01.07.2022, 23:00
Shanaya ahnte, was sie Liam offenbarte, welche Seite von ihr sie ihm zeigte. Aber sie verbot sich dazu jeden bewussten Gedanken, um nicht die Mauer sofort wieder hoch zu ziehen, abzublocken. Vielleicht wusste er einen Weg aus diesem Dickicht. Trotz dessen, dass sie mit ihren eigenen Worten nichts anzufangen wusste, sich selbst nur noch mehr verwirrte. Aber etwas anderes hatte sie nicht zu sagen gewusst, der Strudel aus Verwirrung, Überforderung und all diesen Empfindungen in ihrem Inneren verschluckte so viel, gab nichts davon wieder Preis. Etwas, was sie von sich selbst nicht kannte, mit dem sie nicht zurecht kam. Und trotzdem war irgendwie in diesem Wirrwarr auch dieses sanfte, warme, lockende Gefühl. Eines, das größer als der Rest zu sein schien – wenn es denn seine volle Größe erreicht hatte.
Einen Moment kniff Shanaya die blauen Augen zusammen, schüttelte kurz und kaum merklich den Kopf, ehe sie den Blick wieder zu Liam hob, der sie musterte, lächelte. Seine Nachfrage entlockte der jungen Frau ein leises Brummen – sie wusste nicht ganz so recht, was er gemeint hatte. Aber er blieb ihr keine Antwort schuldig – und das, was er sagte, traf sie schwer. Wie ein Amboss, den man ihr entgegen warf, bei dem sie keinerlei Chance hatte, ihn zu fangen. Er warf sie von den Füßen, drückte sie zu Boden und ließ keinen Raum zum Entkommen. Darüber, dass sie glücklich war. Das war sie, sie hatte ihre Freiheit, das Leben, das sie immer gewollt hatte. Sie verbrachte die meiste Zeit am Steuer, den Wind in den schwarzen Haaren, einen Horizont, der von nichts außer Wasser gesäumt war.
Und Lucien machte sie glücklich?
Liam setzte sich wieder in Bewegung, Shanaya folgte ihm, ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein. Ihr Blick hing an keinem festen Punkt, war nur ruhig nach vorn gewandt.
„Ja… ja, vielleicht tut er das.“
Auf ihren Lippen lag nun ein Lächeln voller Wärme, die sich auch in ihren Augen wieder spiegelte. Ihre Stimme war kein Flüstern, aber leiser als sonst, ruhiger. Als wäre das etwas, was sie zum ersten Mal realisierte. Denn darüber hatte sich die Schwarzhaarige bisher keinerlei Gedanken gemacht. Und dabei begann in ihrem Inneren etwas zu bröckeln, dass sie in letzter Zeit so mühsam aufgebaut hatte – hinter dem sich jedoch eine Angst versteckte, die unzertrennlich damit gekoppelt war. Trotzdem ebbte ihr Lächeln nicht ab, verlor nicht an Wärme, auch wenn sie nicht zu Liam zurück blickte.