25.11.2022, 21:39
Oh, er erahnte durchaus, um welchen Gegenstand es sich hier handelte. Einen Degen, wenn er sich nicht vollkommen täuschte. Das, oder ein Gehstock mit merkwürdig geformtem Griff und Parierstange. Doch seine Frage zielte auch überhaupt nicht auf das Ding, das unter dem Tuch verborgen war, sondern vielmehr auf... das, was Shanaya damit bezweckte. Ein Geschenk.
In seinen Gedanken purzelten die zahllosen kleinen Hinweise durcheinander, die sie ihm von ihrem Beinahe-Zusammenstoß oben an Deck bis hier hinunter gegeben hatte. Ihre freudige Aufregung, die Vorfreude, die Erwartung. Die Sanftheit in ihrem Blick, die kleinen Scherze, die darauf abzielten, nicht ernst genommen zu werden. Die Bitte, er möge die Augen schließen und die Worte, mit denen sie ihm schließlich erlaubt hatte, sie wieder zu öffnen. ‚Ich wollte mich nur für die... vielen Male bedanken, in denen du mir geholfen hast...‘ Und endlich schien sein Verstand zu begreifen. Ein Geschenk. Ein Geschenk... für ihn?
Lucien hob den Blick, sah der Schwarzhaarigen unsicher ins Gesicht und fühlte sich mit einem Mal wie der kleine Junge, der er vor endlos langer Zeit gewesen war. Dieses Kind, das tatsächlich nie mit einer solchen Geste bedacht worden war – außer von Talin. Und Talin war etwas anderes. Talins Liebe war vielleicht nicht selbstverständlich, aber zumindest schon immer da gewesen. Er kannte solche Gesten ihrer Zuneigung. Doch eben nur von ihr – nie von einem anderen.
„Ich...“
Er wusste nicht, was er sagen sollte, wagte stattdessen nur, zögerlich die Hände auszustrecken und ihr den langen, schmalen Gegenstand abzunehmen. Ganz langsam, als glaubte ein Teil von ihm daran, dass es doch nur ein blöder Scherz war und sie im nächsten Moment in schallendes Gelächter ausbrach. Und auch, als eben das nicht geschah, stand er einen Augenblick lang nur stumm da, starrte auf den Gegenstand in seinen Händen hinab, bevor er zögernd begann, das Tuch abzuwickeln.
Die Waffe, die zum Vorschein kam, war mit nichts zu vergleichen, das er je gesehen hatte. Die Klinge war lang, glänzte im schwachen Licht der Laternen wie silbriges Mondlicht. Das vergoldete Heft endete in einem Drachenkopf, der als Knauf diente. Jede einzelne Schuppe fein herausgearbeitet.
Lucien stieß unwillkürlich die Luft aus.
„Ich...“, setzte er noch einmal leise an, ohne wirklich darüber nachzudenken, was er sagte. „... glaube nicht, dass ich so etwas verdient habe...“