18.06.2022, 15:01
"Na, ganz so weit würde ich nicht gehen", erwiderte der Schiffskoch schmunzelnd und hob die Hände zu einer etwas übertrieben beschwichtigenden Geste, als Liam ihm seine Worte wie so oft, wenn sie in entspannter Atmosphäre miteinander sprachen, im Munde umdrehte. Dass Rayon der Letzte war, der eine körperliche Auseinandersetzung in vollem Bewusstsein provozierte, wusste der Künstler selbstverständlich. Ebenso wie Rayon wusste, dass er ihn nur zu gerne auf den Arm nahm.
"Ich sehe eine gebrochene Nase nur lieber bei anderen als bei mir selbst. Oder bei dir. Was häufiger zu geschehen scheint. Von daher bitte ich dich darum!"
Sein Schmunzeln wurde noch ein wenig breiter, nicht zuletzt angesichts der bewusst ernsten Miene, die Liam aufgesetzt hatte und aufrechtzuerhalten versuchte, und schließlich stimmte er in das Lachen seines Gegenübers ein, als dieser auf seine glorreiche Idee mit dem Mast einging. Sein tiefes, herzliches Gelächter schallte durch den Innenhof, als er sich bildlich vorstellte, wie sie beide mit den Rücken zueinander an den Mast gefesselt da standen, um von irgendwelchen Dummheiten abgehalten zu werden, während der Rest der Crew um sie herumwuselte (unweigerlich kam die Frage in ihm auf, weshalb dann nicht zumindest auch Trevor und Shanaya ihr Schicksal teilen mussten).
"Solange der Regen nur unsere Kleidung durchweicht und nicht auch unsere Hirne, soll's mir Recht sein", sagte er vergnügt und schenkte dem Künstler ein warmes Lächeln. "Andernfalls sehe ich Schwarz für die Sphinx. Wer soll den Rest unseres Haufens denn dann noch bei Vernunft halten?"
Als Liam schließlich das Buch beiseitelegte und ihm eröffnete, dass er keine Verabredungen hatte, machte sich einerseits ein angenehmes Gefühl der Verbundenheit in ihm breit - schließlich war es schön, zu wissen, dass Liam bereitwillig, wenn auch mit gespielter Resignation, seine Pläne im Austausch für seine Gesellschaft aufgab -, andererseits begann er sich jedoch auch zu fragen, ob er auf diese subtile Art und Weise noch irgendetwas aus seinem Freund herauskitzeln würde, bevor er alt und grau wurde. Vermutlich musste er die ganze Sache direkter angehen, und so langsam dämmerte ihm, dass das ohnehin die sinnvollere Vorgehensweise war. In Anbetracht der Vertrautheit, die zwischen ihnen herrschte, würde er ihm die Frage sicherlich nicht übel nehmen.
"Nun, dann kann ich mich wohl glücklich schätzen, dass selbst dir manchmal die Kreativität auszugehen scheint", erwiderte er und stieß erleichtert die Luft aus. "Und zu einem kühlen Bier in guter Gesellschaft sage ich sicher nicht nein", fügte er hinzu und schmunzelte erneut. Auf Liams Urteil konnte er sich mit Sicherheit verlassen, und die Gelegenheit, den Mann näher kennenzulernen, der ihr Schiff auf Vordermann brachte, wollte er sich nicht entgehen lassen.
Liam schien jedoch noch weitere Pläne zu haben, und seine nächsten Worte ließen nichts Gutes vermuten. Selbst jemand, der den Künstler nicht sonderlich gut kannte, wäre angesichts seines körperlichen Zustands allerdings kaum auf den Gedanken gekommen, dass er sich freiwillig schon wieder in die nächste Rauferei begeben würde. Insofern war der Vorschlag, den Mann aufzusuchen, mit dem er in den Ring gestiegen war, vermutlich harmloser, als er klang. Vielleicht ging es ihm auch gar nicht wirklich darum, ihn zu treffen, sondern er hatte einfach nur nach einem möglichst humorvollen Aufhänger für den Vorschlag gesucht, sich ein wenig die Beine zu vertreten. In dem Fall griff der Schiffskoch diese Vorlage nur allzu gern auf.
Er grinste spitzbübisch, zuckte mit den Schultern, erhob sich und bot Liam seine rechte Hand an, um ihm aufzuhelfen.
"Was bleibt mir denn da anderes übrig? Am Ende suchst du noch allein nach ihm und wirst noch übler zugerichtet als letztes Mal", sagte er und bemühte sich um ein vorwurfsvolles Stirnrunzeln, das ihm aber mehr schlecht als recht gelang. "In welche zwielichtigen und stinkenden Ecken der Stadt soll es uns denn verschlagen?"