17.08.2022, 23:14
Mit verschränkten Armen stand Jón unten vor dem Mast und beobachtete die beiden Männer, wie sie nach oben kletterten. Mit einem Ohr auf die Umgebung -- doch die Vögel schienen nichts von ihnen da unten zu wollen. Im Moment.
Es war seltsam und Jón fiel es schwer zu deuten, warum Rúnar sich das freiwillig ... antat. Er hatte die Angst in Rúnars Gesicht so deutlich gesehen, als hätte er sie sich mit einem Kohlestift aufgemalt. Es passte nicht. Dissonanz Nummer eins. Rúnar war nicht ängstlich. Er hatte einen Hang dazu, aber nicht so. Natürlich hatte er hier und da Angst vor etwas. So wie jeder normale Mensch. Aber die Angst war wie ein Gast. Sie kam, begleitete einen für einen Moment, dann ging sie wieder. Sie war ein frequentierter Gast Rúnars, so war es nun nicht. Aber jetzt -- das war anders. Es war, als schien sie permanent in ihm zu leben, als zehrte sie von ihm. Immerzu. Als wäre sie es, die durch sein Gesicht nach außen starrte. Dann kletterte er trotzdem freiwillig da hoch, war bereit sein Leben zu riskieren,* obwohl alles in ihm sich sträuben musste. Dissonanz Nummer zwei.
*Jón würde einen Teufel tun zuzulassen, dass er Angst um Rúnar hatte. Anders als dieser war er nämlich bestens bewandt damit, seine Ängste und auch jegliche andere Gefühle zu unterdrücken.
Er schüttelte den Kopf, als er die beiden weiter beobachtete. "Wer bist du und was hast du mit Rúnar gemacht?" murmelte er vor sich hin.
Jón blinzelte als ein Schatten kurz seinen Blick verdunkelte -- und dann gleißend erhellte.
Ein frustriertes Kreischen.
Ein lautes Flattern.
Triumphierende Rufe von oben aus dem Krähennest. Jón lächelte.
Nichts -- für ein paar Momente.
Jón sah zu den anderen die um ihn standen. Dieser Tarón. Diese dunkelhaarige Frau, bei der er sich sicher war, dass er sie irgendwo her kannte und die gerade nach oben fragte, ob alles in Ordnung war. Ein paar andere Leute, die er wohl bald kennenlernen würde.
Die Dunkelhaarige riss die Augen auf. Sie ... sah aus wie diese eine von der Marine, mit der Jón mal--
Sie schrie auf und stieß Tarón aus dem Weg und Jóns Körper setzte für einen Moment alle Funktionen aus, als nur ein paar Armlängen von ihm -- da wo Tarón gestanden war -- etwas ins Deck krachte, dass die Holzsplitter flogen. Jón hob sich kurz reflexartig die Arme über den Kopf, ließ sie dann wieder sinken.
Jetzt konnte er nicht mehr leugnen, dass sein Herz pochte; dass er sich fragte, ob es Rúnar gut ging. Er sah nach oben. Wurde sofort entspannter als Rúnars Stimme von oben herunter verkündete, dass es dem anderen Mann wohl nicht besonders gut ergangen war. Tarón rief um Auskunft, gerade als Jón ebenfalls nachfragen wollte. Ein Kerl mit dunklen Locken stieß zu ihnen, erkundigte sich ebenfalls.
Jón gab Letzterem ein Nicken. "Ist genug Seil da, dass Rúnar den da runter bekommt, ohne ihn sich umhängen zu müssen?" Er gestikulierte kurz als würde er langsam ein Seil durch seine Hände gleiten lassen. "Alles andere ist wahrscheinlich nur maximal gefährlich für beide."