Panik half niemals. Und er hatte seinen Kopf schon aus ganz anderen Schlingen gezogen…
Grade steckte er ihn jedoch bereitwillig wieder hinein: geradewegs in den Strick und unter die Axt des Henkers.
Rúnars Hand vor seinem Gesicht, dann in seinem Nacken – und wieder spürte er diese weichen feminin anmutenden Lippen auf seinen. Und er hatte dem Kuss nichts entgegenzusetzen und ließ sich erneut in den Strudel hinabziehen, als er ihn erwiderte.
Nach einem Moment löste er die Lippen von Rúnars, nahm seinen Kopf ein Stück zurück und sah ihn an. Sein Kopf funktionierte etwas besser als das letzte Mal aber er die Begierde lag bereits in seinen Augen. Einen Moment dachte er darüber nach andere Worte zu wählen – Worte, die Rúnar vielleicht zum Rückzug bewegt hätten…aber er tat es nicht. Er wollte das hier.
„Schätze nun ist es auch egal, oder? Ich meine…der Abend ist bereits gelaufen wie er ist und eine Ausrede brauchen wir so oder so…“
Er beugte sich vor, küsste Rúnars bereits dunkel gegen den Rest seiner hellen Haut wirkenden Hals.
„Viel schlimmer können wir es wohl kaum machen…“
Als Tarón sich wieder von ihm löste, hielt Rúnar seine Augen für einen Moment länger geschlossen. Als er sie dann öffnete, blickte er direkt in Taróns. Trotz der Dunkelheit konnte er das Verlangen in Taróns Augen schimmern sehen -- und sein eigener Blick musste ein Spiegel davon sein.
"Der Meinung bin ich auch ..." Das letzte Wort verlor sich schon in einem Wispern, als Taróns Lippen Rúnars Hals berührten.
Er fuhr mit der einen Hand, die eben noch im Nacken des anderen war, in dessen Haare. Mit der anderen Hand fuhr er unter Taróns Arm hindurch, umschlang dessen Brustkorb und zog ihn enger an sich.
Nein, schlimmer wurde es gewiss nicht.
Zustimmung – er hatte es nicht anders erwartet.
Rúnar zog ihn an sich und Tarón gab sich sowohl in seine Umarmung, wie auch in die des Verlangens, das in ihm aufwallte und die Kälte von Nacht und Wasser zu einer Nebensächlichkeit werden ließ.
[...]
[...]
Einmal mehr hätte es ewig so bleiben können.
Taróns Kopf fühlte sich auf angenehme Art völlig leer an, sein Körper schwer und träge – mehr noch als nach dem ersten Akt. Und Rúnar unter ihm war so schön warm gegen die Kühle, die sich langsam wieder in sein Bewusstsein schlich. Kurz schloss der Falke die Augen, genoss für einen letzten ewigen Moment das Gefühl einer geeinten Welt in der sein Körper nahtlos mit dem des anderen zu verschmelzen schien und ein gemeinsames Herz in ihrer beiden Brust raste. Rúnars Finger strichen durch sein Haar und für einen Wimpernschlag fühlte er etwas anderes als tobende Lust und Gier – er fühlte sich geborgen. Als wäre er Treibgut, das endlich jemand an Land gezogen hatte.
Der Gedanke, die Erkenntnis, stach so sehr in seinen Geist, dass es ihn veranlasste sich mit einem schweren Grunzen zu erheben, Distanz zwischen sich und Rúnar zu bringen. Das Gebilde zerbrach – zurück blieben wieder zwei getrennte Teile. Der blonde Rúnar und er und über ihnen der Sternenhimmel, der sie beobachtete und über seine Idiotie lachen mochte.
Immernoch außer Atem setzte sich tarón neben den anderen, sah ihn an und lehnte sich seufzend etwas zurück.
Er lachte leise, lenkte sich selbst von dem Gedanken ab, der ihn überspült hatte, wie eine kalte Welle.
„Sieht nach nochmal baden aus, he?“
Die letzten bebenden Wogen der Erschöpfung liefen durch Rúnars Körper und das einzige was letztendlich blieb, war eine Gänsehaut, die die Meeresbrise über seine schwitzige Haut streifte. Verstärkt durch die Dissonanz, die Taróns warmer Körper auf ihm dazu bildete.
Für einen Moment hatte Rúnar Hemmungen, den Falken so liebevoll zu berühren -- sie hatten sich deutlich gemacht, dass dies hier einfach nur eine Sache aus reiner Trunkenheit und Geilheit gewesen war -- und trotzdem. Und trotzdem. Wie schon die ganze Zeit an diesem Abend: Rúnar konnte nicht anders.
Und für einen noch kürzeren Moment war es Rúnar, als wäre dem Drachen bewusst, dass der Drachenfänger ihn hatte. Als hätte der Falke sich freiwillig eine Haube über die Raubvogelaugen gezogen. Als bestünde ihre Verbindung nicht nur aus einem rein körperlichen Akt; als wären sie nicht nur eine tosende See, die ihre Wellen gegeneinanderschlug und sie gegenseitig verschlang -- sondern als wären sie die ruhige See, die all ihre sanften Wellen in dieselbe Richtung schwemmte. Doch ehe er sich diesem Gefühl hingeben konnte -- ehe er überhaupt richtig feststellen konnte, ob es wirklich da war -- brachte Tarón die nötige Distanz zwischen sie beide.
Rúnar schauderte nochmal als die Wärme schwand, doch er bliebt so liegen, die Hände auf seiner Brust, wo eben noch Taróns Kopf gelegen war; die Beine angwinkelt. Er musterte Tarón und er erwischte sich bei dem Gedanken, dass er schön war. Nicht auf die Art und Weise, die dafür gesorgt hatte, dass sie übereinander hergefallen waren. Zwei Mal. Sondern einfach nur ein schöner Anblick -- der Rúnars Herz einen Stich versetzte. Weswegen er nicht weiter darüber nachdenken wollte.
Und sein schönes Lachen erst.
Jetzt reichte es aber. Rúnar schloss die Augen und legte für einen Moment den Arm übers Gesicht, grinste jedoch selbst auch. Baden. "Gute Idee."
Und wieder erwischte er sich bei dem Gedanken: Und dann nochmal von vorne. (Zumindest war es das, was er wollte.)
Sein Blick glitt bei Rúnars Worten zurück zu diesem. Wie er fast noch genauso dalag wie eben zuvor, gezeichnet und markiert von der Sünde, der sie beide sich so bereitwillig hingegeben hatten. Den Arm übers Gesicht, als wolle er die Welt aussperren. Und doch war es vielleicht das, was Tarón erlaubte seinen Körper noch einmal genauer anzusehen, den Blick über jeden Zentimeter Haut gleiten zu lassen. Ein Anblick den er trotz der erneut aufkeimenden Scham behalten wollte. In Bernstein eingießen, um sie der Kollektion seiner Erinnerungen hinzuzufügen.
Seufzend riss er sich hoch, erhob sich und streckte sich im bleichen Mondlicht mit einem hörbaren Knacken des Rückens.
„Na dann komm! Und dann…Rúnar ich sags nicht gerne aber diese Schlägereigeschichte…die geht niemals durch.“
Rúnin sah noch lädierter aus als zuvor…aber immernoch nicht auf eine Art wie sie ein Kneipenschläger hervorbringen würde. Und verprügeln – auf de altmodische Art – wollte er ihn auch nicht. Also musste etwas anderes her.
„Aber…ich denke ich habe eine Lösung. Wird wirklich ne lange Nacht…baden, dann machen wir uns zum nächsten Bordell auf oder sehen ob wir ein paar Huren auf der Straße aufgabeln und in zwei Zimmer schleppen können.“
Zwei – getrennt! Das war wichtig…
„Und keine Sorge…ich bezahle…“
Irgendwie fühlte er sich, als schulde er dem anderen das.
Als Runár hörte wie Taróns Knochen knackten nahm er seinen Arm vom Gesicht und sah den anderen an. Versuchte nochmal, das Bild aufzunehmen bevor es von dem Sturm, der wieder in seinem Kopf aufkam, verschlungen werden würde und nie wieder auftauchen würde.
Auch Rúnar setzte sich auf mit einem Ächzen, während er nickte um Tarón zu bedeuten, dass er zuhörte.
Der Drachenfänger in ihm sagte sich, dass Tarón nicht hatte an sich halten können, als sie schon beschlossen hatten, dass nichts mehr in der Art passieren würde. Und trotzdem hatte der Drache sich so leicht fangen lassen. Er könnte ihn wieder fangen. Und dieser Teil von ihm jagte ihm ein kurzes Lächeln über die Lippen. Doch das Metronom war noch immer da, wenn auch langsamer. Und es schlug um in etwas, das Rúnar das Lächeln wieder aus dem Gesicht wischte und ihm einen Stich versetzte, den er ignorierte, indem er aufstand und Tarón antwortete: "Das klingt nach einem guten Plan." Überzeugt war er davon jedoch nicht. Es war ein guter Plan, ja, aber er gefiel ihm nicht. Der Riss, den Tarón vorhin in sein Fundament geschlagen hatte krachte ein Stück weiter auf. (Obwohl Rúnar nicht wirklich unterscheiden konnte, ob es das Fundament seines Selbstbewusstseins war oder ob es sein Herz war, das gerade versuchte, ihm deutlich zu machen, er sollte diese Gefühle, die er vorhin glaubte gehabt zu haben, lieber wieder schnell loswerden, bevor der Riss sich noch weiter ziehen würde.)
Ihn schauderte, als den ersten Schritt ins Wasser machte. Aber das war gut. Sein Körper und sein Geist brauchten dringend diese Abkühlung. Die kleinen schmerzhaften Blitze, die das Salzwasser durch seine Nerven jagte als es die offenen und beanspruchten Stellen seines Körpers berührte, lenkten ihn von den Blitzen ab die irgendwo in seinem Geist gerade einschlugen.
"Du musst nicht allein bezahlen." Sie waren ja wohl beide an dieser ... Situation beteiligt. Gewesen.
Tarón bemerkte sehr wohl, wie das Lächeln auf Rúnars Lippen erstarb – auch wenn dieser dem Plan zustimmte. Aber glücklich machte den Blonden das nicht. Und nachdem wie Tarón ihn nun sah, nachdem einige Teile des Puzzles ihren korrekten Platz gefunden hatten, wunderte ihn das nicht. Tarón würde ihn damit in eine Situation zerren, die dem anderen wahrscheinlich verdammt unangenehm war – um selbst der für ihn unangenehmen Wahrheit was hier passiert war zu entgehen.
Natürlich: er glaubte das auch für Rúnar selbst tun zu müssen. Und seiner Ansicht nach ging es um so viel, dass dieses Opfer verdammt klein war…dennoch fühlte er sich damit irgendwie beschissen. Und es fühlte sich auf eine seltsame Art ziemlich unfair an – dass er ihm nun diesen Weg aufzwang, genauso wie, dass sie diesen überhaupt gehen mussten.
Manchmal war die Welt einfach beschissen.
Doch auch wenn sein Herz so fühlen mochte, regierte nun wieder sein Verstand. Nicht mehr kopflos und panisch, sondern der Teil von ihm der voll kalten Kalküls über Leichen gehen konnte. Und dieser Teil verbannte diese Zweifel und Gedanken. Der Plan stand – sie würden ihn durchziehen. So einfach war das.
Er folgte Rúnar in die Wellen, sah, wie aufgeschrammt dessen Rücken mittlerweile aussah…nun zum Glück hatten die Ladies meist ordentliche Fingernägel, die auch das erklären mochten…abgesehen davon würde wohl kaum einer Rúnar ausziehen und einer Leibesvisitation unterziehen.
Bei dem absurden Gedanken musste er fast lachen.
Rúnars Gestalt in den Wellen hielt ihn jedoch davon ab. Irgendwie wirkte nun er wie Treibgut…Treibgut, das niemand eingesammelt hatte.
Mit einem leisen Knurren verschloss Tarón sein Herz vor dem Anblick und den erneut aufkommenden Gedanken, die diese Sache nicht besser machen würden. Wischte sie fort – warf sie hinaus in die Wellen. Auf dass sie ertrinken mochten.
Stattdessen stahl sich auf seine Züge das charmante Tarón Lächeln – wenn es diesmal auch nicht bis in seine Augen reichte.
„Nun, ich hab dein Hemd zerrissen…also doch: ich zahle. Vielleicht haben wir sogar Glück und eine der…Damen kann nähen. Ansonsten kommst du zumindest langsam in das echte authentische Piratenaussehen. Hm…oder doch nur verarmter Adel?“
Der Witz in seiner Stimme klang fast überzeugend.
Rúnar hatte über das Geräusch der Wellen und das Geräusch des (noch) undefinierbaren Gedankensturms in seinem Kopf nicht bemerkt, dass Tarón ihm direkt ins Wasser nachgegangen war. Erst als der zu sprechen begann, wandte Rúnar sich zu ihm -- und erwiderte sein Lächeln.
So war das doch schon besser. Tarón machte sich über Rúnar lustig. Alles beim Alten. (Dass ihm exakt dieser Gedanke einen weiteren kurzen Stich versetzte, ignorierte Rúnar.)
Echtes Piratenaussehen oder verarmter Adel. "Beides, möchte ich behaupten", sagte er, noch immer lächelnd. Und es stimmte sogar. Seine Kleidung war offensichtlich hochwertig, aber mittlerweile verschlissen in einem Ausmaß, den man einem Mann von gutem Stand nicht zutrauen würde. Geld hatte er auch keins mehr in der Tasche, oder lange nicht so viel, wie das, was ihm davor zugänglich gewesen war. Seine Haare hingen mittlerweile über seine Augen und ein Federvieh hing bisweilen wie ein großes, buntes Klischee auf seiner Schulter. Und er hatte es akzeptiert. Das war wohl das bedeutendste. Er fühlte sich nicht mehr so, als würde sich in ihm alles zusammenziehen, wenn er darüber nachdachte, dass, er ein Pirat war. Er sah sich nicht mehr als Mitreisender bei einer Piratencrew, sondern als Crewmitglied der Sphinx. Doch an diesen Gedanken wollte er Tarón im Moment nicht teilhaben lassen, auch, wenn sie vorhin darüber schon gesprochen hatten. Der Bann war gebrochen. "Was heißt hier langsam? Musst du etwa noch mehr meiner Kleidung zerreißen, bevor ich angemessen aussehe?" Ihm war bewusst, wie sich das anhörte. Und vielleicht hatte er es absichtlich so formuliert. "Außerdem trägt doch Harald bestimmt sehr dazu bei, dass ich authentisch wirke." Rúnar grinste, doch es wandelte sich zu einem ernsthaften Lächeln. "Gute Idee." Die mit dem Nähen. "Und Tarón ... danke." Rúnar wusste nicht genau, für was er dankte. Dafür, dass Tarón so einfallsreich war? Dass er anbot, die Kosten ihres Plans und die des Schadens zu übernehmen? Für ... die Nacht?
Schmunzelnd sah er den anderen an. Und langsam schmolz ein wenig der Schauspielerei und wurde zu dem wahren Humor, der den Falken auszeichnete, als das Lächeln den bitteren Glanz in seinen Augen zurücktrieb.
„Ja…beides. Also sollten wir dein Hemd vielleicht einfach so belassen.“
Überlegte er laut, eine nachdenkliche Miene zur Schau tragend. Bei Rúnars nächsten Worten zog sich die Stirn kurz in Falten. Da war es wieder…Einladung? Spiel?
Nein…er würde keine Kleidung mehr zerreißen – zumindest nicht auf diese Art. Welch seltsame Gedanken: wenn man wusste, dass man etwas nicht wieder tun würde, war es, als verlöre man etwas, vermisste es bereits – selbst, wenn Tarón bis vor kurzer Zeit garnicht gewusst hatte, dass er es vermissen konnte. Weil er es nicht gekannt hatte. Doch nun war es Teil seines seltsamen Kosmos geworden. Eine Tür, die aufgegangen war – und sich nun wieder schloss. Und er selbst drehte den Schlüssel um und warf ihn zusammen mit seinen Gefühlen ins Meer.
„Ich glaube das Hemd reicht erstmal – sonst wirst du vom Piraten noch zum gewöhnlichen Vagabunden…obwohl beides schon seine Ähnlichkeiten hat, muss man die feine Linie dazwischen bewahren.“ Wischte er auch das mit Humor beiseite, sperrte die Gedanken erneut aus. Nichts war geschehen. Nichts hatte sich verändert - wenn er diese Tür verschlossen hielt.
Er schaffte es sogar zu lachen.
„Ja, dein kleiner Geier macht sich in der Tat ganz gut! Wo hast du den eigentlich her? Das kam in deiner Erzählung bisher nicht vor.“
Doch dann stutzte er – Unverstehen im Blick.
„Wofür? Dafür, dass ich zu deinem authentischen Aussehen beigetragen habe? Gern geschehen. Hab ja gesagt wir machen noch nen richtigen Pirat aus dir.“
Rúnar glaubte auf seinen Witz hin einen etwas zu ernsten Blick von Tarón zu ernten, aber er war sich nicht sicher -- das Mondlicht war zu karg, sein Kopf zu benebelt und seine generelle Wahrnehmung, wie so oft, nicht besonders gut. Trotzdem schoss es ihm durch den Kopf: Doch nicht alles beim Alten? Und im Moment konnte er nicht sagen, ob ihm das missfiel oder gefiel. (Nicht die Umstände der Gesamtsituation, sondern Taróns Blick. Doch je mehr er darüber nachdachte, desto mehr dachte er sich, dass er sich Taróns seltsamen Gesichtsausdruck nur eingebildet hatte -- denn jetzt blickte er den anderen für einen Moment konzentriert an und alles sah aus wie immer. Alles war wie immer. Wie davor.
Was beim Weltenwind war das nur gewesen?
Und wofür Rúnar ihm dankte, das wusste er noch immer nicht. Es klang wie ein Scherz, aber auch jetzt war er nicht sicher, ob es das war oder nicht. Es war, als hätte Tarón ihm zuvor noch seine Geschichte mehr oder minder anvertraut und nun schlug er ihm gewaltsam das Buch vor der Nase zu. Er konnte ihn nicht mehr einschätzen -- nicht so, wie er es vorhin getan hatte.
Er kniff die Lippen zusammen als er den anderen ansah, legte kurz den Kopf schief und schöpfte dann Wasser mit seinen Händen, um sich damit kurz das Gesicht und den Hals zu waschen und sich durch die halbtrockenen Haare zu fahren. Er atmete kurz scharf ein als das Salzwasser über die offenen Stellen auf seiner Haut lief.
Feine Linie dazwischen. Rúnar hätte fast gelacht. Wenn er sich den Verlauf des Abends so ansah, dann hatten wohl beide, Tarón und er, keinen Schimmer wie man feine Linien bewahrte.
Nun lachte er tatsächlich auf, als er drüber nachdachte, wie Harald zu seinem Begleiter geworden war. (Der Gedanke, wie tragisch im Gegensatz dazu Taróns Geschiche mit Calwah war, schlich sich dazwischen -- ehe er ihn wieder beiseite schob.) "Klingt wie erfunden, aber ich hab ihn zusammen mit Trevor von einer Wahrsagerin gestohlen."
Beobachtend, abwartend – die Reaktionen des anderen mit Auge und Instinkt messen. So, wie er es immer tat.
Und ohne, dass er ahnte, was Rúnar in diesem Fall dachte oder wie er sich fühlte spürte auch Tarón ein Pendel in sich schlagen- doch seinen schwang zwischen der Hoffnung, dass alles einfach so sein würde wie zuvor und der Sorge, dass er sich selbst etwas vormachte. Zwischen Erheiterung und einem anzüglichen Witz angesichts Rúnars zusammenzucken vor dem salzigen Biss des Wassers und der Schuld und der Scham darüber, wie diese Kratzer überhaupt entstanden waren. So sagte er nichts und wandte zeitgleich jedoch auch nicht den Blick ab, um sich schamvoll zu verstecken.
Er verharrte, beobachtete weiter, darauf wartend in welche Richtung und in welchen Abgrund er, der Falke, seinen Sturzflug antreten würde.
Doch zumindest hatte er mit der Frage nach dem Vogel einen Treffer gelandet, sich selbst und vielleicht auch Rúnar einen Ausweg aus diesem seltsamen Wellenland geschaffen, in dem die Brandung sie ziellos hin und her zu schubsen schien.
Tarón hob eine Braue und sah Rúnar an. Das mochte man als Skepsis deuten aber im war mittlerweile so viel untergekommen und Rúnar war eine ehrliche Haut, also stimmte das wohl – und Trevor war involviert. Trevor…die wild card – der den Tarón nach wie vor irgendwie sehr schwer greifen und von dem er bisher kaum eine Meinung hatte, weil er nicht sagen konnte, ob dessen Chaos Kalkül…oder ob der Junge einfach völlig irre war.
„Ok…also ich fürchte die Geschichte musst du mir nun doch noch erzählen. Aber vielleicht sollten wir uns dafür wieder was anziehen.“
Seine Witze darüber, dass sich die Sache sonst wiederholen könnte oder dass er sich eine Fettschicht angefressen hätte, wenn ihm bewusst gewesen wäre, dass sie zu Wassertieren würden schob er beiseite. Sie wären nur Wind für das Pendel gewesen.
In dem Moment, in dem Tarón erwähnte, dass sie sich etwas anziehen sollten, begann es, Rúnar unangenehm zu werden, dass sie da so nackt beieinander standen -- wenn auch das Wasser sie zum Großteil bedeckte. Doch es war nun ein seltsames Gefühl. Dass er wusste, dass sie sich nie mehr so gegenüber stehen werden, wenn sie jetzt aus dem Wasser gingen und sich anzogen.
"Das sollten wir." Er zwang sich ein Lächeln auf aber sah den anderen nicht an, als er sich umwandte und gezielt auf die Stelle am Strand, am Felsen zuwatete, wo er seine Kleidung hatte liegen lassen -- wo Tarón seine Kleidung hingeworfen hatte.
Und kurz fragte sich Rúnar, ob er richtig kombinierte, aber sein Gefühl sagte ihm, dass er das tat -- diese Beobachtung war so sehr mit einer Art Gefühl behaftet, dass er daraus nur schließen konnte, dass sie richtig waren. Mit jemandem eine Nacht verbringen im vollen Bewusstsein, dass es nur für ein wenig Spaß und Erlösung war, das war etwas anderes. Das war etwas, das in Rúnar schon länger nicht mehr auslöste, dass er sich plötzlich dafür schämte, nackt vor einem Mann zu stehen, der zuvor gefühlt jeden Zentimeter seiner Haut berührt hat. Er wusste, dass Tarón sich dafür schämte, was sie getan hatten und nicht nur brandeten diese Wellen an den Strand, den Rúnars Kopf oft für die Gefühle anderer spielte; sondern sie liefen geradewegs in den Malstrom seiner eigenen Scham, auf den er versucht hatte, sich ein Fundament zu bauen.
Wie götterfroh er war, dass sie komplett -- komplett das Thema gewechselt hatten.
Er sah sich -- zum ersten Mal an diesem Abend -- kurz am Strand um, ob nicht noch irgendwer anders zugegen war. Sein Herz schlug einmal kurz aus. Wenn sie so leicht (so betrunken wie sie gewesen waren) an diesen Strand gefunden hatten, dann würden andere das auch. Andererseits -- vielleicht waren sie ewig durch die Gegend geirrt und der Alkohol hatte Rúnars Zeitgefühl ertränkt. Aber so betrunken war er nun auch nicht gewesen. Jedenfalls war niemand hier. Rúnar hob seine Strümpfe auf, schüttelte einmal kurz die Sandkörner ab und zog sie an. Dasselbe mit seiner Hose. "Also, folgendermaßen ...", begann er, während er sich dann seine Stiefel überstreifte. "Es ist wahrscheinlich sehr viel weniger spektakulär, als ich es habe klingen lassen. Wir waren auf diesem Markt auf Silvestre und da war diese Wahrsagerin. Trevor hatte es wohl spannend gefunden, sich die Karten legen zu lassen und ich dachte mir, warum denn nicht." (Dass Rúnar mitunter an die Macht solcher Dinge glaubte, das sollte er zunächst für sich behalten. Doch Tarón war aufmerksam und er konnte sich das sicher zusammenreimen, nachdem Rúnar schon die ganze Zeit hinter Svavar her war. Mit Trevor Zeit zu verbringen war auch nichts, das jemals dazu führen würde, den rationaleren Teil seines Geistes anzuregen.) "Wir gehen also hinein und man sieht sofort, wie unglaublich schäbig alles ist. Was an sich vielleicht nicht gerade professionell wirkt, aber halb so schlimm wäre, wenn da nicht dieser Vogel gesessen wäre, der genau so schäbig ausgesehen hat." Rúnar hob sein Hemd und seinen Mantel auf und ein paar der abgesprungenen Knöpfe, die er auf Anhieb fand. "Sag, meinst du wir finden jemanden, der nicht nur nähen kann, sondern auch Ersatzknöpfe hat?" Er hob demonstrativ einen davon hoch. "Oder du hilfst mir gefälligst, alle wiederzufinden."
Tarón folgte dem Blonden an den Strand und währed er auf Rúnars Rücken sah und versuchte die roten Kratzer darauf zu ignorieren musste er sich bemühen seine Gedanken nicht wieder in falsche Richtung davontreiben zu lassen. Nicht der lustgesteuerte wilde Kurs, der ihn veranlasst hatte sich wie von Sinnen auf den anderen zu stürzen und sich ihm hinzugeben – dieser Funke schien vorerst erloschen, sein Brand gelöscht-…sondern eine Richtung, die er beinahe noch mehr fürchtete. Das leise Sirenenlied des Bedauerns, das Gefühl, als würde etwas von ihm davontreiben, das er festhalten wollte. Vielleicht war es nicht einmal Rúnar als Person, sondern eher die Offenbarung, die er ihm gebracht hatte – ungefragt, ungewollt und doch…
Doch seine Füße fühlten den Sand und mit dem Meer ließ er die ihm überantworteten Gedanken hinter sich zurück, als auch er begann sich wieder anzuziehen – darauf bedacht diesen Felsen nicht zu genau zu betrachten, um den herum verstreut seine und Rúnars Sachen lagen.
Stattdessen konzentrierte auch er sich auf die Geschichte, die nun folgte.
Er schmunzelte, während er seine Hose schloss.
„Und da habt ihr euch gedacht ihr rettet das Federvieh vor der alten Schrulle, die ihn so verkommen lässt? Hm…Schicksalsvogel sozusagen? Vielleicht ein Zeichen…“ witzelte er und hob die Brauen.
Dann jedoch spülten Rúnars nächste Worte das Meer heran. Tarón schaffte es sein Lächeln beizubehalten. Sein Spielergesicht aufzusetzen, obwohl er sich bei Rúnars letzten Worten wie ein gescholtener Junge vorkam. ‚Gefälligst…‘ Nun, vielleicht hatte er das verdient.
Er lachte das Gefühl weg.
„Warte, hier ist einer…und da…ach nein, nur eine Muschel. Sähe vielleicht auch ganz gut aus, wenn noch welche fehlen. Dann könnten wir vielleicht behaupten die Meerjungfrauen wären über dich hergefallen.“
Er bereute den Scherz fast sofort als er ihn ausgesprochen hatte.
Tarón war seit jeher berühmt berüchtigt anzügliche, provokante und seltsame Witze zu machen – aber nun hatte das ganze eine Tiefe bekommen, die sich wie ein Krater unter ihm auftat…zumindest wenn er mit Rúnar sprach. Die Sache war ungeahnt…kompliziert geworden. Aber vielleicht war dies auch eine Chance – eine Möglichkeit zu sehen ob der andere das Spiel mitspielen konnte so zu tun als sei alles wieder „ganz normal“…auch wenn Tarón ahnte, dass der komische Beigeschmack selbst dann eine Weile bleiben würde.
Als Tarón schon wieder einen Witz machte, wollte Rúnar einerseits den Kopf schütteln. Andererseits fand er es amüsant. Und auch irgendwie liebenswürdig. Und auf wieder eine andere Art, hatte er nach wie vor -- oder abermals? -- das angenehme Gefühl, dass alles wie immer war. Doch allein die Tatsache betrachtend, dass er all diese Gedanken hatte, war ihm klar, dass er gerade einfach nicht festlegen konnte, wie die Situation war. Und er wusste noch nicht, ob es gut oder schlecht sein würde, aber er entschied sich, es nun erstmal einfach dabei zu belassen. Es hatte sonst keinen Sinn. (Nicht, dass die meisten seiner Gedanken -- oder besser: die Tatsache, dass er sich Gedanken über etwas machte -- überhaupt einen Sinn hatten, aber man durfte ihm ja auch hier und da einmal einen Moment der sinnvollen Eigenwahrnehmung zutrauen.)
Rúnar schnaubte und hatte den Impuls, Tarón die Muschel spielerisch aus der Hand zu schlagen, aber das hatte zu große Ähnlichkeit mit der vorigen Situation und wahrscheinlich würden sie dann wieder nackt zusammen auf dem Felsen liegen, bevor sie überhaupt 'Meerjungfrau' sagen konnten. Aber Rúnar ließ es sich trotzdem nicht nehmen, auf den Scherz einzusteigen. "Ich könnte das Hemd auch sein lassen und mich ganz authentisch nur mit Muscheln bedecken." Um seine Idee zu visualisieren, legte er sich beide Handflächen auf die Brust und nahm eine demonstrativ graziös Haltung ein. (So graziös es ging mir der Hälfte seiner Kleidung über einem Arm hängend.) "Das fiele dann aber für die Authentizität natürlich eher in die Kategorie Meerjungfrau, weniger in die Kategorie Pirat."
Und wieder legte sich Taróns Stirn kurz in Falten, als er darüber nachdachte, ob Rúnars Entgegnung auf seinen vorschnell geäußerten Witz mehr implizierte, als sie sollte oder ob der andere es ganz harmlos meinte – das Niveau ebenso wieder auf den „Normalstand“ ziehend, den Tarón so sehr herbeisehnte. Vielleicht war es dieses Sehnen, dass ihn entscheiden ließ, dass er es genau so auffassen würde: ein harmloser Scherz unter Freunden.
Auf sein Gesicht stahl sich abermals ein schiefes Grinsen. „Nun zu der Meerjungfrau passen zumindest ihre höchst adeligen Züge, mein Herr. Soll ich ein paar Fische für den Schwanz entschuppen? Hm…und ob wir die Löwin dann abbauen und dich als Galionsfigur aufhängen sollten? Soll Glück bringen so eine Meerjungfrau am Bug.“ Nachdenklich betrachtete er den anderen.
Rúnar fiel für einen Moment Taróns etwas verwirrter Blick auf, doch das darauffolgende Grinsen und die darauffolgende Aussage hielten ihn davon ab, genauer über Taróns Gemütszustand nachzudenken. (Das würde sicherlich auch noch kommen. Sobald er sich mit seinen ganz eigenen Gedanken einmal vollständig im Kreis gedreht hatte, würde er auf eine Ebene gelangen, auf welcher er anfangen würde, sich auch um die Gedanken anderer zu scheren -- was ihm in dieser Situation auch sicherlich zum Nachteil gereichen würde. Nicht immer, aber hier schon.)
In seiner üblichen Manier -- so unterschwellig ironisch, dass man es kaum bemerkte -- sagte Rúnar: "Das klingt nach einem verlockenden Angebot, ich fürchte jedoch, ich muss ablehnen." Dabei zog er sich sein halb verrissenes Hemd an, das er zudem auch nicht mehr zuknöpfen konnte -- also ließ er es offen und zog auch seinen Mantel über. Wahrscheinlich war es auch besser so, dass er das im Moment so handhaben konnte. Er hatte es eben noch nicht einmal geschafft, seine Mimik unaufschlussreich zu belassen, als der Stoff seines Hemdes über seine offenen Hautstellen gestriffen war. Nun ging er in die Hocke, um ebenfalls nach dem Knöpfen zu suchen. "Ich fasse das jedenfalls als Kompliment auf", sagte er und lächelte den anderen Mann an. Er hatte das ernst gemeint, doch wusste er nicht, ob Tarón den kleinen Unterschied darin hörte, wie sein Ton sich verschoben hatte -- von kaum merklicher Ironie zu Ernsthaftigkeit. Dann wandte er sich dem Sand zu, ließ seine gespreizten Finger durch die oberflächliche Schicht gleiten um sie auszuwühlen und im Sand vielleicht einen weißen Knopf zum Vorschein zu bringen.
"Jedenfalls", knüpfte er an der vorigen Stelle an. "Das mit Harald war etwas anders als man vielleicht erwarten würde. Entgegen dem, was man Menschen mit normaler Vernunft und Mitgefühl zutrauen würde, haben wir Harald nicht mitgenommen, weil er uns leid getan hat bei dieser Frau -- zumindest nicht in erster Linie, weil leid getan hat er uns natürlich schon -- aber mitgenommen haben wir ihn, weil die uns so übers Ohr gehauen hat und uns die Karten so beschissen gelegt hat, dass wir -- ja, praktisch aus Rache -- einfach ihren Vogel geklaut haben." Er zuckte die Schultern um sich im Einklang mit dieser Geste nicht fragen zu müssen, wie moralisch vertretbar diese Aktion gewesen war.
Ganz offensichtlich blieb es bei der harmlosen Variante – nur die feine Note, kaum hörbar, in Rúnars Antwort brachte seine Gedanken ein wenig ins Straucheln, als Tarón ihm zusah, wie der Blonde sich das Hemd überstreifte. Doch beim kurzen Straucheln blieb es.
„Zu schade!“ witzelte er zurück.
Und in Rúnars nächsten Worten fand sich keine versteckte Note, als dieser sich wieder der Suche nach den Knöpfen widmete. Tarón schloss sich ihm an und begann ebenfalls im Sand nach verstreutem Gut zu fischen, während der andere mit der Geschichte fortfuhr. Während Tarón zwei Knöpfe fand, lauschte er der Erzählung.
Nun, das machte Sinn, nicht wahr? Selbst wenn einem irgendein Vieh leidtat: man band sich eigentlich nicht jedes Mal irgendein Haustier ans Bein, nur weil sein aktueller Besitzer es herunterkommen ließ. Ansonsten wäre die Sphinx wohl vollgestopft mit allerlei Viehzeug. Aber er hatte es Rúnar zugetraut…und irgendwie war ihm der Gedanke sehr sympathisch gewesen, dass der Jüngere einen armen zerrupften Vogel nur um seiner selbst willen gerettet hatte.
Die Realität holte auch diese Vorstellung wieder ein. Rache – wahrscheinlich Trevors Idee. So banal waren die Dinge und die menschliche Natur in ihrem Kern. Es war nicht um Harald gegangen – den armen leidenden Vogel – es ging um die Frau, der er gehört hatte und darum dieser einen Schaden zuzufügen. Oh, er fand es durchaus vertretbar der Alten eins auszuwischen – weniger für ihren schlechten Dienst (was auch immer das beim Kartenlegen genau heißen sollte) als deswegen, weil sie ohnehin nicht für den Vogel hatte sorgen können. Aber eine kleine bittere Note blieb – und das ausgerechnet bei ihm: dem Piraten der weitaus moralisch verwerflichere Dinge getan hatte. Weitaus.
Und nicht, dass das Federvieh sich über die Wendung seines Daseins beklagen konnte. Für den Sittich spielte es wohl kaum eine Rolle, warum er bei Rúnar gelandet war. Manchmal waren Tiere in ihrer Einfachheit zu beneiden.
Nicht zum ersten Mal an diesen Abend dachte sich Tarón, dass er wohl alt wurde. Zumindest irgendwie seltsam und verstörend sentimental. Und wie zuvor lachte er es weg.
„Oho! Und da fragt sich der blasse Drachenzähmer noch vor kurzem, ob er für das Leben als Pirat gemacht sei! Alte Frauen bestehlen passt auf jeden Fall wunderbar in den Lebenslauf!“
Rúnar hielt inne in seiner Suche. Es war ja doch absurd, wie sie beide im Sand hockten und nach Hemdknöpfen buddelten (und dabei Scherz um Scherz wie Backsteine stapelten, damit sie sich schön eine Mauer um die Unbehaglichkeit, die die Situation nun mit sich brachte, ziehen zu können). Er wünschte für einen Augenblick, sie würden einfach darüber reden. Dieses Drumherumschleichen um eine Sache, die unwillkürlich zu Geheimnistuerei führte -- oder diese eben mit sich brachte -- daran hatte Rúnar nicht gerade schöne Erinnerungen. Deshalb hatte er auch nicht den Nerv, diese Art von Spielchen zu spielen.
Doch etwas in ihm überschrieb dieses Gefühl. Etwas, das er früh gelernt hatte. Etwas, das in solchen Situationen seinen Geduldsfaden zuverlässig zusammenhielt: Fügsamkeit. Akzeptanz. Es war alles einfacher, wenn man die Dinge so nahm, wie sie kamen -- das hatte er vorhin Tarón selbst erklärt. Vor allem, wenn es Leute betraf, die man mochte.
Und dazu gehörte auch-- "Ich wurde wohl eher dazu verleitet. Aber das muss natürlich keiner Wissen, wenn ich das nächste mal nach Referenzen gefragt werde." Er erwischte sich bei einem schiefen Lächeln. Da war er schon wieder. Tarón behielt recht. Ein neuer Beweis dafür, dass Rúnar sich ein Stück weiter zu dem hinbewegt hatte, was sich die Leute unter einem Piraten vorstellten. (Er traute sich nicht, sich zu Fragen, was passieren würde, wenn der Chaosfunke in ihm einmal für längere Zeit brennen würde als für eine Vogelklauaktion oder eine -- zwei -- Nummern am Strand auf einem Felsen.) "Du tust ja so, als sei es keine Leistung, sich den Titel 'Drachenfänger' zu verdienen", sagte er, wieder mit seinem subtilen, sarkastischen Unterton. Im vollen Bewusstsein, dass Tarón es ursprünglich selbst gewesen war, der ihm diesen Titel gegeben hatte.
Rúnar gab ein Nicken in Taróns Richtung: "Wie viel Knöpfe hast du? Das müssten bald alle sein, oder nicht?" Er hatte sechs Stück. So viel mehr könnten es nicht gewesen. Wiederum absurd. Rúnar hatte in seinem Leben auf hoher See, als Pirat, in jeglichen Liebschaften, mit vielem gerechnet, aber nicht damit, dass es einmal relevant wäre zu wissen, wie viel Knöpfe an seinem Hemd waren. Gewesen waren.
Verleitet – ja. Trevor also. Der Falke hatte sich das bereits gedacht. Und es sehr seltsamer Teil in ihm atmete bei dem Gedanken fast auf, dass er sich sein Bild von Rúnar als…nun „unschuldig“ war sicher das falsche Wort, aber eben als den vielleicht noch etwas naiven, lieben Burschen, der in seinem Groll nicht einfach vorschlug, eine alte, vielleicht gar nicht mehr zurechnungsfähige Frau zu bestehlen, die auch nur versuchte irgendwie über die Runden zu kommen. Und immer noch ging es weniger um die Aktion an sich, als um irgendetwas anderes (er hatte schon weit Schlimmeres getan, gebilligt und gehört. Die Frau war so gesund und munter wie vor dem Streich. Dem Vogel ging es nun deutlich besser), das Tarón weder benennen wollte noch wirklich konnte.
„Also, dass Trevor dich darauf gebracht hat, solltest du weglassen. Und immer dran denken: du musst die Geschichten schön dramatisieren! Es gab bestimmt ein Feuer irgendwo und die Alte war eine Hexe.“
Erneut lachte er leise und fischte noch einen weiteren Knopf aus dem Sand.
Da war wieder dieser Unterton…Tarón sah mit einem schiefen Lächeln auf.
„Oh, das war in der Tat eine Großleistung von dir.“ ein wenig neckend, auch wenn er Rúnar das Einfangen von Calwah durchaus dankte und es ihn ohne Frage beeindruckt hatte.
„Immerhin hat der Drache dich dabei fast gefressen! Das darfst du beim Erzählen auf keinen Fall vergessen!“
Den Blick schmunzelnd senkend entdeckte er noch zwei hell schimmernde runde Dinger im sand und fügte sie den anderen hinzu.
Moment mal…er stockte, betrachtete wie sich das Licht in einem der Knöpfe brach, der offenbar aus Perlmut zu bestehen schien. Seine Stirn legte sich in Falten.
Es müssten alle sein? Nein…das waren definitiv zu viele! Und sie waren nichtmal alle gleich.
„Ehm…Rúni… sag mal, dein Hemd… hat da schonmal irgendwer Knöpfe neu angenäht?“
Jemand, der kein Stück drauf geachtet hatte ob die auch zusammen passten…der eine da war viel größer als der Rest…
Amüsiert schüttelte Rúnar den Kopf, als Tarón ihm den Rat gab, alles ja schön zu dramatisieren. Sowohl über den Scherz als auch über sich selbst. Für einen Moment haderte er, ob er das nun laut sagen sollte, denn immerhin waren sie nun wieder auf Distanz, doch andererseits ... war es auch ziemlich egal -- und Tarón wäre ein ziemlicher Narr, wenn er bisher nicht mitbekommen hätte, was Rúnar ihm nun sagte: "Dramatisieren muss ich da noch nicht mal was, das macht mein Kopf schon von ganz allein -- und der Rest geht dann wie von selbst." Er schnaubte und es klang zynischer, als er gewollt hatte. Er versuchte, den Ton ein wenig zu retten, indem er hinzufügte: "Und ich kann mich zwar nicht mehr erinnern, was ich gedacht habe, als ich Calwah gefangen habe, aber es würde mich nicht wundern, wenn ich der Meinung gewesen bin, dass er mich fressen wird." Trotzdem hatte er in dem Moment seine Intuition walten lassen -- mit einem erfolgreichen Ergebnis. Das konnte man ihm sehr wohl zugute lassen kommen. (Das nächste Mal, dass er ohne große Vorgedanken seine Intuition hatte walten lassen, war vermutlich gewesen, als er sich dazu nicht-entschieden hatte, Tarón zu küssen, sondern es einfach getan hatte. Es war einfach passiert. Und jetzt waren sie hier, Rúnar -- für den anderen konnte er ja nicht sprechen -- mit diesem seltsam nachhängenden, wirren, undefinierbaren Gefühl und dem mehr oder weniger erfolgreichen Versuch, so zu tun, als wäre nichts passiert. Da lässt man einmal seine Gedankenbrühe außer acht und schon schüttet jemand einen Eimer Salz hinein. Nun ja. Er hatte sich eben noch gesagt, er würde das jetzt einfach so lassen und nicht groß weiter drüber nachdenken.)
Die Möglichkeit weiter in seine Gedanken zu kreiseln nahm Tarón ihm auch sogleich ab. Ob jemand schon mal Knöpfe neu an das Hemd genäht hatte. Rúnar legte fragend den Kopf schief. "Bestimmt." Sein Blick schweifte kurz ab, zur Seite, aufs Meer, in seine Erinnerung. Aber es kam nichts konkretes auf. "Ich hab das schon seit einiger Zeit, würde mich wundern, wenn nicht." Als Rúnars Blick zurückschweifte bemerkte er erst, wie Tarón auf die Knöpfe in seiner Hand sah. Rúnar tat es ihm nach. Führte seine Handfläche, in der er die Knöpfe hielt, etwas näher an sein Gesicht. War sich noch nicht komplett sicher, worauf Tarón hinaus wollte, aber irgendwas schaltete und er realisierte, dass einer der Knöpfe zwar auch weiß, aber grünlicher war als die anderen. Dass dieser grünliche Schimmer Algen waren. Weil dieser Knopf schon so lange hier herum lag.
Rúnar dachte gar nicht nach, es platzte nur ein, "Was zum--?!", aus ihm hinaus und die Knöpfe schleuderten in die Luft, als seine Hand sie so schnell wie möglich loswerden wollte und er verlor fast das Gleichgewicht, machte einen kleinen Ausfallschritt nach hinten, um nicht rücklinks in den Sand zu fallen.
Wie die Dinge von selbst liefen hatten sie ja gesehen…und zu welchem Drama dies geführt hatte. Weit mehr als Tarón lieb war… Ja – vielleicht kannte Rúnar sich auch ohne absichtliches Dazu erfinden damit schon genug aus. Doch Tarón überging diese Spitze, weigerte sich wieder in dieses Gedankenmeer hinabzusteigen und konzentrierte sich stattdessen auf den Rest.
„Soso – derart schreckhaft? Ich meine Calwah kann schon furchterregend und gefährlich sein – besonders für Waden und nackte Zehen.“
Wie schreckhaft Rúnar wohl offenbar tatsächlich war zeigte sich im nächsten Moment. Erst antwortete ihm der Blonde noch im ruhigen Ton und mit Worten, die es zumindest zur Möglichkeit gemacht hätten, dass doch alle Knöpfe an sein Hemd gehörten (und doch wusste Tarón dass dem nicht so war – diese Ungleichmäßigkeit wäre ihm aufgefallen…ziemlich sicher.), dann sah er sich die Knöpfe in seiner Hand genauer an. Tarón beobachtete ihn nichts Böses ahnend und plötzlich flogen die sorg und mühsam eingesammelten Kleinode in alle Richtungen davon, als Rúnar sie wie glühende Kohlen von sich schleuderte und dabei fast mit dem Arsch im Sand landete.
Also…DAS war definitiv dramatisch!
Einen Moment sah Tarón den anderen an – reine Verblüffung ob dieser Reaktion im Blick.
„Okay...ich hab gesagt du sollst dramatisieren, aber das habe ich an sich nicht gemeint…!“
Und er prustete los angesichts des verschreckten Gesichtsausdruckes und wie Rúnar da einer krummen Pappel gleich im Mondlicht stand.
Grinsend ging sein Blick zu dem dunklen Stein. Und nun konnte er nicht anders, als seiner Natur zu folgen und trotz des unsicheren Bodens seine Witze zu machen.
„Tja…scheint das hier ist nicht exklusiv „unser“ Felsen…entweder das oder hier treffen sich die Frauen zur Schneiderarbeit….“
Er wusste nicht welche Vorstellung er komischer fand also kicherte er schon wieder los. Und als er sich vorstellte wie hier eine Gruppe Frauen am Tag irgendwelche Knöpfe annähte und dabei dort rumhockte wo des Nächtens irgendwelche Leute übereinander herfielen verwandelte sich das Kichern in schallendes Gelächter. Rúnars Gesicht tat sein übriges.
„Götter du guckst so bescheuert...!“
Brachte er keuchend hervor.
Natürlich guckte Rúnar bescheuert, denn die Vorstellung wurde Wort um Wort aus Taróns Mund schlimmer. Dabei wusste Rúnar zunächst gar nicht warum er deshalb so entsetzt war -- vielleicht weil er dadurch gezwungen war, sich auszumalen, wie andere Leute es auf diesem Felsen getrieben hatten und in Erweiterung also, wie sie beide es ebenfalls auf diesem Felsen getrieben hatten und wie absurd das gewesen war und in den Augen der meisten äußerst skandalös. (Er blieb kurz dabei hängen, dass Tarón es "ihren" Felsen nannte.) Und er war auf eine Art und Weise großgezogen worden, die dazu geführt hatte, dass er skandalöse Dinge nunmal eben skandalös fand.
Doch es fiel ihm immer leichter, sich aus diesem erzwungenen, ihm seit Geburt an auferlegten Habitus herauszuwinden. Deshalb fing er zunächst an zu grinsen, schüttelte dann nochmals amüsiert den Kopf und begann schließlich ebenfalls zu lachen. Und stellte dabei fest, wie sehr Taróns Lachen ihm gefiel. (Und stellte ebenfalls fest, wie oft ihm dieser Gedanke in Zukunft wohl noch durch den Kopf gehen würde.)
Aber wenn Tarón austeilen konnte, dann konnte er wohl auch einstecken. "Ich war nur schockiert über die Vorstellung, dass es außer dir noch mehr solch brutale Menschen gibt, die ihren Liebhabern direkt wirklich die Kleidung vom Leib reißen." Er hob etwas suggestiv die Augenbrauen (bereute es sofort ein wenig) und wandte dann seinen Blick von Tarón ab und begann abzuzählen, wie viele Knopflöcher sein Hemd hatte, damit er am Ende mit mindestens der richtigen Anzahl an Knöpfen dastand und hoffentlich mit allen den korrekten darunter.
Was auch immer da grade hinter Rúnars Stirn vorging: es war zu komisch! Die Gesichtsentgleisung setzte sich noch einige wundervolle Sekunden fort in denen der Blonde sich wohl was-auch-immer ausmalte und Tarón vor Lachen fast wieherte.
Was da in seinem Kopf vorging konnte Tarón diesmal allerdings nicht wirklich erraten. Nachdem er selbst bisher eindeutig derjenige gewesen war, der sich hier den Kopf zerbrach und über das, was sie getan hatten entsetzt gewesen war, machte Rúnars Reaktion eigentlich keinen wirklichen Sinn, denn der schien die ganze Aktion eigentlich ganz…“normal“ zu finden. Zumindest kein Grund in Panik zu geraten und sich über die Maße zu schämen, wie der Falke es getan hatte.
Aber gerade dieses Absurde machte das Ganze so komisch…und es tat gut so zu lachen.
Gut genug, dass Rúnars nächste Worte ihn nicht so sehr aus dem Gleichgewicht brachten, wie es vielleicht ansonsten passiert wäre. Nach Luft schnappend wischte Tarón sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
„Ja…pass nur auf…das hier ist ein Sammelpunkt für Monster, die über unschuldige Damen und Knaben herfallen…“ konterte er daher fast schon automatisch und ohne sich in zu viele Hintergedanken zu verirren.
„Wahrscheinlich sind sie mit den ansässigen Schneiderinnen im Bunde…“ er gluckste schon wieder „Die nähen die Knöpfe dann wieder an...“ beim Versuch eine erneute Lachsalve zu unterdrücken verschluckte er sich fast. Rúnars Beschämtsein entging ihm unter seinem Anfall beinahe – jedoch nur beinahe. Aber wie zuvor beschloss er nicht auf diesen Kahn aufzuspringen. Das Ganze etwas ins Lächerliche zu ziehen war viel besser als die wahnsinnigen Gedanken zuvor. Und es war ja auch völlig absurd – dies alles hier. Und sollte ihm die Sache am Ende doch den Kopf kosten, nun, dann hatte er zumindest jetzt Spaß damit gehabt.
„Und…wie viele Knöpfe passen an dein Hemd? Sollten wir vielleicht ein paar zusätzliche annähen lassen? Nur für den Fall?“
Dass er das nun äußerte war definitiv alleine dem Umstand geschuldet, dass sein eigenes lachen so heftig in seinem Schädel widerzuhallen schien, dass Tarón für einen Moment nicht wirklich klar denken konnte.
Rúnar sah es Tarón nach, dass er sich über ihn lustig machte und ihn dazu noch vom Zählen ablenkte. Bestimmt war der Alkohol noch nicht aus seinem System -- aus ihrer beider Systeme -- und außerdem hatte jeder seine Bewältigungsstrategien. Wenn dies Taróns war, dann ... gut für ihn.
Rúnar grinste trotzdem, als er von vorn begann zu Zählen, konzentrierte sich stark auf die Knopflöcher, um nicht Tarón anzusehen, auf dass sein Herz nicht schneller schlagen würde, auch wenn der andere gerade für jeden Außenstehenden einfach nur seltsam wirken musste. (Aber Rúnar war nun schon so betört, dass Tarón nicht mehr neutral wahrnehmen konnte.)
"Acht Stück", sagte er. Und nun sah er doch wieder auf. Das Grinsen noch immer auf sein Gesicht gepflastert hallte in Rúnars Kopf nach, was Tarón gesagt hatte. Für den Fall. Für den Fall? Rúnar fürchtete, dass das Metronom wieder zu pendeln beginnen würde, also fiel ihm nichts besseres ein als dem Impuls nachzugehen, etwas Sand nach Tarón zu kicken. Ein Knopf flog mit. Für einen Moment -- das Grinsen jedoch wie festgewachsen noch immer auf dem Gesicht -- sprang in ihm ein Funke auf. Er dachte kurz es war der Chaosfunke, aber beim abebben des Impulses, wurde ihm klar, dass es ein Funke war der sagt: 'O-oh. Vielleicht hast du es diesmal mit den Scherzen übertrieben.'
Langsam bekam er sich wieder unter Kontrolle. Das Lachen ebbte schließlich ab und hinterließ ein seltsames fast flaues Gefühl in seinem Magen. Vielleicht war es ganz gut, dass Rúnar ihn sehr deutlich absichtlich nicht ansah – er fühlte sich ein wenig wie ein Irrer, der grade wieder zu Sinnen kam. Andererseits – Rúnars Gesicht war komisch gewesen! Was sollte er da tun? Und das Alles hier war so absurd, dass er sich diesen Anfall auch verzeihen durfte.
„Acht.“ Echoete er. Und wich dann mit einem belustigten Schnauben dem Sand aus, den Rúnar nach ihm kickte. Der Knopf traf ihn dennoch auf Höhe des Schienenbeines. Tarón fischte ihn auf. Überging dabei nach wie vor jedwede Möglichkeit, dass die Situation wieder in eine andere Richtung kippen könnte. Wenn man es nicht beachtete verhungerte dieses Monster vielleicht von ganz alleine?
„Nun…ich habe alleine schon sechs – welche sollen es sein, die aus Perlmut, die großen irgendwie kantigen…oh hier ist einer der leicht bläulich ist…vielleicht…bei dem Licht schwer zu sagen.“
'Ich will meine eigenen Knöpfe haben', schoss es Rúnar durch den Kopf und er fühlte sich sofort wie ein kleines, trotziges Kind.
Am Ende war es doch egal. Seine Kleidung würde immer mehr verschleißen, je länger er mit der Sphinx fahren würde. Er -- oder besser gesagt Tarón -- hatte nur den Prozess etwas beschleunigt. Außerdem konnte er sich einfach neue Kleidung kaufen, wenn er genug Geld zusammen hatte. Aber da war eben noch immer etwas in ihm, das nicht ganz von seinem alten Leben loslassen konnte. Und bald war davon nichts mehr übrig, bis auf seine Kleidung.
Rúnar hob noch zwei Knöpfe aus dem Sand auf. Einer davon war ziemlich sicher seiner, der andere hatte ebenfalls einen Perlmuttschimmer. "Solange sie alle halbwegs ähnlich aussehen bin ich zufrieden", sagte er. Dann klaubte er jedoch kurzerhand noch zwei deutlich sichtbare auf, ohne darauf zu achten, was es genau für welche waren. "Allerdings könnten wir aus Prinzip alle mitnehmen, falls irgendwer doch mal Ersatz braucht." Wie sich das nun schon wieder anhörte. "Aus der Crew."
Tarón drehte einen der Knöpfe dicht vor seinen Augen hin und her, die er dabei im versuch irgendetwas sinngebendes zu erkennen zusammenkniff. Das Licht war einfach zu schlecht um wirklich etwas genauses auszumachen und schließlich gab er es mit einem leisen seufzen auf und schob die Knöpfe – alle – in seine Tasche.
„Hm…vielleicht sind ein paar von denen sogar etwas wert. Also nehmen wir sie natürlich mit. Man kann nie zu viele Knöpfe haben – das hat zumindest meine Tante immer gesagt.“
Und deshalb fischte er noch zwei weitere auf, die seine Augen im Sand ausmachen konnten – einer entpuppte sich allerdings als ein Stück zerbrochener Muschel.
„Na wenn wir nun genug haben…lass uns gehen. Die Nacht wird nicht jünger und ich ahne jetzt schon, dass mein Kopf sie sehr bereuen wird, wenn die Sonne aufgeht… Gucken wir also, wo sich die hoch ehrenwerten Damen so tummeln…hm?“
Vielleicht konnte eine davon massieren. Das wäre nicht schlecht – er bezweifelte nämlich, dass er zu dem wozu er sie eigentlich buchen würde noch groß in der Lage wäre.
Seine Tante, hm. Rúnar hätte Tarón gerne mehr darüber gefragt. Für einen Moment spürte er den kleinen Funken der zuvor etwas Vertrauen zwischen ihnen hatte aufflammen lassen. Das und mehr. Und jetzt--
Nun ja ...
Rúnar nickte und gab dem anderen ein schiefes Lächeln, aber es war kein echtes. Wo sich die Damen tummelten ... Nein, an diesen Ort in seinen Gedanken würde er sich jetzt nicht schon wieder begeben. Warum Tarón--
Nein, eigentlich wusste Rúnar, warum Tarón so geheimnistuerisch war, dass er sogar mit einem derartigen Alibi sicher gehen wollte. Er wusste es nicht nur, er konnte es auch nachvollziehen. Und das war fast noch schlimmer--
Nicht! Er würde nicht weiter darüber nachdenken. Einatmen. Ausatmen.
"Weißt du, wo wir hin müssen?", fragte Rúnar, als sie gingen. Er steckte seine Hände in seine Manteltasche und hielt sie etwas vor sich, sodass die Front des Mantels zumindest ein klein wenig Schutz bort vor neugierigen Augen, die sein zerstörtes Hemd beäugten -- aus welchem Grund auch immer. Es gehörte sich einfach nicht mit einem solch zerrissenen Hemd draußen herumzulaufen.