28.06.2022, 20:19
Na, dass er ständig auf die Nase bekam, war nun aber doch übertrieben. In den meisten Fällen kam er eigentlich ganz gut davon. Abgesehen von der Kugel in seiner Schulter jedenfalls, deren hinterlassene Narbe er auf ewig als Andenken an die Kopfgeldjäger mit sich herumtragen durfte. Eine der Erinnerungen, auf die selbst er lieber hätte verzichten können, aber geschehen war geschehen und das – sowohl psychische als auch physische Hinterlassenschaften – nun ein Teil von ihm. Der Blick, der Rayon auf seinen Vorwurf hin galt, hatte jedenfalls etwas von einem Kind, das versuchte, eine Tatsache herunterzuspielen. Wenn man ihn fragte, geriet er wirklich nicht häufig in derlei Dinge. Leider war Liam aber auch einer der Menschen, der die Realität gerne etwas verzerrte, damit sie besser in sein recht optimistisches Weltbild passte. Er nahm es dem Dunkelhäutigen jedenfalls nicht übel, sprach dann aber doch lieber über ihr Schicksal gefesselt am Hauptmast als seine Strapazen in den zwielichtigeren Gegenden der Inseln, die sie ansteuerten.
„Ah – wo du’s gerade sagst.“ begann er dann und deutete dem Größeren lässig mit einem Finger auf die Brust. „Dich können sie sowieso nicht an den Mast binden, weil sich sonst niemand traut, Shanaya zu füttern. Damit würden sie sich also nur selbst ins Bein schießen.“
Vermutlich lag mehr Wahrheit in seiner scherzhaften Aussage, als der Crew der Sphinx lieb war. Aber somit lief wenigstens auch Liam nicht Gefahr, dass man ihn am Mast vergaß und er einen langsamen, quälenden Hungertod erleiden würde. Wenigstens Shanaya würde sich wohl nebst dem Schiffskoch um sein leibliches Wohl kümmern. Sonst gingen ihr nach und nach nämlich die Gesellschaftsoptionen aus, mit denen sie sich zumindest etwas die Zeit vertreiben konnte. Seine Gedanken endeten an dieser Stelle nicht, doch er zwang sich mit einem tiefen Atemzug dazu, nicht weiter darüber nachzudenken und der Silhouette vor seinem inneren Auge kein Gesicht zu geben. Zurück blieb nur ein unangenehm schweres Gefühl in seiner Magengegend, das er geflissentlich ignorieren wollte. Er grinste Rayon freundschaftlich entgegen und klopfte ihm dann einmal auf die Schulter.
„Na dann. Lass uns aufbrechen. Ich würde nur noch eben mein Buch nach oben bringen.“ Liam zog die Beine an und ächzte kurz, während er sich schwerfällig an die Wand drückte, um möglichst ohne Schmerzen wieder auf die Beine zu kommen. Viel helfen konnte ihm der Hüne nicht. Er musste selbst noch ausloten, welche Bewegungen gingen und welche nicht. „Gib‘ mir nur zwei Minuten zum Aufstehen. Und die gute Gesellschaft finden wir ja vielleicht noch unterwegs.“ Er zwinkerte kurz und nutzte die Zeit dann kurzerhand, um Rayon weiter in seinen Plan einzuweihen. „Ich wollte gerade sagen, das könnte passieren, aber nachdem allein das Auf-Die-Beine-Kommen eine ziemliche Herausforderung darstellt, verschieb‘ ich wohl jedwede Kämpfe um einen Tag nach hinten.“ Oder um Zehn. „Ich bin ehrlich zu dir. Ich habe eher Angst, dass er in irgendeiner Gasse vor sich hin krepiert. Ich weiß nicht, in welcher Verfassung er davongekommen ist. Aber er wirkte auf mich mehr wie ein Schausteller als ein Kämpfer. Er hatte dem Typen noch weniger entgegenzubringen als ich.“
Dieses Mal war er es, der untertrieb, aber als Kämpfer sah sich Liam beim besten Willen nicht. Ein paar Kniffe hatte er aber eben doch, die ihm in solchen Situationen immer wieder aus der Patsche halfen. Gestern allerdings war das weniger seine eigene Intuition gewesen als viel mehr Alex, Lucs und Skadis Hilfe. Als er es endlich auf die Beine geschafft hatte, wies er mit dem Kopf in die Richtung der Tür, die zurück ins Bordell führte.
„Willst du noch mit hoch kommen? Oder treffen wir uns vor dem Eingang?“