03.07.2022, 22:47
Er warf den Blick herum, weil er sich einbildete, hinter sich etwas gehört zu haben. Aber da war nichts außer der leergefegten, dunklen Gasse, die er hinuntergekommen war.
Der Verlust eines Sinnes (oder eines halben Sinnes, in seinem Fall) zwang einen früher oder später dazu zu improvisieren, zu kompensieren, um sich die dadurch entstandenen Nachteile nicht selbst zum Verhängnis werden zu lassen. Mit nur einem verlässlichen Auge hatte Per gelernt, sich umso stärker auf sein Gehör zu verlassen. Bedeutete, wenn er schon nicht sehen konnte, was sich in seinem linken Augenwinkel abspielte, so konnte er zumindest in die Richtung lauschen. Mit der Zeit hatte er sein Gehör – genauer gesagt die Fähigkeit überhaupt zu hören – nicht mehr als etwas selbstverständliches betrachtet, hatte gelernt bewusster hinzuhören (was ihn aber nicht unbedingt zu einem besseren Zuhörer gemacht hatte). Aber scheinbar musste man erst etwas verlieren, einen Verlust einstecken, um sich den tatsächlichen Wert eines Gegenstandes oder einer Fähigkeit bewusst zu werden.
Er drehte sich wieder zurück, um seinen Weg fortzusetzen, ohne richtiges Ziel, wohin er eigentlich wollte. Sich ein bisschen die Beine vertreten, ein bisschen zur Ruhe kommen nach dem heutigen Tag (und gestrigen Abend), ein bisschen Menschenleere, abgesehen von dem ein oder anderen, wahlweise betrunkenen, Nachtschwärmer. Er schätze die leeren Straßen nachts, dann, wenn der Großteil der Bevölkerung sich längst in ihre vier oder mehr Wände verkrochen hatte, entweder schon unter der Decke schlummerte oder noch bei Kerzenschein am Tisch saß und … was auch immer trieb. Kümmerte ihn ohnehin nicht.
Als ein weiteres Mal neben ihm raschelte und er den Kopf drehte, konnte er im fahlen Mondlicht die Umrisse einer Ratte (obwohl er es nicht direkt als Ratte identifizieren konnte bei diesen Lichtverhältnissen) erkennen und folgte dem Tier bis es irgendwo in einer Häuserritze verschwand. Per schmunzelte, ließ bloß die Schultern zucken, wollte sich gerade wieder wegdrehen, seinen Weg fortsetzen – als etwas, das sich zweifellos größer anhörte als eine Ratte, hinter ihm auf dem Boden aufkam.
Die Hand auf eines der Wurfmesser gelegt, wand er sich um, bemerkte erst auf den zweiten Blick die sich aufrappelnde Gestalt, die keinerlei Interesse daran zu haben schien, ihm in irgendeiner Weise gefährlich zu werden oder zu nahe zu kommen. Aber schließlich konnte man nie wissen.
Er näherte sich der Gestalt, folgte ihr ein kleines Stück und streckte, sobald er nah genug war, die Hand aus, um nach ihrem Arm zu greifen und sie zu einem vermutlich ungeplanten Halt zu zwingen.
„Netter Versuch. Wolltest du dich anschleichen und mir das Geld hinterrücks aus der Ta—?“
Erst dann realisierte er, wen er da eigentlich vor sich hatte und dass das, was er ihr mehr oder weniger unterstellt hatte, eher unwahrscheinlich war. Ihr Name lag ihm auf der Zunge, irgendwo relativ weit hinten. Er lockerte den Griff um ihren Arm, ohne ihn aber ganz auszulassen.
„Oh. Naja, ich nehm’ mal stark an, dass das nicht dein Plan war. Außer ihr habt irgendeine Art seltsames Aufnahmeritual, um, naja, Leute auf die Probe zu stellen.“ Nach allem was innerhalb der letzten zwei Wochen passiert war, hätte ihn das auch nicht mehr überrascht.