03.07.2022, 22:29
Er nickte langsam und freute sich insgeheim auf den Moment, in dem Soula das erste Mal ein magisches Artefakt in den Händen hielt. Eine Karte, die ihr Geheimnis nicht offenbaren wollte und ihm kam zwangsläufig das Stück Pergament in den Sinn, das – laut Liam – den Norden in sich gefangen hielt. Vielleicht würde er ihre Welt eines Tages mit derlei Dingen auf den Kopf stellen. Wenn er nicht vergaß, sich diesen Spaß zu erlauben. Für den Moment jedenfalls ließ er das Thema ruhen, schwieg und genoss ihre Sicherheit darin, dass so etwas nicht existierte. Jetzt konnte er erst einmal die Hoffnung zerstören, dass sie auch in Zukunft mit reiner Haut und blühendem Leben gesegnet sein würde.
„Leider nein. Und da ist das Risiko des Piratenlebens noch gar nicht so sehr mit einberechnet.“
Im Holzbein vielleicht, aber das konnte auch Konsequenz eines dummen Unfalls sein, bei dem sich die Wunde an See entzündete. Niemand hatte je behauptet, dass das Leben auf See ein Zuckerschlecken sein würde. Diesbezüglich klang die Jüngere aber auch nicht sonderlich desillusioniert. Es schien ein Risiko zu sein, mit dem sie sich bereits angefreundet hatte. Viel verstimmter klang sie beim Thema James, was ihn wiederum amüsiert zum Schmunzeln brachte. Vermutlich nur, weil James wirklich nicht mehr da war – woran Alex nämlich so viel Freude empfand, war nicht die Tatsache, dass er Soula auf unangenehme Art bedrängt hatte – im Gegenteil. Es war viel mehr Schadenfreude. Schadenfreude über all die Konsequenzen, die ihm sein unüberlegtes Handeln eingebracht hatte. Und in Zukunft eingebracht hätte. Entgegen aller Erwartungen und seinem allgemeinen Auftreten kannte er nämlich durchaus Grenzen. Grenzen, die sein jüngeres Ich aus eigenen Erfahrungen gezogen hatte und die er nicht jedem auf die Nase band.
„Guter Versuch.“ Soula galt ein anerkennendes Schmunzeln für ihren Konter. Fast hätte es ihn vielleicht wirklich getroffen, doch Alex besaß genug Selbstbewusstsein, um sich nicht viel aus ihrer Fehleinschätzung zu machen. Vierzig – dafür war seine Haut vermutlich noch lange nicht gegerbt genug. Und seine Augen hatten bei weitem noch nicht so viel gesehen, wie er es sich in diesem Alter wünschte. „Wäre ich vierzig, würdest du hier vermutlich wirklich mit einem meiner Kinder stehen statt mit mir. Und vermutlich wäre es knapp so alt wie ich jetzt.“
Alex runzelte die Stirn bei diesem Gedanken. Die Rechnung schien ihn selbst zu überraschen und ihn irgendwie ein bisschen zu beunruhigen. Bevor sie darüber allerdings weiter philosophieren konnten, mischte sich der Gelehrte ein und Soula schob ihn unsanft weiter, bevor er ihn hatte um Hilfe bitten können. Alex konfrontierte sie sogleich mit seinem Unverständnis. Soula wandte sich um, kaum dass sie – vermeintlich – aus der Hörweite des Gelehrten waren. Er erwiderte ihren Blick mit zusammengezogenen Augenbrauen. Er hatte nie behauptet, dass er ihn direkt danach gefragt hätte – schwieg jedoch, weil er es auch nicht sicher ausschließen konnte. Statt zu widersprechen, lauschte er Soulas Erklärung, tat es ihr gleich und senkte den Kopf ein Stück zu ihr hinab, während sie immer leiser wurde. Ihr Gesicht war seinem inzwischen so nah, dass James vermutlich vor Neid erblasst wäre. Vermutlich, um sicherzugehen, dass sie niemand belauschte. Er fand es ein bisschen übertrieben. Zum einen, weil er nicht davon ausging, dass sich irgendwer für ihre dämlichen Belange interessierte. Zum anderen, weil die Wachen sicherlich besseres zu tun hatten, als Leute aus der Bibliothek zu werfen, die sich für… Bücher interessierten. Was sie aber anscheinend brauchten, war Geschick. Nun lag es an ihm, Soula abwartend entgegenzublinzeln. Seine Augen umrandeten kurz ihr Gesicht, bis er ihr wieder in die Augen sah, ein flüchtiges Zucken voller Neugier in den Mundwinkeln, als er seine Entscheidung traf.
„Dann zeig mir mal dein… Geschick.“
Sie klang, als hätte sie einen Plan und Alex war ehrlich interessiert an dem, was ihr einfiel. Viel erwartete er nicht. In diesem Moment allerdings nicht, weil es Soula war, die vor ihm stand, sondern weil er schlicht nicht wusste, was er erwarten sollte. Er gab ihr eine Chance, sich zu beweisen und seine ach so unpassenden Vorurteile zu revidieren, wenn sie konnte. In seine Züge mischte sich ein Hauch von Herausforderung, während sich von seinen Mundwinkeln aus wieder ein Grinsen über seine Lippen legte.
Er hauchte ihr ein „Also, was tun wir, Captain?“ entgegen, ehe er den Kopf langsam zurückzog und dem Gelehrten einen weiteren Blick zuwarf. Soula hingegen wandte sich in diesem Moment dem ersten Regalen zu und Alex tat es ihr schließlich auf der anderen Seite der Regalreihe gleich. Sein Blick huschte über einen Buchrücken nach dem anderen, doch mehr als undeutbare Zeichen wollten sie ihm nicht verraten. Missmutig runzelte er die Stirn und schluckte trocken. Jetzt begann also der Teil, der ihn am meisten fordern würde. Er hatte nämlich keine Ahnung, was ihnen diese Bücher hier verraten konnten. Er musste hoffen, dass Soula ihm genug Hinweise gab, dass er richtig raten konnte. Oder sich talentiert zurückhalten. Etwas, in dem er gewiss nicht sonderlich gut war.