01.07.2022, 10:24
„Vielleicht kommt dir ja auch kurz vorher Dampf aus den Ohren, damit man sich in Sicherheit bringen kann.“, mutmaßte er und deutete mit seiner Hand Rauchschwaden an, die ihm – oder dann viel eher ihr – aus dem Kopf stiegen.
Shanaya jedenfalls machte sich recht schnell daran, die Grenzen dessen, was an Ego in ihre zierliche Gestalt passte, auszutesten. Liam schmunzelte gut gelaunt und wog, begleitet von einem Seufzen, mitfühlend den Kopf. Gerade in den Kreisen, in denen sie verkehrte, waren Männer nicht unbedingt wählerisch. Die lange Zeit auf See, die man sich völlig selbst überlassen war, stieg vielen zu Kopf und führte dann an Land nicht selten zu Selbstüberschätzung und übergriffigem Verhalten. Dass Shanaya weit außerhalb der Liga dieser Gestalten spielte, war ihm vielleicht bewusst – den besagten Kreaturen allerdings nicht. Und viele von ihnen waren gewohnt, sich einfach das zu nehmen, was sie wollten. Er hoffte für die Schwarzhaarige, dass ihr derlei Erfahrungen vorerst erspart blieben.
„Tja.“, fügte er gedehnt an und schloss das Thema mit einem kurzen Kommentar. „So tragen wir wohl alle unsere Bürden.“
Die Seite, die sie darauf von sich zeigte, war wie die andere Seite einer Medaille. Eine Seite, die nicht viele von ihr zu sehen bekamen. Liam vermutete, dass sie deshalb aber auch meistens gut darum herumkam, sich selbst einige Dinge einzugestehen, die sie nicht wahrhaben wollte. Weil sich niemand traute, nachzufragen. Oder letztlich, weil es niemanden sonst interessierte. So sehr, wie sie die anderen Crewmitglieder auf Abstand hielt, hätte ihn das nicht einmal gewundert. Er war zwar auch nicht die Art Mensch, die die Leute dazu zwang, sich ihnen zu öffnen, aber er wollte seine Bereitschaft deutlich machen, ihr zuzuhören. Woher sollte sie wissen, dass man mit anderen über solche Dinge reden konnte, wenn es ihr bislang niemand angeboten hatte? Sein Mundwinkel zuckte amüsiert, als sie untalentiert auszuweichen versuchte, fing ihren Blick kurz auf und spähte dann wieder geradeaus, während er überlegte, wie er zwar behutsam, aber eindringlich genug formulierte, worum es ihm ging.
„Richtig. Ist doch nichts bei.“ , wiederholte Liam mit einem warmen Lächeln, als würden sie über etwas absolut Banales reden. Taten sie im Grunde ja auch, solange Shanaya nicht weiterhin versuchte, in sich hereinzufressen, was sie nicht über die Lippen bekam. Er biss sich kurz auf die Unterlippe, überlegte und blieb dann kurzerhand stehen. „Lass es mich so formulieren: An Deck fällst du Lucien um den Hals, als wäre nichts bei und jetzt stehst du wieder neben mir und wirkst wie ein kleines Mädchen, das versucht, davon abzulenken, dass es alle Süßigkeiten alleine verputzt hat. Ziemlich schlecht im Übrigen.“
Er konnte nicht anders, als sie mit dem letzten Satz ein bisschen aufzuziehen. Weil er hoffte, dass sie merkte, dass er das Thema nicht mit weniger Witz behandelte als die übrigen Themen, die sie so hatten.
„Als würdest du nicht wollen, dass ich mich mit dir freue.“
Der Vorwurf in seiner Stimme glich dem, den sie mit ihrem gebrochenen Herzen an ihn herangetragen hatte, als sie gehört haben wollte, dass sie stank.