28.06.2022, 16:11
Die wenigsten auf der Sphinx schienen eine Vergangenheit zu haben, über die sie gerne sprachen. Liam hatte recht früh aufgehört, zu fragen. Ganz gleich, wie gut oder schlecht er mit seinem Gegenüber auskam. Manchmal ergaben sich die Dinge dann von alleine, so wie es gerade der Fall war. Warum Trevor trotz seiner Wissbegier nie danach gefragt hatte, was hinter ihm lag, konnte der Lockenkopf nur raten. Vielleicht, weil er es ähnlich handhabte wie er selbst. Vielleicht aber auch einfach, weil er mit sich und seiner eigenen kleinen Welt viel zu sehr beschäftigt war, als dass da Platz für die Welten anderer gewesen wäre. Jetzt gerade allerdings überschnitten sich ihre Welten. Das schien Grund genug dafür zu sein, dass die Fragen jetzt förmlich aus dem Jüngeren heraussprudelten, während er ihm im Gegenzug genauso Frage und Antwort stand. Liam nahm diesen Umstand positiv zur Kenntnis. Er kam zwar damit klar, nicht viel über die zu wissen, mit denen er sich umgab – Wohl fühlte er sich dabei allerdings nur selten. Und diese kleinen zwischenmenschlichen Geschichten waren es, die ihn immer wieder daran erinnerten, dass der Begriff ‚Piraten‘ ziemlich weit dehnbar war. Oder er einfach nur pures Glück gehabt hatte, an jenem Abend Talin und den anderen über den Weg gelaufen zu sein. Trevors Geschichte über das Schiff mit den weißen Bären klang zwar ziemlich fantastisch, doch Liam lächelte neugierig beim Zuhören. Wer wusste schon, was wirklich dran war und was lediglich dem wirren Kopf des Braunhaarigen entsprang – er kannte die übrigen Welten nicht, war sich aber ziemlich sicher, dass da mehr war als das, was sie aus der ersten Welt kannten. Und wenn seine Eltern wirklich im Auftrag der Tarlenn unterwegs waren, hatten sie so viel mehr Möglichkeiten, als Liam je gehabt hatte. Oder als die Sphinx gerade hatte.
„Für die Tarlenn kommt man also ziemlich rum, hm?“, spielte er nicht nur auf das an, was Aranne scheinbar schon gesehen hatte, sondern auch darauf, dass Trevor vermutlich bereits mehr von der zweiten Welt gesehen hatte als jeder andere von ihnen auf der Sphinx. „Und trotzdem seid ihr übergewechselt?“
Es lag keine Wertung in seiner Stimme, doch einen nachdenklichen Unterton konnte er sich nicht verkneifen. Die Tarlenn hatten höchst wahrscheinlich auch weniger Ärger mit dem, was ihnen derzeit hinterherjagte. Ein namenloses Schiff, rote Segel – es gab keinen Grund, weshalb man nicht Jagd auf sie machen sollte. Immerhin wirkten sie wie leichte Beute. Sonst hätten sie sich ja viel früher einen ruhmreichen Namen gemacht.
„Ich hab‘ welche da, ja. Und in manchen sind auch Bilder.“, lächelte er dann auf Trevors Fragen hin.
Ein Teil davon waren Kinderbücher, Bilderbücher, mit denen sicherlich auch Trevor etwas anfangen konnte. Einfach, wenn man gerade erst anfing, zu lesen. Liam hatte kein Problem damit, zu teilen, was er hatte.
„Wir sind im Grunde immer dem Zufall hinterher. Mal sind wir mit Händlern gesegelt, mal mit Schatzsuchern, mal mit Überseefischern oder Gelehrten. Ich weiß nicht, wonach mein Vater unsere Mitfahrgelegenheiten ausgesucht hat. Später jedenfalls sind wir einfach unseren Herzen gefolgt und haben eben das erstbeste Schiff genommen, dass in die Richtung unseres Ziels fuhr. Und von den Erlebnissen mit diesen Crews erzählen die Bücher meines Vaters. Ein Marineschiff haben wir in der Zeit, in der wir zusammen unterwegs waren, allerdings nicht gesprengt.“
Hier und da etwas ausgeschmückt, aber so war es in der Literatur nun einmal. Nicht jeder Tag war ein Abenteuer. Und manche Abenteuer lebten erst davon, dass man sie wiedergab. Farbenfroher, spannender, verwobener.
„Das weiß ich nicht.“, antwortete er schließlich auf die Frage, ob sein Vater je in der dritten oder siebten Welt gewesen war. „Er hatte in den letzten acht Jahren viel Zeit, um Dinge zu erleben, die er mir nun voraus ist.“
Liam lächelte warm, als Trevor ihm versicherte, dass er unter der Abwesenheit dieses Familienteils nicht groß gelitten hatte. Vermutlich hätte er sich ebenso wie der Jüngere jedes Mal über all die Geschichten gefreut, die seine Eltern mit nach Hause brachten, dass kein Platz für Enttäuschung gewesen wäre.
„Und die Tarlenn wussten in den vergangenen fünf Jahren auch nichts über ihren Aufenthaltsort? Wenn sie in ihrem Auftrag unterwegs sind, müsste man doch erfragen können, wohin.“ Nur ein flüchtiger Gedanke, der ihm in den Sinn kam, ehe er Trevors Vermutung über seine Kindheit mit einem Kopfschütteln begegnete. „Nein. Nach dem Tod meiner Mutter haben mein Vater und ich Yvenes verlassen. Meine Großmutter wohnt noch immer dort.“
Sein darauffolgender Vorschlag klang dafür gar nicht mal so schlecht. Während des Straßenfests auf Milúi hatte er anderes im Sinn gehabt als Briefeschreiben. Zu erzählen hatte er allerdings genügend. Noch wichtiger, als seiner eigenen Familie zu schreiben, war ihm allerdings die indirekte Bitte Trevors. Liams Lächeln wuchs ein wenig, ehe er entschlossen nickte.
„Das können wir gerne machen. Lass uns mit deiner Familie anfangen. Die hat vermutlich länger nichts von dir gehört als meine Großmutter von mir. Lass mich nur eben ein bisschen Pergament holen. So lange kannst du ja schon mal überlegen, wo du anfangen willst.“
Liam war sich sicher, dass das hier ein längeres Unterfangen werden würde. Aber das war okay, denn er konnte sich allein anhand des Strahlens auf Trevors Zügen vorstellen, wie wichtig es ihm sein musste, endlich einen Weg gefunden zu haben, sich bei seiner Familie zu melden. Wenn es sein musste, würden sie eben bis morgen hier sitzen, seine Gedanken ordnen und letztlich zu einem hoffentlich verständlichen Brief zusammenfügen, den sie im nächsten Hafen an die Tarlenn übergeben konnten. So war zumindest gesichert, dass das, was sie gleich schreiben würden, nicht in die falschen Hände geriet. Liam verschwand nach unten und musste nicht lange suchen, bis er Tinte, einen Federkiel und leeres Pergament aus seiner Truhe gefischt hatte. Dann kehrte er nach oben zurück, um sich wieder neben Trevor auf den Planken niederzulassen.