22.05.2022, 14:45
Rúnar erwies sich tatsächlich als geduldiger Zuhörer. Und wenn Tarón sich Mitleid gewünscht hatte – nun auch das bekam er. Subtil, ohne allzu großes Bedauern, doch Rúnars Reaktionen sagten ihm, dass der andere mitfühlte – im wahrsten Sinne des Wortes Mitleid zeigte. Nicht gönnerhaft oder egozentriert, nicht sich den Schmerz aneignend, den er fühlte. Sondern lediglich ehrlich versuchte ihm auf der Spur seiner Erinnerungen zu folgen und dabei nachzuempfinden, was er da sagte. Im Guten, wie im Schlechten – im Lächeln über Jack, seinen Tränen oder dem Griff an sein Herz.
Dennoch kam Tarón nicht umhin sich angesichts der Tränen in Rúnars Augenwinkeln zu schämen. Er war es nicht gewohnt, dass jemand um seinetwillen Tränen vergoss, war zeitlebens der gewesen, der sich zusammenzureißen hatte. Darin war er an sich gut geworden. So gut, dass er den Teil, der nun als Wortflut aus ihm herausfloss selbst kaum kannte.
Noch immer sein Lächeln auf den Lippen – trügerisch, in sich selbst tief wie die See – beäugte er Rúnar einen Moment, wog erneut ab. Aber nun war er bereits im Fluss und seine Flut trug auch ihn mit sich – hinaus aufs Meer.
„Na schön…“
Ein Schluck, ein weiteres leeres Glas, das er nachfüllte. Doch für den Moment blieb das gewinnende Lächeln, hinter dem sich dennoch noch etwas anderes zu verbergen schien. Weniger greifbar. Gegen ihn selbst gerichteter Sarkasmus, der das Ganze leichter machte.
„Die nächsten zwölf Jahre verbrachte ich auf der Hangman unter einem Haufen echter Piraten.“
Erneutes Abwägen – diesmal jedoch kürzer. Vielleicht lag das am Alkohol, den der Falke langsam deutlicher spürte.
„Hm. Möglich, dass ich meinen guten Eindruck verderbe, aber auch das ist wohl Teil der Geschichte und von mir. Und du wolltest sie hören, also soll es nicht unerwähnt bleiben: wenn es eine Illusion gab, dass man als Pirat nicht früher oder später Blut an seinen Händen hat, muss ich sie dir jetzt nehmen. Ich habe einige Dinge getan, auf die ich nicht stolz bin. Dinge, die wahrscheinlich so nicht nötig gewesen wären. Schuld, nicht wahr? Ja…darum geht es schließlich…
die Hangman hatte einen üblen Ruf und sie verdiente ihn. Ich rede mir gerne ein, dass wir ja dennoch unseren Ehrenkodex hatten, uns an gewisse Dinge hielten – aber auch das rechtfertigt nicht alles was damals geschah. Wahrscheinlich half es uns allen nur uns nicht wie verdammte Hunde zu fühlen. Genauso wie die Überzeugung, dass wir es eben tun mussten, um zu überleben. Du magst mich anders kennen, Rúnar…vielleicht hoffe ich das auch nur– aber ich war nicht für meine Warmherzigkeit bekannt. Den Spitznamen „Falke“ trug ich nicht, weil der Vogel so hübsch ist. Je nach Blickwinkel waren wir ein netter Haufen – oder aber Dämonen der See. Aber es gab den Kodex, den Kodex… bis unser Käpt’n überschnappte. Und damit sind wir beim zweiten Monster in dieser Geschichte und vielleicht war er ein noch größeres, als Faran.
Barass war niemals ein angenehmer Mensch gewesen. Wenn jemand mit ihm gut konnte, war es Jack…aber das änderte sich, als er anfing aus reiner Mordlust zu töten. Und wie! Es kam schleichend…und ehe wir es richtig begriffen, war die Mannschaft zwiegespalten zwischen denen, die ihm überallhin gefolgt wären und denen für die die rote Linie längst überschritten war. Auf Jack hörte er schon lange nicht mehr. Nun…“ sein Blick wandte sich zur Seite, das Lächeln verschwand aus seinen Zügen.
„Jacks Fehler war es zu versuchen die Dinge zu ändern…nein…eher nicht zu sehen, was aus Barass geworden war. Es nicht sehen zu wollen, bis es zu spät war. Und als er sich dann mit mir davonmache wollte hatte er bereits bei der Mannschaft Unruhe gestiftet. Barass ließ ihn dafür kielholen…“
Nachdenklich schwenkte er den Alkohol, trank und sah wieder auf das Honigbraun im Glas.
„Damit endete die Geschichte von Black Tooth. Und meine Zeit auf der Hangman…ich habe das Schiff fünf Tage später am nächsten Hafen verlassen und zugesehen, dass ich Land gewinne. Doppelte Schuld – dafür, dass ich Jack nicht gerettet habe und dafür, dass ich Isa von da an nicht mehr besuchte. Ohne dass sie wusste, was aus mir wurde…ohne ein Wort oder Brief…“
Er hob das Glas etwas an, betrachtete, wie sich das Licht in ihm brach.
„Einfach so … weg…“
Die Lippen etwas schürzend sah er Rúnar an, dann leerte auch dieses Glas.
Rúnar lächelte zaghaft zurück, als Tarón ihn ansah, dann bedeutete, dass er weitererzählen würde -- als er sein Glas austrank presste Rúnar ein wenig die Lippen zusammen. Ein guter Teil der Flasche war schon leer und Rúnar hatte bisher gar nichts davon getrunken. Aber es war nicht an ihm zu bewerten, wie viel sein gegenüber trank. Der war selbst alt genug um derartige Entscheidungen zu treffen -- außerdem hatte Rúnar auch nicht gerade wenig getrunken. Nicht so viel wie Tarón, aber er war ja selbst auch ein Leichtgewicht -- und das merkte er bereits.
Schuld -- und Blut an den Händen. Jawohl. Rúnar hatte dahingegen keine Illusionen mehr. Im Kielwasser eines Blutbads und inmitten dem himmelhohen Licht einer brennenden Stadt hatte er sich der Sphinx-Crew angeschlossen. Er hatte gewusst, auf welche Menschen er sich einließ. Immer wieder hatte er vor Augen, wie er seine Harpune aus dem Brustkorb des toten Mannes da in der Gasse auf Lacrinîn zog. Immer wieder. Trevor hatte sie in den Körper des Kopfgeldjägers befördert gehabt und ein wenig später hatte er Rúnar bei der Hand genommen und ihm damit bedeutet, dass er bei ihm und der Crew sicher war. Und wenn er genauer darüber nachdachte, dann war er das bisher auch gewesen. Bei ihnen, ja. Mit ihnen, nein. Aber er konnte aufhören sich einzureden, dass er nur vorübergehend da war. Er wollte bleiben.
Tarón sprach Rúnar nun wieder mit seinem vollen Namen an. Ihm war nicht entgangen, dass er ihn bei einem Spitznamen genannt hatte. Das hatte bislang sonst keiner aus der Crew getan -- außer Trevor, aber das hatte eine ganz andere Konnotation. Ein betrunkener Trevor hatte sich nur einfach nicht Rúnars Namen merken können und nun würde er ihn wohl bis ans Ende seiner Tage 'Daggi' nennen. (Wunderbar.)
Als Tarón das Kielholen erwähnte, verzog Rúnar kurz das Gesicht. Allein die Vorstellung davon, das bei einem Fremden mitbekommen zu müssen -- und dann auch noch jemandem, der ihm wichtig gewesen war. Schien so, als hätte Tarón durchweg Leute verloren oder zurückgelassen, die ihm etwas bedeuteten. Aber nun hatte er zumindest wieder Isa. Und ohehin hatte er die ganze Crew. (Und im besonderen hatte er Rúnar -- diesen Gedanken erstickte Rúnar allerdings im Keim bevor er richtig aufblühte.)
Ende zweiter Akt, exeunt Tarón und ein weiteres Glas Rum.
Exit Rúnars wieder zimmerwarmes Bier -- besser wurde es ja nun nicht. Dann schob er den leeren Krug von sich weg und schank sich einen kleinen Schluck Rum ein. Er wollte ja nicht unhöflich sein und das Glas, das Tarón ihm mitgebracht hatte, unbenutzt lassen.
Dann sagte er: "Zuerst einmal schaffst du es wahrscheinlich nicht mehr so leicht, meinen Eindruck von dir zu verderben."
Rúnar hatte selbst das Gefühl, dass er in den letzten Monaten reichlich abgestumpft war gegenüber jeglichen moralisch bedenklichen Dingen. Wobei das Tarón ja nun gar nicht mehr akut betraf. Tarón hatte sein Monster von einem Onkel beseitigt -- gut so. Er war mit einer Crew gereist, die nicht nur einen fragwürdigen Kodex gehabt hatte sondern einfach darauf geschissen hatte -- das tat er nun aber nicht mehr.
Aber Schuld ... das war es eben.
"Und mir war auch klar worauf ich mich einlasse, wenn ich mich der Sphinx-Crew anschließe. Ich glaube, es weiß keiner außer Trevor -- den hatte ich nämlich als erstes aufgegabelt -- aber ich habe damals gezielt nach der Sphinx-Crew gesucht. Erschien mir sinnvoll mit Piraten zu reisen. Hat sich dann rausgestellt, dass die Piraten weit weniger schlimm waren als in meinen Vorstellungen. Aber die Dinge, die mit den Piraten einhergehen hab ich mir anders vorgestellt." Er seufzte. "Müssen wir jetzt aber nicht alles nochmal aufrollen." Darüber hatte Rúnar sich eben zu genüge beschwert.
Er nahm den einen Schluck rum, den er sich eingeschenkt hatte. Ließ ihn kurz auf seiner Zunge verweilen -- für den Geschmack -- und ließ ihn dann brennend seine Kehle hinabfließen. Dann stellte er das Glas wieder ab. "Und ich muss dich leider darin bestätigen, dass du noch immer nicht gerade für deine Warmherzigkeit bekannt bist -- aber dafür hast du andere Qualitäten", sagte er, grinste und klopfte leicht auf Taróns Schulter.
Schließlich wandte auch Rúnar sich dem Rum zu, als er sein – erneut ziemlich schales, dem Auge nach – Bier heruntergekippt hatte. Der Stand der Flache leerte sich bereits bedenklich und Tarón nahm kurz zur Kenntnis, dass er nun wenigstens behaupten konnte, sie hätten sie zusammen platt gemacht.
Ein sanftes Lachen des Falken, das die feinen Fältchen um seine Augen erreichte.
„Na da bin ich ja froh.“
Es klang ironisch – aber das war er tatsächlich. Generell interessierte es ihn relativ wenig, was andere von ihm dachten – relativ. Bei Rúnar schien ihm das jedoch aus irgendeinem Grund wichtig. Vielleicht weil dieser – anders als ein Großteil der Crew – noch nicht so abgebrüht war. Kein grobes Raubein oder ein cleverer Trickser…niemand der über Leichen ging, um seinen Vorteil zu bekommen – dafür jemand, der tatsächlich Interesse an echten zwischenmenschlichen Beziehungen hatte. Jemand, der noch genügend Vertrauen für so etwas in sich fand.
Obwohl er wohl doch schon einiges begriffen hatte…
„Ausgerechnet Trevor…“ er gluckste in sein Glas, trank kopfschüttelnd. Trevor war für ihn noch immer eine absolute Wild Card, die er kaum einzuordnen wusste. Er merkte sich für später, dass Rúnar und den verrückten Chaoten vielleicht etwas verband und er den blassen Freund vielleicht zu ihm befragen konnte, ohne sich selbst mit Trevors wirrem – und für ihn wirklich anstrengenden – Selbst befassen zu müssen.
Aktuell jedoch dachte der Falke über Rúnars weitere Worte nach, lächelte in seinen Drink, neigte den Kopf ein wenig, trank.
„Das ist tatsächlich äußerst interessant…hast du bei den Kopfgeldjägern von ihnen erfahren?“
Oder von den Steckbriefen? Hatte Rúnar im Vorfeld von der Morgenwind gewusst? Wusste er es jetzt? Tarón erwähnte das Schiff und sein Schicksal nicht, sich wohl daran erinnernd was Luciens Gesicht ihm verraten hatte, als dieser ihn aufklärte, dass dies das Werk der Sphinx gewesen war. Und bei aller Vertrautheit – die Karten seines Käpt’n spielte Tarón niemandem in die Hand. Von dieser konnte er nicht ganz sicher sein, ob Lucien sie nicht vielleicht selbst bereits gespielt hatte oder Rúnar die Info von jemand anderem bekommen hatte – was wahrscheinlich war…aber eben nicht zwingend richtig.
Erneut lachte er leise, diesmal jedoch wieder mehr in sich hineinschmunzelnd.
„Diese Piraten sind weniger schlimm, aye. Eine verdammt gute Bande, wenn du mich fragst…aber kein guter Maßstab fürchte ich. Deine vorherige Vorstellung ist wahrscheinlich weit näher an der Wahrheit der meisten Schiffe dran...“
Mit der Sphinx hatte Rúnar damit verdammtes Glück gehabt…Taróns Blick glitt über seinen Freund, dessen feines blondes Haar, lang geworden in der kurzen Zeit, die weichen blassen Züge…fast feminin…passend zu den geschwungenen Lippen….
Tarón blinzelte…Runar wäre ein gefundenes Fressen an Board der Hangman gewesen – in jeder nur erdenkliche Art.
°Nein Rúnar…worauf du dich eingelassen hättest, wäre es nicht so gut gelaufen, war dir nicht klar…sonst hättest du es nicht getan…°
Aber es war gut gegangen – so gut, dass sie nun hier saßen und Tarón sich, obwohl er noch nicht einmal am Ende seiner Erzählung angekommen war, bereits anders fühlte…besser. War es so einfach? Wäre es die ganze Zeit so einfach gewesen? Er wusste, dass das zugleich trügerisch, wie auch die Wahrheit war. Trügerisch, weil es nur ein Teil dieses Puzzles war sich das Herz auszuschütten und er damit noch nicht einmal fertig war – der schmerzhafteste Teil kam erst,- wahr, weil dieses Teil dennoch einen zentralen Punkt in der Lösung einzunehmen schien.
Und plötzlich lag Rúnars Hand auf seiner Schulter und klopfte leicht darauf, während Tarón sie anstarrte, ehe sein Blick mit leicht gesenkten Brauen und verengten Augen zu ihm herübertaumelte.
„Hey! Hast du gesehen, wie warmherzig ich zu James war? Also bitte, das muss doch zählen?“ An sich war das Nichts, das er zum Lachen fand und nüchtern hätte er diesen Witz nie gemacht – dafür war ihm das ganze Thema um die Angelegenheit herum zu schwerwiegend…seine Drohung zu ernst gewesen. Denn was er James angedroht hatte wäre er bereit gewesen umzusetzen. In dieser Sache hatte er sich nicht geändert. Nun aber machte der Rum seine Zunge leicht und sein Hirn wolkig und er konnte sich tatsächlich ein kehliges Lachen darüber entringen, wenn er an James dumme Fresse nach dem „Kuss“ dachte.
Er trank sein Glas aus.
„Naja ok…vielleicht ist es besser so. Dann hat keiner falsche Hoffnungen…ok…lass mich die Geschichte zum Abschluss bringen.“
Das war ein verdammter emotionaler Wellenritt…aber einmal angefangen wollte er es abschließen…und das ging nur wenn er von Aylah und der Aurora erzählte und sich damit noch einmal hinab an den Meeresgrund wagte, auf dem seine Erinnerungen lagen.
„Zwei Dinge kommen noch. Die wahrscheinlich bedeutendsten für mein kleines Trauerspiel- aber ich versuche mich kürzer zu fassen...kann mir denken, dass das Ausmaß meines Geheuls selbst den geduldigsten Rahmen sprengt...also: Bühne auf für den dritten Akt und das vorläufige Finale.
Ich heuerte auf verschiedenen Schiffen an, ehe ich auf die Aurora kam. Ein prächtiges Ding...mit prächtigen Menschen. Auch sie hatte ihren Ruf. Auch er verdient, aber das war etwas anderes als mit Barass. Käpt’n Frámor hatte eine gewisse ...Klasse.“
Ein Mann von Format…mit Rückgrat…ein Freund.
Tarón griff noch einmal zur Flasche und schenkte sich nach. Trank.
„Die Dinge liefen gut, auch wenn ich nicht konstant bei der Aurora blieb, sondern die Schiffe öfters wechselte. Vielleicht war ich es leid mich zu sehr zu binden… Aber sie liefen so gut, dass ich kaum mehr an Isa dachte...oder an Jack...Faran...“
Schuld. Vergraben selbst in den guten Erinnerungen.
„Auf Lilanja traf ich eine Frau - Aylah - und wir verliebten uns. Also doch wieder eine Bindung…und was für eine…“
Sein Blick verklärte sich einen Moment im Andenken an sie und ein feines, trauriges Lächeln voller Liebe floss über seine Züge wie eine sanfte Welle über verblassende Fußabdrücke.
„Sie war wunderschön – nicht nur ihr Körper, auch ihr Herz…“
Mit einem Kopfschütteln brach er die Trance der Erinnerung.
„Hmpf... nunja. Sie hätte dich wohl besser verstanden, als ich es kann. Aylah war die Tochter eines ziemlich wohlhabenden Händlers und wie du schon recht früh jemanden versprochen worden, den sie sich niemals selbst ausgesucht hätte. Schätze, ich hab dem Arschloch ganz schön die Tour versaut...oder hätte es, wenn die Dinge nicht gekommen wären, wie sie kamen.
Ich wollte sie mitnehmen...mit ihr durchbrennen, wenn sie nicht auf einem der Schiffe mit mir bleiben wollte. Egal wohin - überall hin. Für sie wäre ich bis in die achte Welt gefahren. Aber diese Reise trat sie dann allein an...
Ich fand sie an dem Strand, an dem sie auf mich warten wollte, doch anstatt eines Neuanfanges für uns beide wurde es ein Abschied. Ich konnte bereits Nichts mehr für sie tun - das sagt mein Verstand. Die Schuld sagt mir ich hätte früher da sein müssen oder etwas ahnen. Dass ich, wie ich vorher sagte, versagt habe, als sie mich brauchte. Aber es gab Dinge, die sie mir nicht erzählte...das weiß ich nun, auch wenn ich noch immer nicht weiß, um was es sich genau handelte. Ich fand sie mit mehreren Stichverletzungen am Strand verbluten... meine Sonne sank mit der an diesem Abend auf Lilanja…“
Er schüttelte den Kopf und kippte das halbe Glas hinunter.
„Vielleicht sollte ich besser zum Theater…melodramatischer Holzkopf…
Was mir von ihr blieb ist die Echse.“
Das und eine Strähne dunklen Haares – aber das musste er nicht auch noch erwähnen…er machte sich so schon zum sentimentalen Trottel.
„Calwah gehörte vorher ihr...und ich schwor ihr mich um ihn zu kümmern. Schuld...oh Schuld...tja du hast wohl doch recht, Runar. Warum sonst das Echsenvieh?“
Sprach er seine Gedanken von vorher nun aus.
„Ich nahm Calwah und begrub meine Geliebte und kehrte zu meiner Crew zurück. Wechselte die Schiffe, fand zurück in meinen Trott…und blieb schließlich bei der Aurora, weil ich mich auf ihr am ehesten Zuhause fühlte.“
Der Rest des Glases folgte er ersten Hälfte.
„5 gute Jahre…Jahre, in denen die Crew zu meinen Freunden wurde…und dann brachte ich ihnen den Tod.“
Zum ersten Mal an diesem Abend glitzerten Tränen in Taróns Augenwinkeln, als er den Blick von seinem Glas hob und Rúnar direkt ansah.
„Ich. Und niemand anders ist dafür verantwortlich…die Aurora gibt es nicht mehr – genauso wie Käpt’n Frámor, handsome Jim, Sprok , Curly…Wünsche, Ausreden…‘ich habe es nicht wissen können‘. Aber ich hätte es wissen müssen! Ich hätte auf den Instinkt von Frámor vertrauen müssen, anstatt ihn dazu zu überreden diese Passage zu nehmen…wozu?…weil ich es wollte! Weil ich – und nur ich - zu dieser Pissinsel wollte, um irgendwas über dieses Mistvieh zu erfahren, das Aylah mir aufgezwungen hat. Aber ich habe sie überredet…ihnen die Sache schmackhaft gemacht, bis sie zustimmten…“
Und grade sagte er mehr, als er eigentlich gewollt hatte, doch nach der Ruhe, kam der Sturm erneut zurück und peitschte ihm mit beißender Gischt die Tränen in die Augen.
„Ich weiß nichtmal wer die Typen waren, die uns versengten…“
Er wusste jedoch warum…aber das, zumindest das, behielt er für sich.
„Aber sie lauerten in einer Nebelbank…he…ironisch, oder? So ähnlich hatten wir es mit dem verfluchten Handelsschiff vor. Sie lauerten uns auf und sie schossen die Aurora in Stücke und beförderten sie auf den Grund des Meeres…wir kamen noch ein Stück weit, deshalb kamen sie nicht zum entern…aber auch das hätte keinen Unterschied gemacht. Die Aurora sank, meine Freunde sanken mit ihr und verrotten nun am Grund des Meeres. Wegen mir. Und ich? Ich sitze hier und saufe Rum. Scheiße!“
Er schloss die Augen, lehnte den Kopf nach hinten und eine einzelne Träne löste sich aus seinem rechten Augenwinkel, als er tief durchatmete.
„Wenn jemand tot am Meeresgrund liegen sollte, dann ich. Nicht Jack, nicht Frámor oder einer der anderen. Und auch Aylah sollte am Strand stehen und mit ihrer Echse spielen, anstatt in einem feuchten Grab zu liegen…vielleicht sollte selbst Faran bei Maira sein…“
Sein Kopf kippte wieder nach vorne, die Augen – blau wie die See – öffneten sich wieder. Er lachte bitter.
„Nein…die ist auch tot…aber er wäre bei ihr gewesen…ihr verschissener Mann. Nein…der Bastard hat den Tod mehr als verdient…diese Schuld zumindest werde ich nicht tragen.
Nun, aber damit wären wir hier, oder? Ich schaffte es meinen Arsch zu retten – so wie immer! Weil das so läuft und Männer, die es nicht verdienen leben, während andere mit den Fischen schwimmen. Ich fand irgendwie zu dieser Scheißinsel mit den scheiß Kopfgeldjägern…und ich roch den Haufen Mist, den sie anzünden wollten…erkannte und nutzte meine Chance, weil ich gut darin bin! Oh, so gut! Und so trafen wir uns auf der Sphinx, mein hübscher Rúnar. Nur um hier zu sitzen und darüber zu reden, was Schuld ist. Vielleicht verstehst du meinen Wunsch nun – und ja. Ja verdammt es ist ein Wunsch. Und es ist Glaube. Was soll ich tun? Jetzt? Heute? Wenn ich mich mit der neuen Pistole hier...“
Und er zog sie hervor, legte sie auf den Tisch zwischen sie.
„..erschieße, weil ich die Schuld nicht ertrage…macht das irgendetwas besser? Holt sie das zurück? Oder mein Geheule, meine Trauer, meine Wut?“
Er atmete schwer seufzend aus, so als wäre er hunderte Meter gerannt, sah auf das raue Holz des Tisches.
„Nein. Mein Punkt und mein Fazit. Schuld bringt niemandem etwas.“
Seine Augen hoben sich und müde sah er Rúnar mit einem schiefen traurigen Lächeln an.
„Und doch ist es schwer sie loszulassen…“
Rúnar quittierte Taróns ironische Bestätigung darüber, dass er es nun nicht mehr bei dem anderen Mann verscheißen konnte, mit hochgezogenen Augenbrauen und einem aufgesetzten Gesicht, das ein ebenfalls ironisches, Na, dann eben nicht, bedeutete.
Als Tarón dann darüber schmunzeln musste, dass es ausgerechnet Trevor war, den Rúnar aus der Crew aufgegriffen hatte, zuckte Rúnar nonchalant mit den Schultern -- aber die Art wie er lächelte, machte deutlich, dass er es ebenso amüsant fand wie Tarón.
Seine Augen verweilten kurz auf Tarón -- und er lächelte noch immer, ein wenig abwesen, während er beobachtete wie Taróns Lippen sich zu einem Lächeln kräuselten und er sie dann an das Glas setzte.
Taróns nächste Frage holte ihn wieder zurück auf das Gesamtbild -- das Gespräch zwischen ihnen. Ob er von den Kopgeldjägern von der Sphinx erfahren hatte? Nein. Rúnar schüttelte den Kopf und sagte: "Ich war sozusagen auf Lacrinîn gestrandet und wollte endlich eine Mitfahrgelegenheit, die nicht Geld verlangte, das ich nicht hatte; mir Arbeit abschlug, die sie mir nicht zutraute; oder schlicht und einfach keine Lust oder Kapazität hatte, jemanden mitzunehmen. Ich hab dann in der Taverne gehört, dass ein Schiff mit roten Segeln vor kurzem eingelaufen war und dass das Piraten waren." Er schmälerte die Lippen zu einem Halblächeln. "Und der Rest ist Geschichte."
Zu Taróns Kommentar über seine Vorstellung von Piraten nickte Rúnar nur etwas nachdenklich -- er hielt sich allerdings bewusst davon ab, in dieses Gedankenloch zu stürzen. Sonst überlegte er es sich vielleicht doch nochmal anders damit, auf der Sphinx zu bleiben. (Natürlich würde er das nicht. Wenn ihn auch sicherlich weiterhin die Zweifel plagen würden, über die er sich bei Tarón ausgelassen hatte.)
Als Tarón die Situation mit James erwähnte, musste Rúnar laut auflachen -- und hoffte, dass Tarón nicht bemerkte, wie er wieder errötete. Denn das erste, an das er sich dabei erinnerte, war, wie er sich gerne an James' Stelle gesehen hätte. (Natürlich unter anderen Umständen.) Und da wurde ihm bewusst, dass das der Moment gewesen sein musste, in dem es ihn getroffen hatte. Zumindest so, dass es am heutigen Abend dazu geführt hatte, dass ihm deutlich bewusst wurde, wie sein Herz schneller schlug in der Gegenwart des anderen; wie ihm danach war, Tarón zu berühren, sei es auch nur die Hand auf seiner Schulter, oder die Finger in seinen Haaren, oder die Lippen auf seinen, oder--
Rúnar atmete tief ein und fuhr sich kurz mit der Hand übers Gesicht.
Falsche Hoffnungen, hm? Wahrscheinlich konnte er sich das ganze einfach sowieso abschminken. Dieser Kuss mit James war ja nicht aus Zuneigung oder gewesen. Er war zur Lehre gewesen. (Wie und ob das fragwürdig war, war Rúnar im Moment egal.)
Rúnar atmete nochmal ein -- aus -- um wieder konzentriert zuhören zu können. Dritter und letzter Akt ...
Mein Rahmen ist sehr flexibel, dachte er. Aus Eschenholz oder so.
Wie bitte?
Zum Glück hatte er aufgehört zu trinken -- sowas hätte nüchtern nicht seine Gedanken gekreuzt.
Doch er hörte weiter zu. Seine Augen folgten Taróns Hand, als er zur Flasche griff und dann sein Glas an den Mund hob um daraus zu trinken. Kurz hatte Rúnar den Impuls, die Flasche zu nehmen und sie weiter zu seiner Seite des Tisches zu ziehen, aber er tat es nicht. Wenn es Tarón half, seine ... Sache so zu verarbeiten, dann musste das eben so sein. Fürs erste.
Dann sank sein Herz, als Tarón von Aylah zu sprechen begann. Zunächst, weil er also annahm, dass Tarón eben doch nur Interesse an Frauen hatte -- das war aber unlogisch per se, denn das musste sich ja nicht auf ein Geschlecht beschränken. Dann aber, weil ein gewisser Ausdruck über Taróns Gesicht huschte. Die Art wie sein Gesicht sich veränderte, bedeutete für Rúnar, dass er niemals jemand anderen so ansehen könnte, wie die Gedanken an diese Frau.
War Rúnars Herz eben noch gesunken, so spürte er es jetzt wieder fester schlagen. Oder eher schmerzen. Bei der Vorstellung, wie Tarón die -- offensichtlich -- Liebe seines Lebens tot oder beinahe tot vorfand.
Melodramatischer Holzkopf? Sicher nicht. Rúnar schüttelte den Kopf. Er wollte sich gar nicht ausmalen ... wieder hatte er das Bild vor sich von Nótts totem Körper auf der Weide, Sólfaris verzweifelten Schreien, als er versuchte mit seinem gebrochenen Bein aufzustehen.
Aber ein geliebtes Haustier oder gar ein Götterpferd war noch lange, lange, lange nicht die Liebe seines Lebens.
Aber was verstand Rúnar schon von Liebe.
Zum dritten Mal bekannte sich Tarón nun als Mörder. Aber auch diese Situation war anders -- es war kein kaltblütiger Mord, kein Mord im Affekt oder dergleichen. Es war die Schuld, die sich Tarón selbst zuschrieb, die ihn zum Mörder machte. Sonst nichts. Nur er sah sich selbst so.
Wieder musste Rúnar seine Hand auf sein Herz pressen, als er bemerkte, dass Tränen in Taróns Augen standen -- sofort schossen ihm Tränen in die seinen.
Der charakterstarke, immer bestens gelaunte Tarón mit der lustigen, bunten Echse. Es musste unglaublich wehtun, diese Erinnerungen hervorzuholen und Rúnar konnte den Schmerz regelrecht an seinem eigenen Körper spüren.
Ihm liefen schon lang die Tränen hinab, als sich auch eine aus Taróns Augenwinkel löste.
Rúnar hätte tausend Sachen sagen können: Du kannst nichts dafür. Was geschehen ist, ist geschehen. Du hast niemandem die Entscheidung abgenommen. Aber nichts davon wäre das richtige, geschweige denn in irgendeiner Weise hilfreich gewesen. Er wusste, dass das nichts an den Schuldgefühlen ändern würde.
Rúnar wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, als Tarón seine Augen wieder öffnete -- das blau glasig und wütend.
Ja. Ja, er verstand. Nein, er wusste nicht, was Tarón tun sollte -- verdammt, er wusste ja selbst nicht mal was er tun sollte. Natürlich war es eine rehtorische Frage gewesen, aber Rúnar suchte nach irgendetwas, das er sagen könnte.
Sein Herz machte einen Sprung beim Anblick der Pistole und bei Taróns -- hoffentlich noch immer -- rhetorischer Frage, ob es etwas besser machen würde, wenn er sich erschießen würde.
Er nickte, bestätigte damit Taróns letzten Satz, und griff dann langsam aber geschickte nach der Pistole und zog sie zu seiner Seite des Tisches, weit genug weg von Tarón. Natürlich dachte er nicht, dass Tarón sich an Ort und Stelle das Gehirn aus dem Kopf pusten würde -- es war eine Art non-verbale Kommunikation: Hier wird sich niemand erschießen. Und es machte nichts besser. Ganz und gar nicht.
Rúnar wusste noch immer nicht genau, was er sagen sollte. Aber er wollte etwas sagen -- begann mit: "Es tut mir leid ... dass ..."
Ja, was?
Was tat ihm leid?
Tarón im Allgemeinen? Oder dass alles für ihn so blöd gelaufen war? Dass er sich so schuldig fühlte? Dass er diese Bürde mit sich trug? Dass Rúnar dafür verantworktlich war, dass es in diesem Gespräch nun so weit gekommen war, dass sie beide betrunken und weinend dasaßen?
Ihm fehlten die Worte. Und er wusste gerade nicht, das anders deutlich zu machen, als seine Arme zu öffnen und zu fragen: "Willst du ... eine Umarmung?"
Nach wie vor registrierte ein Teil von Taróns Gehirn Rúnars Reaktionen und Regungen auf seine Worte – und er stellte fest, dass der Blonde eine Menge auch ohne Worte und allein mit seiner Mimik ausdrücken konnte. Das war auf eine Art erstaunlich – wie er selbst in seinem aktuellen Zustand noch bemerkte. Denn Rúnars Gesicht schien ansonsten oft reglos, beinahe ausdruckslos.
Aber auch das war vielleicht nur eine Maske – antrainiert? Gewählt?... Beides?
Dass sich dahinter auf jeden Fall eine große emotionale Tiefe verbarg, daran bestand kein Zweifel mehr.
Der analytische Teil von Tarón -wenn auch etwas vernebelt - schnappte automatisiert nach Rúnars Antwort zu seiner Frage bezüglich der Sphinx. Ahnungslos also. Gut. Vielleicht vorerst besser so… Allerdings zeigte sich in der Antwort erneut eine gewisse Naivität, die dem Jungen schnell das Genick brechen konnte, wenn an die Falschen geriet.
Tarón entgegnete seinen Abschluss zu der Frage mit einem Lächeln seinerseits…ja…es war Geschichte – eine, die sie hier her geführt hatte. Mit allen Höhen und Tiefen dieses überraschenden Abends. Für ihn jedenfalls, denn so hatte Tarón sich das sicher nicht vorgestellt. Bereite er es?...zumindest aktuell nicht. Noch immer fühlte es sich unvertraut und seltsam gut an sich das von der Seele zu reden.
Taróns Bemerkung dazu, dass die Sphinx keineswegs der Standard war, kam wohl an- Rúnar nickte -auch wenn der Falke noch immer sicher war, dass Rúnar keine wirkliche Vorstellung davon hatte, wie übel die Dinge für…nun für eine Person wie ihn werden konnten.
°Und was genau meinst du damit?...°
Fragte er sich kurz selbst, ehe der Gedanke bereits weg war.
Am Ende seiner Geschichte flossen bei Rúnar die Tränen – mehr noch wie bei ihm selbst, auch wenn Tarón nur noch erhaschte, wie sein Gegenüber die seinen schnell abwischte.
Bei Tarón reichte es am Schluss nur für die eine, die herabperlte und eine feuchte Spur auf seiner rechten Wange hinterließ. Vielleicht fand er einfach keine weiteren mehr in sich. Bereits am Strand von Lilanja hatten sie sich mit dem Meer vereint und auf dem namenlosen Strand, an den er sich mit Calwah nach der Katastrophe gerettet hatte – als er verstand was geschehen war und die Hoffnung darauf etwas von seinem Leben retten zu können anstelle seiner Freunde begrub.
Seine Augen flackerten zu der Bewegung, als Rúnar die Pistole von ihm wegzog. Ein amüsiertes und doch leer klingendes Aufglucksen, als er ihn mit geneigtem Kopf ansah.
„Du machst dir wohl Sorge, eh?“
Vielleicht ja zu Recht…an diesem Abend wusste er offenbar nicht wirklich was er tat…oder was er redete. Auch wenn er im Allgemeinen nicht der Typ dafür war einfach aufzugeben – Schuld und Schmerz hin oder her. Er streckte seine Hand jedoch nicht nach der Waffe aus. Vielleicht war sie aktuell bei Rúnar besser aufgehoben.
Er sah ihn weiter an, als die Worte unbeholfen aus Rúnars Mund stolperten. Es tat ihm leid…ja – das sah Tarón. Das Mitleid, das er gesucht hatte, hatte er endgültig gefunden Das Urteil war gefällt, auch wenn der Blonde es nicht aussprach. Und in Tarón löste sich ein Knoten. Offenbar war Rúnar immer noch gewillt sich mit ihm abzugeben. Sah kein absolutes Monstrum in ihm.
Bei den nächsten Worten des Blassen zog Tarón jedoch die Stirn in Falten, starrte irritiert, dann misstrauisch auf Rúnars ausgebreitete Arme. Schließlich lachte er leise.
„Scheiße, du willst mich doch verarschen!“
Er nahm die Flasche Rum, schwenkte den kläglichen Rest, der in ihr verblieben war und spülte ihn kurzentschlossen seine Kehle hinab. Sein Blick – überlegend, offenbar mehr schlecht als recht analysierend ob Rúnar ihn einfach auf den Arm (haha) nehmen wollte oder das etwa ernst meinte – glitt noch einmal über seinen Freund, dann durch den Raum, ehe er wieder bei dem Blonden ankam.
Gefundenes Fressen auf einem anderen Schiff…oh ja.
Tarón grinste ihn an, ließ die Flasche krachend auf den Tisch aufkommen und lehnte sich in die Bewegung
„Nein.“
Ehe er sich aufrichtete und aufstand (und dabei leicht schwankte).
„Aber ich brauch ne Zigarette!“ Er linste zu den Musikern hinüber.
„Und ich bekomm von dem Gedudel langsam Kopfschmerzen. Komm…sehen wir nach, was die Wellen machen!“
Und damit machte er sich auf den Weg nach draußen. Dabei nicht über irgendwen in der Taverne zu stolpern stellte sich dabei als schwerer heraus, als er vorausberechnet hatte. Irgendwie schien ihm ständig jemand in den Weg zu taumeln. Doch ein gewinnendes Lächeln hier, ein aus dem Weg geschobener Körper da und er erreichte den Ausgang doch noch, ohne eine Kneipenschlägerei auszulösen.
Draußen traf ihn die Kühle Nachtluft wie ein Kanonenschuss. Schwankend blieb er stehen und schloss kurz die Augen, um durchzuatmen und das Drehen etwas unter Kontrolle zu bringen.
„Verdammte scheiße, Rúni…du hast mich fast die ganze Flasche trinken lassen…“
Und jetzt merkte er das wirklich, denn obwohl er einiges vertrug trieb die Kälte ihm den Alkohol in den Schädel.
„Ach…wen interessierts… Wo ist der verfluchte Tabak…ah!“
Umständlich fummelte er das trockene Kraut hervor und drehte sich genauso ungeschickt eine krumme Zigarette.
Allein Taróns Blick wirkte schon seltsam zweifelnd, nachdem ihm Runar die Umarmung angeboten hatte. Seine Worte stießen ihn vollends vor den Kopf.
Ob Rúnar ihn verarschen wollte? Rúnar senkte die Arme, blinzelte.
Sein Kopf war für einen Moment einfach nur blank.
Ein einfaches, 'Nein, danke', hätte auch gereicht. Er war aber immer noch zu verblüfft um etwas dazu zu sagen.
Das 'nein' kam dann zwar auch noch, allerdings mit Nachdruck -- nachdem Tarón noch den Rest der Rumflasche ausgetrunken hatte und Rúnar zusammenzuckte, als der andere sie auf den Tisch knallte.
Das mit den Kopfschmerzen konnte Rúnar nachvollziehen. (Noch hatte er keine, morgen würde er die vermutlich haben. Das lag dann aber nicht an der Musik.) Er überlegte kurz, ob er Taróns Gestik und den Ton seines 'Nein' nachahmen sollte, einfach aus Trotz -- und wahrscheinlich weil er betrunken war -- aber der Gedanke an einen ruhigen Moment an der frischen Luft war verlockender.
Rúnar stand also ebenfalls auf, griff sich die Waffe vom Tisch -- ihre leeren Gläser konnten sie getrost dort stehen lassen, die Pistole liegen zu lassen wäre allerdings dumm. Entweder sie wurde missbraucht oder gestohlen. Letzteres würde wahrscheinlich im besonderen Tarón unglücklich machen und ersteres im besonderen Rúnar. Wenn ihr Tisch danach von jemand anderem eingenommen worden wäre, dann hatten sie eben Pech gehabt. Es war eigentlich ohnehin an der Zeit zurück zur Sphinx zu gehen -- was Rúnar nicht zuletzt daran bemerkte, dass Tarón schon nicht mehr gerade gehen konnte. Er folgte ihm zum Ausgang und murmelte immer wieder ein, "Verzeihung -- Entschuldigung -- Verzeihung", wenn Tarón jemanden anrempelte oder irritierte.
Rúnar ließ die Tür hinter sich zufallen. Trotz dass es kühl war, hüllte die Nacht ihn angenehm ein, in die Dunkelheit und das Zirpen von Zikaden und dem Geräusch der Wellen.
Er hörte Tarón tief durchatmen, stellte sich direkt neben ihn und richtete seinen Blick auf die Wellen, die in ihren Gischtspitzen das spärliche Licht von den Tavernenfenstern einfingen.
Rúnar wusste genau, warum Tarón ihm dann vorwarf, dass er ihn die ganze Flasche allein hatte trinken lassen. Er nahm es aber nicht als Vorwurf auf und Tarón war es -- seinen darauffolgenden Worten nach zu urteilen -- auch ziemlich egal. Rúnar spürte selbst, wie ihm der Alkohol nun zu Kopf stieg. Allerdings hatte er keine ganze Flasche Rum allein getrunken. Götter, das war wirklich eine ordentliche Menge. "Nächstes Mal halte ich dich frühzeitig davon ab", sagte er. Mit diesen Worte reichte er Tarón die Pistole. Nächstes Mal hätte Tarón vermutlich auch nicht das Bedürfnis so viel zu trinken. Immerhin schien dies ein Symptom seiner Offenheit was seine Vergangenheit anging gewesen zu sein.
Rúnars Herz machte einen Sprung als er daran dachte, wie viel Vertrauen ihm Tarón damit geschenkt hatte. Vor allem ihm, dem naiven, unverdorbenen Rúnar, der das Leben noch nicht in all seinen grausamen Facetten kennengelernt hatte. Und der gerade erst schmerzhaft lernen musste, dass er nicht so resilient war, wie er gedacht hatte. Vor allem im Vergleich zu der Resilienz Taróns. Rúnars Mundwinkel zuckte kurz nach oben, als er daran dachte, dass Tarón ihn verantwortungsbewusst beiseite genommen hatte und sich um sein Wohlbefinden gesorgt hatte, nur damit sie beide in Dingen herumgewfuhrwerkt hatten, die man besser in Ruhe ließ -- und letztendlich durfte Rúnar wahrscheinlich den Verantwortungsbewussten spielen und dafür sorgen, dass Tarón später heil bei seiner Hängematte auf der Sphinx ankam.
Er beobachtete Tarón dabei, wie dieser sich -- seinem Zustand geschuldet etwas ungeschickt -- eine Zigarette drehte. Dann fragte er: "Darf ich 'nen Zug?"
Das Lachen rumpelte tief durch Taróns Brustkorb, als Rúnar zusagte ihn das nächste Mal rechtzeitig davon abhalten zu wollen so viel zu trinken.
„Nächstes Mal…“ er wandte sich ihm zu und grinste verschmitzt.
„… trinkst du einfach richtig mit!“
Sein Blick senkte sich - eine leichte zickzack Linie beschreibend – auf die dargereichte Pistole.
„Ah, da ist sie hin! Sehr gut Rúnar! Gut aufgepasst, danke!“ Er streckte die Hand nach dem Ding aus, griff danach und verharrt noch kurz, „die hätte ich tatsächlich fast vergessen…“ ehe er sie aus Rúnars Hand nahm.
Das stimmte nicht – er hatte eher darauf vertraut, dass Rúnar sich darum kümmern würde, nachdem er sie schon halb an sich genommen hatte. Aber die Aussage kam ihm besser vor.
Die blauen Augen richteten sich auf Rúnars Gesicht , auch wenn Taróns Blick ein wenig schwankte, als wären sie schon wieder an Board der Sphinx. Überrascht zog er die Brauen hoch, dann lachte er, nachdem er selbst den ersten Zug des krummen traurigen Dings in seinem Mund genommen hatte.
„Oho, du rauchst? Nun…aber klar…ich muss eh mal pissen…“ Den Rauch ausblasend reichte er die „Zigarette“ an Rúnar… und wuschelte diesem in einem plötzlichen Affekt durch die blonden Haare, beließ die Hand einen Moment in den feinen Locken, während sein Blick sich diesmal doch auf ihn fokussierte.
„Danke, Rúnar…fürs Zuhören…“
Dann atmete er tief ein, löste die Berührung und wandte sich fast auf der Stelle um – was er bereute, denn das brachte ihn fast aus dem Tritt und er musste sich kurz an der Wand der Taverne abstützen.
„So! Nun aber!“
Seine Augen wanderten kurz über die Landschaft, ehe er sich für das angrenzende Stückchen „Wald“ entschied, auch wenn dieser Begriff für die kleine Ansammlung von Bäumen und Gesträuch wohl etwas hoch gegriffen war. Aber es war zumindest abgelegener und wohl doch etwas angebrachter, als seinen Schwanz gleich vor der Tavernentür rauszuholen, um das Bier wegzubringen.
Während er sich – sich vorsichtshalber mit der Rechten an einen der Bäume abstützend – erleichterte durchmaß sein Blick erneut die Dunkelheit und blieb schließlich an der fast malerischen Kulisse des Strandes hinter dem „Wäldchen“ hängen. Dieser Teil des Strandes lag in eine andere Richtung als die Sphinx und schien damit auch generell weit weniger frequentiert zu werden.
Also beschloss er -nachdem alles wieder eingepackt war, was eingepackt gehörte -kurzerhand sich diesen im Mondlicht fast leuchtenden Strand anzusehen. Dort würde er hoffentlich auch endlich das Gedudel der Musik nicht mehr hören müssen, denn das hatte ihn zumindest noch bis zu den Bäumen verfolgt. Schon ein paar Meter durch das Gestrüpp getaumelt kam ihm Rúnar jedoch wieder in den Sinn. Den konnte er ja nun nicht einfach so stehen lassen.
Sein Pfiff klang klar und deutlich, was er angesichts seiner Lage fast selbst erstaunlich fand.
„Ey, Rúni!“ rief er den anderen. Das würde wohl reichen, oder? Strand, genau! Da wollte er hin! Also machte er sich wieder auf den Weg.
Rúnar zog die Augenbrauen hoch. Richtig mittrinken ... wohl eher nicht. Er hatte nicht immer eine gute Impulskontrolle, aber die Alkoholgrenzen wurden nicht überschritten. Er erinnerte sich ungern an die Nacht in der Jón, sein Bruder und er bis zum Vormittag abwechselnd über der Toilette hingen.
Rúnar fing Taróns Blick ein -- oder versuchte es zumindest, denn der andere konnte wohl auch nicht mehr gerade schauen -- ließ sich die Pistole abnehmen und nahm die Zigarette entgegen. Dann fokussierte sich Taróns Blick doch noch und Rúnar stockte kurz der Atem, als Tarón ihm auch noch durch die Haare wuschelte. Wieder spürte Rúnar noch den Effekt seiner Berührung, als er seine Hand schon wieder zurückgezogen hatte. "Gern geschehen", sagte Rúnar, und hoffte, er hatte es ordentlich über die Lippen gebracht. Dann ging Tarón weg um sich zu erleichtern.
Rúnar zog an der Zigarette, sog den Rauch in seine Lungen -- hustete ihn sofort wieder aus. "Boah ... das ist ja widerlich." Er war kein Raucher. Er hatte noch nie geraucht. "Wer macht denn sowas freiwillig?"
Er behielt die Zigarette in der Hand -- die Spitze glomm rot und ein Rauchfaden stieg von ihr empor.
Was brauchte Tarón so lange? (Nun ja, er war eben betrunken.)
Rúnar drehte sich um zu der Baumgruppe, kniff die Augen zusammen, weil er Tarón nicht mehr sehen konnte. Verdammt -- was hatte er sich auch dabei gedacht, einen Betrunkenen allein zu lassen.
Dann erklang ein Pfiff und Tarón rief nach ihm. Den Göttern sei dank -- Panik nochmal abgewandt.
Was hatte er vor? Das Schiff war in die andere Richtung. Er hatte gesagt, er wolle sich die Wellen anschauen, aber Rúnar hatte das eher im übertragenen Sinne verstanden -- es war wohl wörtlich gemeint gewesen.
Rúnar ging mit zügigen Schritten in die Richtung, aus der Taróns Stimme gekommen war. So weit war er auch noch nicht gekommen und Rúnar holte ihn schnell ein.
Er hielt ihm die Zigarette hin, die mittlerweile ausgegangen war. "Hier", sagte er und fügte nochmal hinzu, "ist ja widerlich."
Malerisch – das traf es auch beim zweiten Blick ganz gut. Der Mond wurde nur von ein paar langsam vorbeiziehenden Wolken verdeckt und brach immer wieder aus diesen hervor, um den Sand und die Wellen vor Tarón in sanften Schein zu tauchen. Ganz nach seinem Geschmack.
Auch nach all den Jahren, die er nun auf den Welten wandelte, hatte die Faszination des Meeres den Falken nicht verlassen. Das gleichmäßige Rauschen, der Geruch nach Salz und Tang. Es gab nichts Schöneres als das Meer bei Nacht.
Diese Gedanken, dieser Eindruck spiegelte sich auch auf Taróns Gesicht wider, der den Strand in Richtung Wellengrenze entlangschlenderte und dabei ungleichmäßige Fußabdrücke im Sand hinterließ.
Als er bei einer Reihe vom Meer rundgeschliffenen Felsen ankam, holte Rúnar ihn ein. Dieser gab ihm die Zigarette zurück – kam angerührt, aber noch immer so kläglich, wie zuvor…und mittlerweile erloschen.
Tarón lachte leise, nahm das krumme Ding und Rúnars Kommentar gleichermaßen an.
„Wusste du bist kein Raucher! Passt auch nicht zu dir….man man, was hast du denn mit dem armen Ding gemacht?“
Fragte er nun, ganz so, als hätte die Zigarette je besser ausgesehen und Rúnar hätte sie erst in dieses…traurige etwas verwandelt. Er schüttelte den Kopf und ließ sie vorerst in der Manteltasche verschwinden, während er sich nun dem Meer zuwandte.
„Ich liebe solche Nächte…“
Murmelte er und als er sich nun wieder Rúnar zudrehte stieß er dabei gegen einen der kleineren Steine. Ins Taumeln geraten griff er wohl automatisch zu – und erwischte Rúnar am Arm…und den zog er nun mit sich, als er sich recht ungalant auf den Felsen hinter ihm „setzte“.
„Scheiße…sorry Rúni…“
Rúnar bemerkte Taróns Blick. Er blickte auf die See wie auf eine Geliebte. Das war das zweite Mal an diesem Abend, dass er diesen Ausdruck auf Taróns Gesicht sah und wieder erwischte er sich dabei, wie er sich vorstelle, dass Tarón ihn so ansehen würde. Doch die Vorstellung verdrängte Rúnar schnell wieder und löste sie mit einem anderen Gefühl ab: Neid.
Für ihn war die See nie etwas gewesen, das man lieben konnte. Nicht vollends. Die See war sublim. Sie war schön und bedrohlich zugleich. Für Rúnar war sie meist etwas gewesen, das man bezwingen musste, weil sie und alles in ihr einen sonst gnadenlos verschlang. Irgendwann. Irgendwann wollte er das Meer so ansehen können, wie Tarón es ansah.
Rúnar grinste in sich hinein, sah auf den nassen Sand zu seinen Füßen. Es hätte ihn auch gewundert wenn Tarón ihn für einen Raucher gehalten hätte. Er sparte es sich, Tarón darauf hinzuweisen, dass er ja die Zigarette wohl so zugerichtet hatte.
Er steckte die Hände in seine Manteltaschen, sah um sich als Tarón über die Nacht sprach. Ja, es hatte etwas. Ein Aspekt davon war vermutlich, dass Rúnar nichts mehr von der Apathie spürte, die er zuvor nich mit sich herumgeschleppt hatte. Teil davon war dem Alkohol geschuldet, der stattdessen einen angenehmen Schwindel durch seinen Kopf sandte. Ein anderer Teil davon war Tarón geschuldet, einfach ... weil er mit Rúnar gerade diesen Strand entlang lief und Rúnars Herz dazu brachte, schneller zu schlagen, wenn er ihn ansah.
"Ich--" Das 'auch' blieb ihm im Hals stecken, als Tarón ihn plötzlich am Arm packte. Rúnar schaffte es nicht rechtzeitig, seine Hände aus den Taschen zu nehmen um das Gewicht, das ihn zur Seite zog, auszubalancieren und seine Hände dämpften seinen Fall so: Die eine auf dem Felsen, die andere auf Taróns Brust. Sein eines Knie wäre um Haaresbreite in Taróns Schritt gelandet, stattdessen war es unsanft auf dem Felsen aufgekommen.
Tarón entschuldigte sich. Rúnar konnte seinen Atem auf seiner Wange spüren. Er brauchte einen Moment -- er war zu beschäftigt damit zu verarbeiten wie nah er Tarón gerade war.
"Macht nichts, Tarón", murmelte er. Sein Atem wurde etwas schwerer -- von der Anstrengung sich oben zu halten, von der Nähe, von dem Gefühl seiner Hand unter Taróns Schlüsselbein, dem Gedanken, wie es sich unter den paar Lagen Stoff anfühlen würde.
Er sollte aufstehen.
Jetzt.
Jetzt!
Aber alles krachte gerade auf ihn ein: die Atmosphäre, die Situation, ihr vertrauensvolles Gespräch von vorhin, die Wirkung des Alkohols und ganz einfache, banale Lust. Er sagte: "Ach, was soll's", und griff in den Kragen von Taróns Mantel, zog ihn an sich und küsste ihn.
Taróns leises Lachen angesichts der bizarren Situation (Angesichts seines Alkoholpegels wohl eher!) wurde abrupt erstickt als Rúnars Lippen plötzlich die seinen berührten -weich, wie die einer Frau, fordernd, leidenschaftlich.
Tarón – viel zu verblüfft davon, was geschah – unternahm für einen Moment garnichts, erwiderte den Kuss nicht, ließ ihn jedoch zu, als sein Verstand versuchte zu der Situation aufzuholen und sein verklärter Geist sich durch den Dunst kämpfte, den der Rum in seinem Kopf hinterlassen hatte.
Und trotz seines Zustandes kamen die Puzzlestücke nun zusammen, machte es „klick klick“ in Taróns umwölkten Schädel.
Das war es also – die Gesten und die Mimiken des Abends, die Worte und ihre Tonlage setzten sich zu einem weiteren Bild zusammen und fügten sich zu dem, was er zuvor schon beobachtet hatte.
Und jetzt reagierte auch sein Körper wieder. Taróns Rechte schoss hoch- eine umgekehrte Analogie zu dem Sturzflug des Vogels, mit dem man ihn oft verglich – und fasste Rúnars Kinn, während er ihn mit dem linken Unterarm ein Stück von sich schob. Jedoch nicht weit – die rechte hielt ihn noch immer so nah, das Rúnar Taróns Worte über seine eigenen Lippen zu fließen spüren glaubte.
Der Falke sah ihm in die Augen – Blau in Grau. Das Lächeln, dass seinen Mund kräuselte hatte etwas raubtierhaftes – zugleich etwas Grausames.
„So ist das also…“
Die Worte waren ein raues tiefes Branden der Wellen.
„Hm…
Deshalb, ja? Hast du ihn deshalb bei deiner Frau nicht hochgekriegt?...“
In Taróns Stimme klang etwas Gefährliches mit. Er nahm seinen Kopf zurück, betrachtete Rúnar einen Moment mit dem Ausdruck eines Falken.
Und irgendetwas in ihm erwachte. Vielleicht war es seine Art des Monsters, das wohl tief in jedem Mann lauerte. Ein Biest, rasend und düster…und voller Verlangen. Rúnars fein geschnittenes Kinn in seiner Hand…rau ließ er den Daumen über diese perfekten Lippen gleiten, hielt ihn nun nurnoch mit der Rechten wo er war, während seine Linke sich senkte, zwischen sie kroch und beinahe sanft über den Stoff von Rúnars Schritt glitt.
„Und wie sieht es jetzt aus?“
Taróns Stimme – ohnehin schon tief – schien noch eine Octave zu sinken und ein Knurren zu beinhalten.
Seine Hand in Rúnars Schritt verschwand – er nutzt sie um sich etwas aufzurichten – dem anderen entgegen. Seine Bartstoppel strichen an Rúnars Wange entlang, als er den Mund zu dessen Ohr führte, den Atem heiß und seltsam schwer in seiner eigenen Brust gegen die bleiche haut schlagend und über das Läppchen streichend.
„Willst du das Rúni…? Mich…?“
Seine Lippen streiften sein Ohr, hinunter zum Hals, wieder hinauf.
Und Tarón wurde sich klar, dass er selbst bereits hart, wie der Fels in seinem Rücken war.
Gegen den stemmte sich nun seine Hand, als er Rúnars Körper herumzwang, sich selbst über ihn wälzte – die Hand endlich von seinem Gesicht lösend – und ihn auf den Felsen pinnte. Der Anblick des anderen unter ihm war wie Alkohol im glühenden Feuer der Bestie. Ihr Verlangen tat beinahe weh.
'O-oh', schoss es durch Rúnars Kopf. Und auch immernoch etwas, das ihn drängte, jetzt sofort wieder aufzustehen. Etwas das ihn drängte, den Kuss zu vertiefen. Der Gedanke, dass er das ganze Vertrauen, dass sie an Land gezogen hatten in diesem Kuss wieder versenkte. Dass Tarón kein Interesse an Männern hatte. Dass Rúnar ihn an sich ziehen wollte. Dass er ihn auf tausend verschiedene Arten, an tausend verschiedenen Stellen an seinem Körper spüren wollte. Dass er es gründlich verschissen hatte. Dass er--
Tarón nahm ihm jegliche Entscheidung ab. Plötzlich waren seine Finger an Rúnars Kinn und er hatte Rúnar ein kleines Stück von sich weggeschoben. Rúnar ließ seinen Griff an Taróns Kragen locker, aber nicht los.
Sein Herz machte einen Sprung -- ihm graute vor Taróns Reaktion. Aber im nächsten Moment vergaß er wieder, den Teufel an die Wand zu malen, als der Atem des anderen auf seinen Lippen seine Sinne benebelte. Taróns cheshire-artiges Lächeln ... sein eindringlicher Blick ... seine tiefe, tiefe Stimme. Rúnar stockte kurz der Atem, dann stieß er ihn mit einem Seufzen aus. Ja, so war es.
Und das mit Ásta ... "Nein. Also, ja. Also--" Rúnar wusste wieder nicht wohin mit seinen Worten, als Tarón ihn betrachtete -- eindringlich, neugierig und scharf, wie der Falke der er war.
Rúnar schloss die Augen, als Taróns Finger über seine Lippen glitt -- wieder stockte ihm der Atem als er Taróns andere Hand in seinem Schritt fühlte. Wo Taróns Stimme dunkel und rau war, war Rúnars sanft und atemlos: "Das fragst du noch?"
Als Tarón sich zu ihm lehnte, löste Rúnar seine Hand von dessen Kragen und seine Finger legten sich sanft, fast unauffällig auf Taróns Hinterkopf. Er lehnte seine Wange in Taróns Hand, ein Schauer, ein Zittern fuhr einmal durch seinen ganzen Körper, als Taróns Atem über sein Ohr glitt. Bei dessen Worten krallten seine Finger sich in Taróns Haare und er antwortete, so fest wie es mit fehlendem Atem möglich war: "Ich will dich."
Rúnar stieß einen weiteren Atemzug aus, als Taróns Lippen seinen Hals entlang wanderten. Die kühle Meeresbrise auf der feuchten Haut jagten einen weiteren Schauer durch ihn.
Tarón stützte sich ab und Rúnar nahm seine Hand aus Taróns Haaren, umklammerte stattdessen seine Schulter, damit er sich leichter umdrehen ließ.
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Taróns Kopf lehnte mit der Stirn zwischen Rúnars Schulterblättern, als er wieder zur Besinnung kam, zu Atem. Keuchend rollte er sich neben ihm auf den Rücken.
„Das war…der Wahnsinn...“
Erzählte er den Sternen über sich, ehe sein Blick zu Rúnar glitt.
„Bist du okay?“
Auf den letzten Metern dieses Sprints hatte er keinerlei Rücksicht mehr genommen, Rúnars Körper in völliger Vergessenheit benutzt, als hinge sein Leben von der Erlösung ab, die er ihm gegeben hatte.
[...]
Rúnars Brust hob und senkte sich noch immer mit schweren Atemzügen. Eine kühle Brise streifte seine schwitzige Haut und er erschauderte ein wenig. "War es", bestätigte er. Auf mehr als nur eine Art.
Er sah Tarón an. Dessen ebenfalls verschwitzten, wohlgeformten Körper. Als sein Blick bei Taróns Augen ankam, lächelte Rúnar und nickte. Er war okay. Und ein etwas suggestiver Blick folgte.
Dann ließ er seine Augen zum Meer schweifen -- wieder zurück zu Tarón. Er zog die Augenbrauen hoch. "Kurzes Bad?" Sand und andere Dinge loswerden.
„Götter, ich bin total fertig…“ murmelte der Falke sachte, während sich sein Herzschlag langsam wieder normalisierte und die kühle Luft das Fieber mit sich davontrug. Rúnar Nicken erwiderte er mit einem seichten Lächeln seinerseits.
Noch immer fühlte sich sein Kopf umwölkt an – nun jedoch wieder mehr vom Alkohol und nicht mehr vorn dem Wahnsinn, der ihn befallen hatte. Und sein Körper lag angenehm schwer auf dem Felsen.
Baden?...Er sah Rúnar an, dann wälzte er sich mit einem Seufzen herum und entledigte sich mit den Füßen seiner Stiefel. Gefolgt von der dümmlich rumhängenden Hose und seinen Socken.
„Bad.“ Bestätigte er. Das würde seinem Kopf vielleicht ganz guttun.
Was zum Henker war das gewesen?
Während er sich aufrichtete musterte er Rúnar, dann dessen zerfetztes Hemd…und lachte leise.
„Scheiße du siehst aus, als hätte man dich verprügelt…“
Seine Brauen zogen sich nachdenklich zusammen
„Was vielleicht garnicht so schlecht ist…“
Rúnar lächelte ein wenig in sich hinein. Hätte ihm jemand vor nur ein paar Stunden erzählt, was den Abend noch passieren würde, hätte er wahrscheinlich herzlich gelacht und wäre weiter seiner Wege gegangen. (Er wusste, dass dies bald in irgendeiner seltsamen Art und Weise an ihm nagen würde -- er wusste nur noch nicht, wann.)
Er sah aus als hätte man ihn verprügelt? Rúnar spiegelte Taróns Gesichtsausdruck. Etwas mehr Verwirrung lag vielleicht noch mit darin. Er sah an sich herunter. Sein kaputtes Hemd, das noch halb an ihm dran hing, zog er ganz aus, hob es kurz an einem Finger hoch um es resigniert anzusehen, und legte es dann zur Seite. Und hier -- während er begann, sich vom Rest seiner Kleidung auch noch vollends zu entledigen -- entschied sich sein Kopf auch schon dafür, ihn an der ganzen Sache nagen zu lassen.
Er hatte keine Nähsachen. Er müsste jemand anderen fragen, ob er sich Nähsachen leihen konnte. Vielleicht würde derjenige ja gar nicht genauer nachfragen. (Vermutlich würde er Gregory fragen. Der hatte sicher Nähzeug und er stellte generell nicht allzu viele Fragen.) Und wenn doch jemand fragen würde, was würden sie antworten? Würden sie die Wahrheit sagen? Oder sich eine Ausrede einfallen lassen? Was war das überhaupt gewesen? In einem Moment saßen sie noch betrunken und weinend in der Taverne und im nächsten trieben sie es auf irgendeinem Felsen am Strand. War das für Tarón nur dieses eine Mal gewesen? War es, weil er betrunken war? Sollte Rúnar ihm sagen, dass er vielleicht, möglicherweise, unter Umständen, ziemlich sicher Gefühle für ihn hatte? Aber fühlte er sich vielleicht nur so, weil er ebenfalls betrunken war?
"Sehe ich noch anderweitig vermöbelt aus?" Er konnte sich vorstellen wie und wo. Und was zur Hölle meinte Tarón mit, dass das wahrscheinlich gar nicht so schlecht war? Aber darüber musste Rúnar dann nicht weiter nachdenken. Sie würden sich eine Ausrede einfallen lassen. So war das also. War vielleicht auch gar nicht so schlecht. Solange seine Gedankenbrühe so seltsam trüb war. "Was sagen wir den anderen?"
„Auf keinen Fall sagen wir was hier wirklich passiert ist!“
Diese Antwort kam sogar für seine eigenen Ohren zu schnell und zu heftig aus ihm heraus.
Er seufzte, rieb sich über das Gesicht…und langsam sickerte die Erkenntnis darüber was sie eben getan, wozu er sich hatte hinreißen lassen, wirklich in seinen Geist.
„Das war einer der verrücktesten Abende meines Lebens…erst schütten wir uns gegenseitig das Herz aus und erzählen uns unsere Lebensgeschichten und dann…“
Er sah Rúnar an – nackt und bleich im Mondlicht, das zerrissene Hemd neben ihm - und wandte den Blick fast beschämt wieder ab.
„…und dann ficke ich nen Typen…wie in aller Welten ist es dazu gekommen? Ok…ok ich bin betrunken…aber…“
Erneut ging seine Hand zu seinem Gesicht, als würde das helfen seine Gedanken beisammen zu halten.
„Wir sagen wir sind in eine Kneipenschlägerei gekommen – ich hab sie verursacht, du hast eingesteckt…“ Er sah zu Rúnar, ließ den Blick flüchtig über die Blessuren gleiten, die er ihm verpasst hatte.
„Scheiße warum auch immer irgendein Kneipenschläger dir Bissmale am Hals und wer weiß noch wo verpassen sollte…“
Das Ganze wäre lustig - wenn es nicht so verdammt ernst wäre.
Und wie ernst es womöglich war, ging ihm selbst nun nach und nach auf, da der Rausch nachließ, der ihn überhaupt erst in diese Lage gebracht hatte – nicht der des Alkohols, sondern der seines eigenen Verlangens. Und nun fühlte er sich als würde er an einem Abgrund stehen – und der in einholende Sturm im Rücken wollte ihn jederzeit hinunter stoßen.
„Was wir hier…getan haben kann auf jeden Fall keiner der anderen erfahren. Darf keiner erfahren.
Leute wie…“
‚Du‘, wollte er sagen - doch stattdessen seufzte er, denn auch er war nun ‚so jemand‘. Er war an dieser Lage mindestens genauso schuld…eher mehr noch als Rúnar. Er wusste was so etwas bedeuten konnte!
„Leute die so...etwas tun... wir wären unseres Lebens nicht mehr froh!“
Und nun sprach er es doch aus – das, was ihm bereits bei ihrem Gespräch in der Taverne durch den Kopf gegangen war, denn Rúnar musste verstehen, wie die Karten lagen. Auch wenn Taron ihm damit weh tat.
„An Board jedes anderen Schiffes als der Sphinx wärst du damit in jedem Fall gefundenes Fressen gewesen. Erst hätten sie dich vergewaltigt und was von dir übrig wäre hätten sie mit durchschnittener Kehle über Board geworfen.“
Das wäre ihm zumindest auf der Hangman passiert. Daran hatte er wenig Zweifel.
„Wir können das keinen wissen lassen. Verstehst du das?“
Und ihm ging noch etwas anderes auf. Er kniff die Augen zusammen, stellte es klar bevor Rúnar nach diesem dummen Gefühl der Unzulänglichkeit greifen und es womöglich darauf schieben konnte.
„Nicht weil du zu schwach für dieses Leben bist oder so ein Mist...scheiße, mit mir hätten sie hiernach das gleiche gemacht...vielleicht hätten sie meinen Arsch verschont und mir dafür den Schwanz abgeschnitten...wie auch immer: Männer die Männer ficken...das ist auf einem Schiff wie ein Anker am Fuß!“
Oder ein Strick um den Hals. Machte keinen Unterschied.
„Was hab ich mir nur dabei gedacht?“
Garnichts, Tarón…garnichts hast du gedacht. Das alles hatte rein garnichts mit denken zu tun. Und nun war es zu spät.
„Und es hat mir gefallen…“
Er lachte leise auf – und es klang fast ein wenig hysterisch.
„Oh scheiße, hat es mir gefallen…
mein Kopf....
Das war ein Fehler…ein verdammt dummer Fehler.
und doch... wenn ich gewusst hätte wie es sein kann mit einem anderen Kerl...
Ich hätte da niemals auch nur dran gedacht, in keiner Fantasie in keinem Traum und da kommst du und dann passiert...das hier.“
Wieder lachte er.
„Götter, ich bin völlig durcheinander...“
Diesmal rieb die Hand stärker durch sein Gesicht, als könne er das, was geschehen war wie einen Flecken wegreiben. Sein Blick glitt zu Rúnar und er atmete durch.
„Das war kein Vorwurf Rúni...ich...ich weiß nur nicht was...ich weiß garnichts!“
Und das war für jemandem wie ihn ein verdammt beschissenes Gefühl.
Er atmete noch einmal durch, versuchte seinen Kopf dazu zu zwingen zu funktionieren.
„Das wird nie jemand außer uns erfahren. Verspricht mir das! Wir waren saufen, wir sind in eine Kellerei geraten und dich hat es mehr erwischt als mich - obwohl ich sie vom Zaun gebrochen habe... und danach…keine Ahnung haben wir irgendwelche Huren aufgegabelt oder weiß der Geier. Dann haben wir was für die Bisse…scheiße, Rúnar es tut mir leid…“
Rúnar zuckte ein wenig zusammen -- starrte Tarón an, die Schultern immer noch ein wenig hochgezogen. Taróns Monolog hielten Rúnar für ein paar Momente davon ab, sich zu sehr in seinen eigenen zu verlieren.
Seine Augenbrauen hoben sich. '... einen Typen', das hörte sich an, als wäre es davor noch nie passiert. Das wäre absurd.
Es war offensichtlich, wie verwirrt und aufgewühlt Tarón über die ganze Situation war -- er war, wie Rúnar selbst, gerade erst zur Besinnung gekommen, was eigentlich passiert war. Doch seine Gedankengänge gingen wohl einen ganz anderen Weg als Rúnars: einen sehr steilen Abhang hinab -- und Rúnar konnte nicht sagen, ob Tarón ihn gerade wider Willen mitriss oder ob Rúnar einfach vergeblich nach ihm zu greifen versuchen wollte. Vielleicht ja beides. Was auch immer es war, es war verdammt unangenehm.
Kneipenschlägerei, gute Idee. Tarón hatte sie verursacht, Rúnar hatte eingesteckt. Genau so fühlten sich Taróns Worte gerade auch an.
Leute wie -- wer? Rúnar zog abermals die Augenbrauen hoch. Sag jetzt eine falsche Sache--
Aber was dann? Rúnar konnte nicht so tun als wäre er ein Verfechter der Ehre ... seiner Leute. Er war, was das anging, mehr ein erbärmlicher Knappe als ein edler Ritter.
Und dann sagte Tarón eine falsche Sache. Und Rúnar ballte kurz die Fäuste -- aber tat nichts weiter. Es war nicht allzu lange her, dass er genau so gedacht hatte wie Tarón. Rúnars Selbstwertgefühl mit dieser Seite von sich stand noch immer auf eine enorm bröckeligen Fassade und Tarón hatte gerade mit der Faust hineingeschlagen und einen ordentlichen Riss verursacht.
Rúnar ließ nicht einsickern, was Tarón darüber sagte, was sie mit Männern wie ihnen auf Piratenschiffen taten. (Und sicherlich würde es später zurückkommen um ihn heimzusuchen.) Trotzdem spielten sich die Szenarien vor seinem inneren Auge ab und kurz begann das Blut in seinen Ohren zu rauschen. Er legte sich die Hand aufs Herz und atmete tief ein. Zum einen hatte Tarón es eben selbst gesagt -- auf jedem anderen Schiff als der Sphinx, aber sie waren nun mal Teil der Sphinx und nicht irgendeines anderen Schiffes. Zum anderen fragte sich Rúnar, ob Tarón nicht derjenige war, der sich selbst gerade einen Anker an den Fuß band.
Durcheinander, kein Vorwurf, es tat ihm leid. Rúnar hatte nicht erwartet, dass ihn noch irgendwas heute überraschen könnte. Wie Tarón vorhin die Kontrolle verloren hatte, das war die eine Sache gewesen ... und jetzt, als es gerade so wirkte, als käme Tarón wieder in einen Zustand, in dem er die Kontrolle zurück erlangte, brannten ihm diesmal die mentalen Sicherung durch.
Rúnar streckte seine Hand nach Tarón aus, griff dessen Oberarm. Keine liebvolle Geste oder derartiges, einfach etwas um den anderen zu erden. "Tarón", sagte er, ruhig, aber mit genug Nachdruck. "Es muss dir nicht leid tun." (Was nur halb stimmte. Was passiert war sollte ihm nicht leid tun, nur das was, er sich oder ihnen beiden gerade einredete.) "Niemand wird etwas erfahren."
Dennoch kam Tarón nicht umhin sich angesichts der Tränen in Rúnars Augenwinkeln zu schämen. Er war es nicht gewohnt, dass jemand um seinetwillen Tränen vergoss, war zeitlebens der gewesen, der sich zusammenzureißen hatte. Darin war er an sich gut geworden. So gut, dass er den Teil, der nun als Wortflut aus ihm herausfloss selbst kaum kannte.
Noch immer sein Lächeln auf den Lippen – trügerisch, in sich selbst tief wie die See – beäugte er Rúnar einen Moment, wog erneut ab. Aber nun war er bereits im Fluss und seine Flut trug auch ihn mit sich – hinaus aufs Meer.
„Na schön…“
Ein Schluck, ein weiteres leeres Glas, das er nachfüllte. Doch für den Moment blieb das gewinnende Lächeln, hinter dem sich dennoch noch etwas anderes zu verbergen schien. Weniger greifbar. Gegen ihn selbst gerichteter Sarkasmus, der das Ganze leichter machte.
„Die nächsten zwölf Jahre verbrachte ich auf der Hangman unter einem Haufen echter Piraten.“
Erneutes Abwägen – diesmal jedoch kürzer. Vielleicht lag das am Alkohol, den der Falke langsam deutlicher spürte.
„Hm. Möglich, dass ich meinen guten Eindruck verderbe, aber auch das ist wohl Teil der Geschichte und von mir. Und du wolltest sie hören, also soll es nicht unerwähnt bleiben: wenn es eine Illusion gab, dass man als Pirat nicht früher oder später Blut an seinen Händen hat, muss ich sie dir jetzt nehmen. Ich habe einige Dinge getan, auf die ich nicht stolz bin. Dinge, die wahrscheinlich so nicht nötig gewesen wären. Schuld, nicht wahr? Ja…darum geht es schließlich…
die Hangman hatte einen üblen Ruf und sie verdiente ihn. Ich rede mir gerne ein, dass wir ja dennoch unseren Ehrenkodex hatten, uns an gewisse Dinge hielten – aber auch das rechtfertigt nicht alles was damals geschah. Wahrscheinlich half es uns allen nur uns nicht wie verdammte Hunde zu fühlen. Genauso wie die Überzeugung, dass wir es eben tun mussten, um zu überleben. Du magst mich anders kennen, Rúnar…vielleicht hoffe ich das auch nur– aber ich war nicht für meine Warmherzigkeit bekannt. Den Spitznamen „Falke“ trug ich nicht, weil der Vogel so hübsch ist. Je nach Blickwinkel waren wir ein netter Haufen – oder aber Dämonen der See. Aber es gab den Kodex, den Kodex… bis unser Käpt’n überschnappte. Und damit sind wir beim zweiten Monster in dieser Geschichte und vielleicht war er ein noch größeres, als Faran.
Barass war niemals ein angenehmer Mensch gewesen. Wenn jemand mit ihm gut konnte, war es Jack…aber das änderte sich, als er anfing aus reiner Mordlust zu töten. Und wie! Es kam schleichend…und ehe wir es richtig begriffen, war die Mannschaft zwiegespalten zwischen denen, die ihm überallhin gefolgt wären und denen für die die rote Linie längst überschritten war. Auf Jack hörte er schon lange nicht mehr. Nun…“ sein Blick wandte sich zur Seite, das Lächeln verschwand aus seinen Zügen.
„Jacks Fehler war es zu versuchen die Dinge zu ändern…nein…eher nicht zu sehen, was aus Barass geworden war. Es nicht sehen zu wollen, bis es zu spät war. Und als er sich dann mit mir davonmache wollte hatte er bereits bei der Mannschaft Unruhe gestiftet. Barass ließ ihn dafür kielholen…“
Nachdenklich schwenkte er den Alkohol, trank und sah wieder auf das Honigbraun im Glas.
„Damit endete die Geschichte von Black Tooth. Und meine Zeit auf der Hangman…ich habe das Schiff fünf Tage später am nächsten Hafen verlassen und zugesehen, dass ich Land gewinne. Doppelte Schuld – dafür, dass ich Jack nicht gerettet habe und dafür, dass ich Isa von da an nicht mehr besuchte. Ohne dass sie wusste, was aus mir wurde…ohne ein Wort oder Brief…“
Er hob das Glas etwas an, betrachtete, wie sich das Licht in ihm brach.
„Einfach so … weg…“
Die Lippen etwas schürzend sah er Rúnar an, dann leerte auch dieses Glas.
Rúnar lächelte zaghaft zurück, als Tarón ihn ansah, dann bedeutete, dass er weitererzählen würde -- als er sein Glas austrank presste Rúnar ein wenig die Lippen zusammen. Ein guter Teil der Flasche war schon leer und Rúnar hatte bisher gar nichts davon getrunken. Aber es war nicht an ihm zu bewerten, wie viel sein gegenüber trank. Der war selbst alt genug um derartige Entscheidungen zu treffen -- außerdem hatte Rúnar auch nicht gerade wenig getrunken. Nicht so viel wie Tarón, aber er war ja selbst auch ein Leichtgewicht -- und das merkte er bereits.
Schuld -- und Blut an den Händen. Jawohl. Rúnar hatte dahingegen keine Illusionen mehr. Im Kielwasser eines Blutbads und inmitten dem himmelhohen Licht einer brennenden Stadt hatte er sich der Sphinx-Crew angeschlossen. Er hatte gewusst, auf welche Menschen er sich einließ. Immer wieder hatte er vor Augen, wie er seine Harpune aus dem Brustkorb des toten Mannes da in der Gasse auf Lacrinîn zog. Immer wieder. Trevor hatte sie in den Körper des Kopfgeldjägers befördert gehabt und ein wenig später hatte er Rúnar bei der Hand genommen und ihm damit bedeutet, dass er bei ihm und der Crew sicher war. Und wenn er genauer darüber nachdachte, dann war er das bisher auch gewesen. Bei ihnen, ja. Mit ihnen, nein. Aber er konnte aufhören sich einzureden, dass er nur vorübergehend da war. Er wollte bleiben.
Tarón sprach Rúnar nun wieder mit seinem vollen Namen an. Ihm war nicht entgangen, dass er ihn bei einem Spitznamen genannt hatte. Das hatte bislang sonst keiner aus der Crew getan -- außer Trevor, aber das hatte eine ganz andere Konnotation. Ein betrunkener Trevor hatte sich nur einfach nicht Rúnars Namen merken können und nun würde er ihn wohl bis ans Ende seiner Tage 'Daggi' nennen. (Wunderbar.)
Als Tarón das Kielholen erwähnte, verzog Rúnar kurz das Gesicht. Allein die Vorstellung davon, das bei einem Fremden mitbekommen zu müssen -- und dann auch noch jemandem, der ihm wichtig gewesen war. Schien so, als hätte Tarón durchweg Leute verloren oder zurückgelassen, die ihm etwas bedeuteten. Aber nun hatte er zumindest wieder Isa. Und ohehin hatte er die ganze Crew. (Und im besonderen hatte er Rúnar -- diesen Gedanken erstickte Rúnar allerdings im Keim bevor er richtig aufblühte.)
Ende zweiter Akt, exeunt Tarón und ein weiteres Glas Rum.
Exit Rúnars wieder zimmerwarmes Bier -- besser wurde es ja nun nicht. Dann schob er den leeren Krug von sich weg und schank sich einen kleinen Schluck Rum ein. Er wollte ja nicht unhöflich sein und das Glas, das Tarón ihm mitgebracht hatte, unbenutzt lassen.
Dann sagte er: "Zuerst einmal schaffst du es wahrscheinlich nicht mehr so leicht, meinen Eindruck von dir zu verderben."
Rúnar hatte selbst das Gefühl, dass er in den letzten Monaten reichlich abgestumpft war gegenüber jeglichen moralisch bedenklichen Dingen. Wobei das Tarón ja nun gar nicht mehr akut betraf. Tarón hatte sein Monster von einem Onkel beseitigt -- gut so. Er war mit einer Crew gereist, die nicht nur einen fragwürdigen Kodex gehabt hatte sondern einfach darauf geschissen hatte -- das tat er nun aber nicht mehr.
Aber Schuld ... das war es eben.
"Und mir war auch klar worauf ich mich einlasse, wenn ich mich der Sphinx-Crew anschließe. Ich glaube, es weiß keiner außer Trevor -- den hatte ich nämlich als erstes aufgegabelt -- aber ich habe damals gezielt nach der Sphinx-Crew gesucht. Erschien mir sinnvoll mit Piraten zu reisen. Hat sich dann rausgestellt, dass die Piraten weit weniger schlimm waren als in meinen Vorstellungen. Aber die Dinge, die mit den Piraten einhergehen hab ich mir anders vorgestellt." Er seufzte. "Müssen wir jetzt aber nicht alles nochmal aufrollen." Darüber hatte Rúnar sich eben zu genüge beschwert.
Er nahm den einen Schluck rum, den er sich eingeschenkt hatte. Ließ ihn kurz auf seiner Zunge verweilen -- für den Geschmack -- und ließ ihn dann brennend seine Kehle hinabfließen. Dann stellte er das Glas wieder ab. "Und ich muss dich leider darin bestätigen, dass du noch immer nicht gerade für deine Warmherzigkeit bekannt bist -- aber dafür hast du andere Qualitäten", sagte er, grinste und klopfte leicht auf Taróns Schulter.
Schließlich wandte auch Rúnar sich dem Rum zu, als er sein – erneut ziemlich schales, dem Auge nach – Bier heruntergekippt hatte. Der Stand der Flache leerte sich bereits bedenklich und Tarón nahm kurz zur Kenntnis, dass er nun wenigstens behaupten konnte, sie hätten sie zusammen platt gemacht.
Ein sanftes Lachen des Falken, das die feinen Fältchen um seine Augen erreichte.
„Na da bin ich ja froh.“
Es klang ironisch – aber das war er tatsächlich. Generell interessierte es ihn relativ wenig, was andere von ihm dachten – relativ. Bei Rúnar schien ihm das jedoch aus irgendeinem Grund wichtig. Vielleicht weil dieser – anders als ein Großteil der Crew – noch nicht so abgebrüht war. Kein grobes Raubein oder ein cleverer Trickser…niemand der über Leichen ging, um seinen Vorteil zu bekommen – dafür jemand, der tatsächlich Interesse an echten zwischenmenschlichen Beziehungen hatte. Jemand, der noch genügend Vertrauen für so etwas in sich fand.
Obwohl er wohl doch schon einiges begriffen hatte…
„Ausgerechnet Trevor…“ er gluckste in sein Glas, trank kopfschüttelnd. Trevor war für ihn noch immer eine absolute Wild Card, die er kaum einzuordnen wusste. Er merkte sich für später, dass Rúnar und den verrückten Chaoten vielleicht etwas verband und er den blassen Freund vielleicht zu ihm befragen konnte, ohne sich selbst mit Trevors wirrem – und für ihn wirklich anstrengenden – Selbst befassen zu müssen.
Aktuell jedoch dachte der Falke über Rúnars weitere Worte nach, lächelte in seinen Drink, neigte den Kopf ein wenig, trank.
„Das ist tatsächlich äußerst interessant…hast du bei den Kopfgeldjägern von ihnen erfahren?“
Oder von den Steckbriefen? Hatte Rúnar im Vorfeld von der Morgenwind gewusst? Wusste er es jetzt? Tarón erwähnte das Schiff und sein Schicksal nicht, sich wohl daran erinnernd was Luciens Gesicht ihm verraten hatte, als dieser ihn aufklärte, dass dies das Werk der Sphinx gewesen war. Und bei aller Vertrautheit – die Karten seines Käpt’n spielte Tarón niemandem in die Hand. Von dieser konnte er nicht ganz sicher sein, ob Lucien sie nicht vielleicht selbst bereits gespielt hatte oder Rúnar die Info von jemand anderem bekommen hatte – was wahrscheinlich war…aber eben nicht zwingend richtig.
Erneut lachte er leise, diesmal jedoch wieder mehr in sich hineinschmunzelnd.
„Diese Piraten sind weniger schlimm, aye. Eine verdammt gute Bande, wenn du mich fragst…aber kein guter Maßstab fürchte ich. Deine vorherige Vorstellung ist wahrscheinlich weit näher an der Wahrheit der meisten Schiffe dran...“
Mit der Sphinx hatte Rúnar damit verdammtes Glück gehabt…Taróns Blick glitt über seinen Freund, dessen feines blondes Haar, lang geworden in der kurzen Zeit, die weichen blassen Züge…fast feminin…passend zu den geschwungenen Lippen….
Tarón blinzelte…Runar wäre ein gefundenes Fressen an Board der Hangman gewesen – in jeder nur erdenkliche Art.
°Nein Rúnar…worauf du dich eingelassen hättest, wäre es nicht so gut gelaufen, war dir nicht klar…sonst hättest du es nicht getan…°
Aber es war gut gegangen – so gut, dass sie nun hier saßen und Tarón sich, obwohl er noch nicht einmal am Ende seiner Erzählung angekommen war, bereits anders fühlte…besser. War es so einfach? Wäre es die ganze Zeit so einfach gewesen? Er wusste, dass das zugleich trügerisch, wie auch die Wahrheit war. Trügerisch, weil es nur ein Teil dieses Puzzles war sich das Herz auszuschütten und er damit noch nicht einmal fertig war – der schmerzhafteste Teil kam erst,- wahr, weil dieses Teil dennoch einen zentralen Punkt in der Lösung einzunehmen schien.
Und plötzlich lag Rúnars Hand auf seiner Schulter und klopfte leicht darauf, während Tarón sie anstarrte, ehe sein Blick mit leicht gesenkten Brauen und verengten Augen zu ihm herübertaumelte.
„Hey! Hast du gesehen, wie warmherzig ich zu James war? Also bitte, das muss doch zählen?“ An sich war das Nichts, das er zum Lachen fand und nüchtern hätte er diesen Witz nie gemacht – dafür war ihm das ganze Thema um die Angelegenheit herum zu schwerwiegend…seine Drohung zu ernst gewesen. Denn was er James angedroht hatte wäre er bereit gewesen umzusetzen. In dieser Sache hatte er sich nicht geändert. Nun aber machte der Rum seine Zunge leicht und sein Hirn wolkig und er konnte sich tatsächlich ein kehliges Lachen darüber entringen, wenn er an James dumme Fresse nach dem „Kuss“ dachte.
Er trank sein Glas aus.
„Naja ok…vielleicht ist es besser so. Dann hat keiner falsche Hoffnungen…ok…lass mich die Geschichte zum Abschluss bringen.“
Das war ein verdammter emotionaler Wellenritt…aber einmal angefangen wollte er es abschließen…und das ging nur wenn er von Aylah und der Aurora erzählte und sich damit noch einmal hinab an den Meeresgrund wagte, auf dem seine Erinnerungen lagen.
„Zwei Dinge kommen noch. Die wahrscheinlich bedeutendsten für mein kleines Trauerspiel- aber ich versuche mich kürzer zu fassen...kann mir denken, dass das Ausmaß meines Geheuls selbst den geduldigsten Rahmen sprengt...also: Bühne auf für den dritten Akt und das vorläufige Finale.
Ich heuerte auf verschiedenen Schiffen an, ehe ich auf die Aurora kam. Ein prächtiges Ding...mit prächtigen Menschen. Auch sie hatte ihren Ruf. Auch er verdient, aber das war etwas anderes als mit Barass. Käpt’n Frámor hatte eine gewisse ...Klasse.“
Ein Mann von Format…mit Rückgrat…ein Freund.
Tarón griff noch einmal zur Flasche und schenkte sich nach. Trank.
„Die Dinge liefen gut, auch wenn ich nicht konstant bei der Aurora blieb, sondern die Schiffe öfters wechselte. Vielleicht war ich es leid mich zu sehr zu binden… Aber sie liefen so gut, dass ich kaum mehr an Isa dachte...oder an Jack...Faran...“
Schuld. Vergraben selbst in den guten Erinnerungen.
„Auf Lilanja traf ich eine Frau - Aylah - und wir verliebten uns. Also doch wieder eine Bindung…und was für eine…“
Sein Blick verklärte sich einen Moment im Andenken an sie und ein feines, trauriges Lächeln voller Liebe floss über seine Züge wie eine sanfte Welle über verblassende Fußabdrücke.
„Sie war wunderschön – nicht nur ihr Körper, auch ihr Herz…“
Mit einem Kopfschütteln brach er die Trance der Erinnerung.
„Hmpf... nunja. Sie hätte dich wohl besser verstanden, als ich es kann. Aylah war die Tochter eines ziemlich wohlhabenden Händlers und wie du schon recht früh jemanden versprochen worden, den sie sich niemals selbst ausgesucht hätte. Schätze, ich hab dem Arschloch ganz schön die Tour versaut...oder hätte es, wenn die Dinge nicht gekommen wären, wie sie kamen.
Ich wollte sie mitnehmen...mit ihr durchbrennen, wenn sie nicht auf einem der Schiffe mit mir bleiben wollte. Egal wohin - überall hin. Für sie wäre ich bis in die achte Welt gefahren. Aber diese Reise trat sie dann allein an...
Ich fand sie an dem Strand, an dem sie auf mich warten wollte, doch anstatt eines Neuanfanges für uns beide wurde es ein Abschied. Ich konnte bereits Nichts mehr für sie tun - das sagt mein Verstand. Die Schuld sagt mir ich hätte früher da sein müssen oder etwas ahnen. Dass ich, wie ich vorher sagte, versagt habe, als sie mich brauchte. Aber es gab Dinge, die sie mir nicht erzählte...das weiß ich nun, auch wenn ich noch immer nicht weiß, um was es sich genau handelte. Ich fand sie mit mehreren Stichverletzungen am Strand verbluten... meine Sonne sank mit der an diesem Abend auf Lilanja…“
Er schüttelte den Kopf und kippte das halbe Glas hinunter.
„Vielleicht sollte ich besser zum Theater…melodramatischer Holzkopf…
Was mir von ihr blieb ist die Echse.“
Das und eine Strähne dunklen Haares – aber das musste er nicht auch noch erwähnen…er machte sich so schon zum sentimentalen Trottel.
„Calwah gehörte vorher ihr...und ich schwor ihr mich um ihn zu kümmern. Schuld...oh Schuld...tja du hast wohl doch recht, Runar. Warum sonst das Echsenvieh?“
Sprach er seine Gedanken von vorher nun aus.
„Ich nahm Calwah und begrub meine Geliebte und kehrte zu meiner Crew zurück. Wechselte die Schiffe, fand zurück in meinen Trott…und blieb schließlich bei der Aurora, weil ich mich auf ihr am ehesten Zuhause fühlte.“
Der Rest des Glases folgte er ersten Hälfte.
„5 gute Jahre…Jahre, in denen die Crew zu meinen Freunden wurde…und dann brachte ich ihnen den Tod.“
Zum ersten Mal an diesem Abend glitzerten Tränen in Taróns Augenwinkeln, als er den Blick von seinem Glas hob und Rúnar direkt ansah.
„Ich. Und niemand anders ist dafür verantwortlich…die Aurora gibt es nicht mehr – genauso wie Käpt’n Frámor, handsome Jim, Sprok , Curly…Wünsche, Ausreden…‘ich habe es nicht wissen können‘. Aber ich hätte es wissen müssen! Ich hätte auf den Instinkt von Frámor vertrauen müssen, anstatt ihn dazu zu überreden diese Passage zu nehmen…wozu?…weil ich es wollte! Weil ich – und nur ich - zu dieser Pissinsel wollte, um irgendwas über dieses Mistvieh zu erfahren, das Aylah mir aufgezwungen hat. Aber ich habe sie überredet…ihnen die Sache schmackhaft gemacht, bis sie zustimmten…“
Und grade sagte er mehr, als er eigentlich gewollt hatte, doch nach der Ruhe, kam der Sturm erneut zurück und peitschte ihm mit beißender Gischt die Tränen in die Augen.
„Ich weiß nichtmal wer die Typen waren, die uns versengten…“
Er wusste jedoch warum…aber das, zumindest das, behielt er für sich.
„Aber sie lauerten in einer Nebelbank…he…ironisch, oder? So ähnlich hatten wir es mit dem verfluchten Handelsschiff vor. Sie lauerten uns auf und sie schossen die Aurora in Stücke und beförderten sie auf den Grund des Meeres…wir kamen noch ein Stück weit, deshalb kamen sie nicht zum entern…aber auch das hätte keinen Unterschied gemacht. Die Aurora sank, meine Freunde sanken mit ihr und verrotten nun am Grund des Meeres. Wegen mir. Und ich? Ich sitze hier und saufe Rum. Scheiße!“
Er schloss die Augen, lehnte den Kopf nach hinten und eine einzelne Träne löste sich aus seinem rechten Augenwinkel, als er tief durchatmete.
„Wenn jemand tot am Meeresgrund liegen sollte, dann ich. Nicht Jack, nicht Frámor oder einer der anderen. Und auch Aylah sollte am Strand stehen und mit ihrer Echse spielen, anstatt in einem feuchten Grab zu liegen…vielleicht sollte selbst Faran bei Maira sein…“
Sein Kopf kippte wieder nach vorne, die Augen – blau wie die See – öffneten sich wieder. Er lachte bitter.
„Nein…die ist auch tot…aber er wäre bei ihr gewesen…ihr verschissener Mann. Nein…der Bastard hat den Tod mehr als verdient…diese Schuld zumindest werde ich nicht tragen.
Nun, aber damit wären wir hier, oder? Ich schaffte es meinen Arsch zu retten – so wie immer! Weil das so läuft und Männer, die es nicht verdienen leben, während andere mit den Fischen schwimmen. Ich fand irgendwie zu dieser Scheißinsel mit den scheiß Kopfgeldjägern…und ich roch den Haufen Mist, den sie anzünden wollten…erkannte und nutzte meine Chance, weil ich gut darin bin! Oh, so gut! Und so trafen wir uns auf der Sphinx, mein hübscher Rúnar. Nur um hier zu sitzen und darüber zu reden, was Schuld ist. Vielleicht verstehst du meinen Wunsch nun – und ja. Ja verdammt es ist ein Wunsch. Und es ist Glaube. Was soll ich tun? Jetzt? Heute? Wenn ich mich mit der neuen Pistole hier...“
Und er zog sie hervor, legte sie auf den Tisch zwischen sie.
„..erschieße, weil ich die Schuld nicht ertrage…macht das irgendetwas besser? Holt sie das zurück? Oder mein Geheule, meine Trauer, meine Wut?“
Er atmete schwer seufzend aus, so als wäre er hunderte Meter gerannt, sah auf das raue Holz des Tisches.
„Nein. Mein Punkt und mein Fazit. Schuld bringt niemandem etwas.“
Seine Augen hoben sich und müde sah er Rúnar mit einem schiefen traurigen Lächeln an.
„Und doch ist es schwer sie loszulassen…“
Rúnar quittierte Taróns ironische Bestätigung darüber, dass er es nun nicht mehr bei dem anderen Mann verscheißen konnte, mit hochgezogenen Augenbrauen und einem aufgesetzten Gesicht, das ein ebenfalls ironisches, Na, dann eben nicht, bedeutete.
Als Tarón dann darüber schmunzeln musste, dass es ausgerechnet Trevor war, den Rúnar aus der Crew aufgegriffen hatte, zuckte Rúnar nonchalant mit den Schultern -- aber die Art wie er lächelte, machte deutlich, dass er es ebenso amüsant fand wie Tarón.
Seine Augen verweilten kurz auf Tarón -- und er lächelte noch immer, ein wenig abwesen, während er beobachtete wie Taróns Lippen sich zu einem Lächeln kräuselten und er sie dann an das Glas setzte.
Taróns nächste Frage holte ihn wieder zurück auf das Gesamtbild -- das Gespräch zwischen ihnen. Ob er von den Kopgeldjägern von der Sphinx erfahren hatte? Nein. Rúnar schüttelte den Kopf und sagte: "Ich war sozusagen auf Lacrinîn gestrandet und wollte endlich eine Mitfahrgelegenheit, die nicht Geld verlangte, das ich nicht hatte; mir Arbeit abschlug, die sie mir nicht zutraute; oder schlicht und einfach keine Lust oder Kapazität hatte, jemanden mitzunehmen. Ich hab dann in der Taverne gehört, dass ein Schiff mit roten Segeln vor kurzem eingelaufen war und dass das Piraten waren." Er schmälerte die Lippen zu einem Halblächeln. "Und der Rest ist Geschichte."
Zu Taróns Kommentar über seine Vorstellung von Piraten nickte Rúnar nur etwas nachdenklich -- er hielt sich allerdings bewusst davon ab, in dieses Gedankenloch zu stürzen. Sonst überlegte er es sich vielleicht doch nochmal anders damit, auf der Sphinx zu bleiben. (Natürlich würde er das nicht. Wenn ihn auch sicherlich weiterhin die Zweifel plagen würden, über die er sich bei Tarón ausgelassen hatte.)
Als Tarón die Situation mit James erwähnte, musste Rúnar laut auflachen -- und hoffte, dass Tarón nicht bemerkte, wie er wieder errötete. Denn das erste, an das er sich dabei erinnerte, war, wie er sich gerne an James' Stelle gesehen hätte. (Natürlich unter anderen Umständen.) Und da wurde ihm bewusst, dass das der Moment gewesen sein musste, in dem es ihn getroffen hatte. Zumindest so, dass es am heutigen Abend dazu geführt hatte, dass ihm deutlich bewusst wurde, wie sein Herz schneller schlug in der Gegenwart des anderen; wie ihm danach war, Tarón zu berühren, sei es auch nur die Hand auf seiner Schulter, oder die Finger in seinen Haaren, oder die Lippen auf seinen, oder--
Rúnar atmete tief ein und fuhr sich kurz mit der Hand übers Gesicht.
Falsche Hoffnungen, hm? Wahrscheinlich konnte er sich das ganze einfach sowieso abschminken. Dieser Kuss mit James war ja nicht aus Zuneigung oder gewesen. Er war zur Lehre gewesen. (Wie und ob das fragwürdig war, war Rúnar im Moment egal.)
Rúnar atmete nochmal ein -- aus -- um wieder konzentriert zuhören zu können. Dritter und letzter Akt ...
Mein Rahmen ist sehr flexibel, dachte er. Aus Eschenholz oder so.
Wie bitte?
Zum Glück hatte er aufgehört zu trinken -- sowas hätte nüchtern nicht seine Gedanken gekreuzt.
Doch er hörte weiter zu. Seine Augen folgten Taróns Hand, als er zur Flasche griff und dann sein Glas an den Mund hob um daraus zu trinken. Kurz hatte Rúnar den Impuls, die Flasche zu nehmen und sie weiter zu seiner Seite des Tisches zu ziehen, aber er tat es nicht. Wenn es Tarón half, seine ... Sache so zu verarbeiten, dann musste das eben so sein. Fürs erste.
Dann sank sein Herz, als Tarón von Aylah zu sprechen begann. Zunächst, weil er also annahm, dass Tarón eben doch nur Interesse an Frauen hatte -- das war aber unlogisch per se, denn das musste sich ja nicht auf ein Geschlecht beschränken. Dann aber, weil ein gewisser Ausdruck über Taróns Gesicht huschte. Die Art wie sein Gesicht sich veränderte, bedeutete für Rúnar, dass er niemals jemand anderen so ansehen könnte, wie die Gedanken an diese Frau.
War Rúnars Herz eben noch gesunken, so spürte er es jetzt wieder fester schlagen. Oder eher schmerzen. Bei der Vorstellung, wie Tarón die -- offensichtlich -- Liebe seines Lebens tot oder beinahe tot vorfand.
Melodramatischer Holzkopf? Sicher nicht. Rúnar schüttelte den Kopf. Er wollte sich gar nicht ausmalen ... wieder hatte er das Bild vor sich von Nótts totem Körper auf der Weide, Sólfaris verzweifelten Schreien, als er versuchte mit seinem gebrochenen Bein aufzustehen.
Aber ein geliebtes Haustier oder gar ein Götterpferd war noch lange, lange, lange nicht die Liebe seines Lebens.
Aber was verstand Rúnar schon von Liebe.
Zum dritten Mal bekannte sich Tarón nun als Mörder. Aber auch diese Situation war anders -- es war kein kaltblütiger Mord, kein Mord im Affekt oder dergleichen. Es war die Schuld, die sich Tarón selbst zuschrieb, die ihn zum Mörder machte. Sonst nichts. Nur er sah sich selbst so.
Wieder musste Rúnar seine Hand auf sein Herz pressen, als er bemerkte, dass Tränen in Taróns Augen standen -- sofort schossen ihm Tränen in die seinen.
Der charakterstarke, immer bestens gelaunte Tarón mit der lustigen, bunten Echse. Es musste unglaublich wehtun, diese Erinnerungen hervorzuholen und Rúnar konnte den Schmerz regelrecht an seinem eigenen Körper spüren.
Ihm liefen schon lang die Tränen hinab, als sich auch eine aus Taróns Augenwinkel löste.
Rúnar hätte tausend Sachen sagen können: Du kannst nichts dafür. Was geschehen ist, ist geschehen. Du hast niemandem die Entscheidung abgenommen. Aber nichts davon wäre das richtige, geschweige denn in irgendeiner Weise hilfreich gewesen. Er wusste, dass das nichts an den Schuldgefühlen ändern würde.
Rúnar wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, als Tarón seine Augen wieder öffnete -- das blau glasig und wütend.
Ja. Ja, er verstand. Nein, er wusste nicht, was Tarón tun sollte -- verdammt, er wusste ja selbst nicht mal was er tun sollte. Natürlich war es eine rehtorische Frage gewesen, aber Rúnar suchte nach irgendetwas, das er sagen könnte.
Sein Herz machte einen Sprung beim Anblick der Pistole und bei Taróns -- hoffentlich noch immer -- rhetorischer Frage, ob es etwas besser machen würde, wenn er sich erschießen würde.
Er nickte, bestätigte damit Taróns letzten Satz, und griff dann langsam aber geschickte nach der Pistole und zog sie zu seiner Seite des Tisches, weit genug weg von Tarón. Natürlich dachte er nicht, dass Tarón sich an Ort und Stelle das Gehirn aus dem Kopf pusten würde -- es war eine Art non-verbale Kommunikation: Hier wird sich niemand erschießen. Und es machte nichts besser. Ganz und gar nicht.
Rúnar wusste noch immer nicht genau, was er sagen sollte. Aber er wollte etwas sagen -- begann mit: "Es tut mir leid ... dass ..."
Ja, was?
Was tat ihm leid?
Tarón im Allgemeinen? Oder dass alles für ihn so blöd gelaufen war? Dass er sich so schuldig fühlte? Dass er diese Bürde mit sich trug? Dass Rúnar dafür verantworktlich war, dass es in diesem Gespräch nun so weit gekommen war, dass sie beide betrunken und weinend dasaßen?
Ihm fehlten die Worte. Und er wusste gerade nicht, das anders deutlich zu machen, als seine Arme zu öffnen und zu fragen: "Willst du ... eine Umarmung?"
Nach wie vor registrierte ein Teil von Taróns Gehirn Rúnars Reaktionen und Regungen auf seine Worte – und er stellte fest, dass der Blonde eine Menge auch ohne Worte und allein mit seiner Mimik ausdrücken konnte. Das war auf eine Art erstaunlich – wie er selbst in seinem aktuellen Zustand noch bemerkte. Denn Rúnars Gesicht schien ansonsten oft reglos, beinahe ausdruckslos.
Aber auch das war vielleicht nur eine Maske – antrainiert? Gewählt?... Beides?
Dass sich dahinter auf jeden Fall eine große emotionale Tiefe verbarg, daran bestand kein Zweifel mehr.
Der analytische Teil von Tarón -wenn auch etwas vernebelt - schnappte automatisiert nach Rúnars Antwort zu seiner Frage bezüglich der Sphinx. Ahnungslos also. Gut. Vielleicht vorerst besser so… Allerdings zeigte sich in der Antwort erneut eine gewisse Naivität, die dem Jungen schnell das Genick brechen konnte, wenn an die Falschen geriet.
Tarón entgegnete seinen Abschluss zu der Frage mit einem Lächeln seinerseits…ja…es war Geschichte – eine, die sie hier her geführt hatte. Mit allen Höhen und Tiefen dieses überraschenden Abends. Für ihn jedenfalls, denn so hatte Tarón sich das sicher nicht vorgestellt. Bereite er es?...zumindest aktuell nicht. Noch immer fühlte es sich unvertraut und seltsam gut an sich das von der Seele zu reden.
Taróns Bemerkung dazu, dass die Sphinx keineswegs der Standard war, kam wohl an- Rúnar nickte -auch wenn der Falke noch immer sicher war, dass Rúnar keine wirkliche Vorstellung davon hatte, wie übel die Dinge für…nun für eine Person wie ihn werden konnten.
°Und was genau meinst du damit?...°
Fragte er sich kurz selbst, ehe der Gedanke bereits weg war.
Am Ende seiner Geschichte flossen bei Rúnar die Tränen – mehr noch wie bei ihm selbst, auch wenn Tarón nur noch erhaschte, wie sein Gegenüber die seinen schnell abwischte.
Bei Tarón reichte es am Schluss nur für die eine, die herabperlte und eine feuchte Spur auf seiner rechten Wange hinterließ. Vielleicht fand er einfach keine weiteren mehr in sich. Bereits am Strand von Lilanja hatten sie sich mit dem Meer vereint und auf dem namenlosen Strand, an den er sich mit Calwah nach der Katastrophe gerettet hatte – als er verstand was geschehen war und die Hoffnung darauf etwas von seinem Leben retten zu können anstelle seiner Freunde begrub.
Seine Augen flackerten zu der Bewegung, als Rúnar die Pistole von ihm wegzog. Ein amüsiertes und doch leer klingendes Aufglucksen, als er ihn mit geneigtem Kopf ansah.
„Du machst dir wohl Sorge, eh?“
Vielleicht ja zu Recht…an diesem Abend wusste er offenbar nicht wirklich was er tat…oder was er redete. Auch wenn er im Allgemeinen nicht der Typ dafür war einfach aufzugeben – Schuld und Schmerz hin oder her. Er streckte seine Hand jedoch nicht nach der Waffe aus. Vielleicht war sie aktuell bei Rúnar besser aufgehoben.
Er sah ihn weiter an, als die Worte unbeholfen aus Rúnars Mund stolperten. Es tat ihm leid…ja – das sah Tarón. Das Mitleid, das er gesucht hatte, hatte er endgültig gefunden Das Urteil war gefällt, auch wenn der Blonde es nicht aussprach. Und in Tarón löste sich ein Knoten. Offenbar war Rúnar immer noch gewillt sich mit ihm abzugeben. Sah kein absolutes Monstrum in ihm.
Bei den nächsten Worten des Blassen zog Tarón jedoch die Stirn in Falten, starrte irritiert, dann misstrauisch auf Rúnars ausgebreitete Arme. Schließlich lachte er leise.
„Scheiße, du willst mich doch verarschen!“
Er nahm die Flasche Rum, schwenkte den kläglichen Rest, der in ihr verblieben war und spülte ihn kurzentschlossen seine Kehle hinab. Sein Blick – überlegend, offenbar mehr schlecht als recht analysierend ob Rúnar ihn einfach auf den Arm (haha) nehmen wollte oder das etwa ernst meinte – glitt noch einmal über seinen Freund, dann durch den Raum, ehe er wieder bei dem Blonden ankam.
Gefundenes Fressen auf einem anderen Schiff…oh ja.
Tarón grinste ihn an, ließ die Flasche krachend auf den Tisch aufkommen und lehnte sich in die Bewegung
„Nein.“
Ehe er sich aufrichtete und aufstand (und dabei leicht schwankte).
„Aber ich brauch ne Zigarette!“ Er linste zu den Musikern hinüber.
„Und ich bekomm von dem Gedudel langsam Kopfschmerzen. Komm…sehen wir nach, was die Wellen machen!“
Und damit machte er sich auf den Weg nach draußen. Dabei nicht über irgendwen in der Taverne zu stolpern stellte sich dabei als schwerer heraus, als er vorausberechnet hatte. Irgendwie schien ihm ständig jemand in den Weg zu taumeln. Doch ein gewinnendes Lächeln hier, ein aus dem Weg geschobener Körper da und er erreichte den Ausgang doch noch, ohne eine Kneipenschlägerei auszulösen.
Draußen traf ihn die Kühle Nachtluft wie ein Kanonenschuss. Schwankend blieb er stehen und schloss kurz die Augen, um durchzuatmen und das Drehen etwas unter Kontrolle zu bringen.
„Verdammte scheiße, Rúni…du hast mich fast die ganze Flasche trinken lassen…“
Und jetzt merkte er das wirklich, denn obwohl er einiges vertrug trieb die Kälte ihm den Alkohol in den Schädel.
„Ach…wen interessierts… Wo ist der verfluchte Tabak…ah!“
Umständlich fummelte er das trockene Kraut hervor und drehte sich genauso ungeschickt eine krumme Zigarette.
Allein Taróns Blick wirkte schon seltsam zweifelnd, nachdem ihm Runar die Umarmung angeboten hatte. Seine Worte stießen ihn vollends vor den Kopf.
Ob Rúnar ihn verarschen wollte? Rúnar senkte die Arme, blinzelte.
Sein Kopf war für einen Moment einfach nur blank.
Ein einfaches, 'Nein, danke', hätte auch gereicht. Er war aber immer noch zu verblüfft um etwas dazu zu sagen.
Das 'nein' kam dann zwar auch noch, allerdings mit Nachdruck -- nachdem Tarón noch den Rest der Rumflasche ausgetrunken hatte und Rúnar zusammenzuckte, als der andere sie auf den Tisch knallte.
Das mit den Kopfschmerzen konnte Rúnar nachvollziehen. (Noch hatte er keine, morgen würde er die vermutlich haben. Das lag dann aber nicht an der Musik.) Er überlegte kurz, ob er Taróns Gestik und den Ton seines 'Nein' nachahmen sollte, einfach aus Trotz -- und wahrscheinlich weil er betrunken war -- aber der Gedanke an einen ruhigen Moment an der frischen Luft war verlockender.
Rúnar stand also ebenfalls auf, griff sich die Waffe vom Tisch -- ihre leeren Gläser konnten sie getrost dort stehen lassen, die Pistole liegen zu lassen wäre allerdings dumm. Entweder sie wurde missbraucht oder gestohlen. Letzteres würde wahrscheinlich im besonderen Tarón unglücklich machen und ersteres im besonderen Rúnar. Wenn ihr Tisch danach von jemand anderem eingenommen worden wäre, dann hatten sie eben Pech gehabt. Es war eigentlich ohnehin an der Zeit zurück zur Sphinx zu gehen -- was Rúnar nicht zuletzt daran bemerkte, dass Tarón schon nicht mehr gerade gehen konnte. Er folgte ihm zum Ausgang und murmelte immer wieder ein, "Verzeihung -- Entschuldigung -- Verzeihung", wenn Tarón jemanden anrempelte oder irritierte.
Rúnar ließ die Tür hinter sich zufallen. Trotz dass es kühl war, hüllte die Nacht ihn angenehm ein, in die Dunkelheit und das Zirpen von Zikaden und dem Geräusch der Wellen.
Er hörte Tarón tief durchatmen, stellte sich direkt neben ihn und richtete seinen Blick auf die Wellen, die in ihren Gischtspitzen das spärliche Licht von den Tavernenfenstern einfingen.
Rúnar wusste genau, warum Tarón ihm dann vorwarf, dass er ihn die ganze Flasche allein hatte trinken lassen. Er nahm es aber nicht als Vorwurf auf und Tarón war es -- seinen darauffolgenden Worten nach zu urteilen -- auch ziemlich egal. Rúnar spürte selbst, wie ihm der Alkohol nun zu Kopf stieg. Allerdings hatte er keine ganze Flasche Rum allein getrunken. Götter, das war wirklich eine ordentliche Menge. "Nächstes Mal halte ich dich frühzeitig davon ab", sagte er. Mit diesen Worte reichte er Tarón die Pistole. Nächstes Mal hätte Tarón vermutlich auch nicht das Bedürfnis so viel zu trinken. Immerhin schien dies ein Symptom seiner Offenheit was seine Vergangenheit anging gewesen zu sein.
Rúnars Herz machte einen Sprung als er daran dachte, wie viel Vertrauen ihm Tarón damit geschenkt hatte. Vor allem ihm, dem naiven, unverdorbenen Rúnar, der das Leben noch nicht in all seinen grausamen Facetten kennengelernt hatte. Und der gerade erst schmerzhaft lernen musste, dass er nicht so resilient war, wie er gedacht hatte. Vor allem im Vergleich zu der Resilienz Taróns. Rúnars Mundwinkel zuckte kurz nach oben, als er daran dachte, dass Tarón ihn verantwortungsbewusst beiseite genommen hatte und sich um sein Wohlbefinden gesorgt hatte, nur damit sie beide in Dingen herumgewfuhrwerkt hatten, die man besser in Ruhe ließ -- und letztendlich durfte Rúnar wahrscheinlich den Verantwortungsbewussten spielen und dafür sorgen, dass Tarón später heil bei seiner Hängematte auf der Sphinx ankam.
Er beobachtete Tarón dabei, wie dieser sich -- seinem Zustand geschuldet etwas ungeschickt -- eine Zigarette drehte. Dann fragte er: "Darf ich 'nen Zug?"
Das Lachen rumpelte tief durch Taróns Brustkorb, als Rúnar zusagte ihn das nächste Mal rechtzeitig davon abhalten zu wollen so viel zu trinken.
„Nächstes Mal…“ er wandte sich ihm zu und grinste verschmitzt.
„… trinkst du einfach richtig mit!“
Sein Blick senkte sich - eine leichte zickzack Linie beschreibend – auf die dargereichte Pistole.
„Ah, da ist sie hin! Sehr gut Rúnar! Gut aufgepasst, danke!“ Er streckte die Hand nach dem Ding aus, griff danach und verharrt noch kurz, „die hätte ich tatsächlich fast vergessen…“ ehe er sie aus Rúnars Hand nahm.
Das stimmte nicht – er hatte eher darauf vertraut, dass Rúnar sich darum kümmern würde, nachdem er sie schon halb an sich genommen hatte. Aber die Aussage kam ihm besser vor.
Die blauen Augen richteten sich auf Rúnars Gesicht , auch wenn Taróns Blick ein wenig schwankte, als wären sie schon wieder an Board der Sphinx. Überrascht zog er die Brauen hoch, dann lachte er, nachdem er selbst den ersten Zug des krummen traurigen Dings in seinem Mund genommen hatte.
„Oho, du rauchst? Nun…aber klar…ich muss eh mal pissen…“ Den Rauch ausblasend reichte er die „Zigarette“ an Rúnar… und wuschelte diesem in einem plötzlichen Affekt durch die blonden Haare, beließ die Hand einen Moment in den feinen Locken, während sein Blick sich diesmal doch auf ihn fokussierte.
„Danke, Rúnar…fürs Zuhören…“
Dann atmete er tief ein, löste die Berührung und wandte sich fast auf der Stelle um – was er bereute, denn das brachte ihn fast aus dem Tritt und er musste sich kurz an der Wand der Taverne abstützen.
„So! Nun aber!“
Seine Augen wanderten kurz über die Landschaft, ehe er sich für das angrenzende Stückchen „Wald“ entschied, auch wenn dieser Begriff für die kleine Ansammlung von Bäumen und Gesträuch wohl etwas hoch gegriffen war. Aber es war zumindest abgelegener und wohl doch etwas angebrachter, als seinen Schwanz gleich vor der Tavernentür rauszuholen, um das Bier wegzubringen.
Während er sich – sich vorsichtshalber mit der Rechten an einen der Bäume abstützend – erleichterte durchmaß sein Blick erneut die Dunkelheit und blieb schließlich an der fast malerischen Kulisse des Strandes hinter dem „Wäldchen“ hängen. Dieser Teil des Strandes lag in eine andere Richtung als die Sphinx und schien damit auch generell weit weniger frequentiert zu werden.
Also beschloss er -nachdem alles wieder eingepackt war, was eingepackt gehörte -kurzerhand sich diesen im Mondlicht fast leuchtenden Strand anzusehen. Dort würde er hoffentlich auch endlich das Gedudel der Musik nicht mehr hören müssen, denn das hatte ihn zumindest noch bis zu den Bäumen verfolgt. Schon ein paar Meter durch das Gestrüpp getaumelt kam ihm Rúnar jedoch wieder in den Sinn. Den konnte er ja nun nicht einfach so stehen lassen.
Sein Pfiff klang klar und deutlich, was er angesichts seiner Lage fast selbst erstaunlich fand.
„Ey, Rúni!“ rief er den anderen. Das würde wohl reichen, oder? Strand, genau! Da wollte er hin! Also machte er sich wieder auf den Weg.
Rúnar zog die Augenbrauen hoch. Richtig mittrinken ... wohl eher nicht. Er hatte nicht immer eine gute Impulskontrolle, aber die Alkoholgrenzen wurden nicht überschritten. Er erinnerte sich ungern an die Nacht in der Jón, sein Bruder und er bis zum Vormittag abwechselnd über der Toilette hingen.
Rúnar fing Taróns Blick ein -- oder versuchte es zumindest, denn der andere konnte wohl auch nicht mehr gerade schauen -- ließ sich die Pistole abnehmen und nahm die Zigarette entgegen. Dann fokussierte sich Taróns Blick doch noch und Rúnar stockte kurz der Atem, als Tarón ihm auch noch durch die Haare wuschelte. Wieder spürte Rúnar noch den Effekt seiner Berührung, als er seine Hand schon wieder zurückgezogen hatte. "Gern geschehen", sagte Rúnar, und hoffte, er hatte es ordentlich über die Lippen gebracht. Dann ging Tarón weg um sich zu erleichtern.
Rúnar zog an der Zigarette, sog den Rauch in seine Lungen -- hustete ihn sofort wieder aus. "Boah ... das ist ja widerlich." Er war kein Raucher. Er hatte noch nie geraucht. "Wer macht denn sowas freiwillig?"
Er behielt die Zigarette in der Hand -- die Spitze glomm rot und ein Rauchfaden stieg von ihr empor.
Was brauchte Tarón so lange? (Nun ja, er war eben betrunken.)
Rúnar drehte sich um zu der Baumgruppe, kniff die Augen zusammen, weil er Tarón nicht mehr sehen konnte. Verdammt -- was hatte er sich auch dabei gedacht, einen Betrunkenen allein zu lassen.
Dann erklang ein Pfiff und Tarón rief nach ihm. Den Göttern sei dank -- Panik nochmal abgewandt.
Was hatte er vor? Das Schiff war in die andere Richtung. Er hatte gesagt, er wolle sich die Wellen anschauen, aber Rúnar hatte das eher im übertragenen Sinne verstanden -- es war wohl wörtlich gemeint gewesen.
Rúnar ging mit zügigen Schritten in die Richtung, aus der Taróns Stimme gekommen war. So weit war er auch noch nicht gekommen und Rúnar holte ihn schnell ein.
Er hielt ihm die Zigarette hin, die mittlerweile ausgegangen war. "Hier", sagte er und fügte nochmal hinzu, "ist ja widerlich."
Malerisch – das traf es auch beim zweiten Blick ganz gut. Der Mond wurde nur von ein paar langsam vorbeiziehenden Wolken verdeckt und brach immer wieder aus diesen hervor, um den Sand und die Wellen vor Tarón in sanften Schein zu tauchen. Ganz nach seinem Geschmack.
Auch nach all den Jahren, die er nun auf den Welten wandelte, hatte die Faszination des Meeres den Falken nicht verlassen. Das gleichmäßige Rauschen, der Geruch nach Salz und Tang. Es gab nichts Schöneres als das Meer bei Nacht.
Diese Gedanken, dieser Eindruck spiegelte sich auch auf Taróns Gesicht wider, der den Strand in Richtung Wellengrenze entlangschlenderte und dabei ungleichmäßige Fußabdrücke im Sand hinterließ.
Als er bei einer Reihe vom Meer rundgeschliffenen Felsen ankam, holte Rúnar ihn ein. Dieser gab ihm die Zigarette zurück – kam angerührt, aber noch immer so kläglich, wie zuvor…und mittlerweile erloschen.
Tarón lachte leise, nahm das krumme Ding und Rúnars Kommentar gleichermaßen an.
„Wusste du bist kein Raucher! Passt auch nicht zu dir….man man, was hast du denn mit dem armen Ding gemacht?“
Fragte er nun, ganz so, als hätte die Zigarette je besser ausgesehen und Rúnar hätte sie erst in dieses…traurige etwas verwandelt. Er schüttelte den Kopf und ließ sie vorerst in der Manteltasche verschwinden, während er sich nun dem Meer zuwandte.
„Ich liebe solche Nächte…“
Murmelte er und als er sich nun wieder Rúnar zudrehte stieß er dabei gegen einen der kleineren Steine. Ins Taumeln geraten griff er wohl automatisch zu – und erwischte Rúnar am Arm…und den zog er nun mit sich, als er sich recht ungalant auf den Felsen hinter ihm „setzte“.
„Scheiße…sorry Rúni…“
Rúnar bemerkte Taróns Blick. Er blickte auf die See wie auf eine Geliebte. Das war das zweite Mal an diesem Abend, dass er diesen Ausdruck auf Taróns Gesicht sah und wieder erwischte er sich dabei, wie er sich vorstelle, dass Tarón ihn so ansehen würde. Doch die Vorstellung verdrängte Rúnar schnell wieder und löste sie mit einem anderen Gefühl ab: Neid.
Für ihn war die See nie etwas gewesen, das man lieben konnte. Nicht vollends. Die See war sublim. Sie war schön und bedrohlich zugleich. Für Rúnar war sie meist etwas gewesen, das man bezwingen musste, weil sie und alles in ihr einen sonst gnadenlos verschlang. Irgendwann. Irgendwann wollte er das Meer so ansehen können, wie Tarón es ansah.
Rúnar grinste in sich hinein, sah auf den nassen Sand zu seinen Füßen. Es hätte ihn auch gewundert wenn Tarón ihn für einen Raucher gehalten hätte. Er sparte es sich, Tarón darauf hinzuweisen, dass er ja die Zigarette wohl so zugerichtet hatte.
Er steckte die Hände in seine Manteltaschen, sah um sich als Tarón über die Nacht sprach. Ja, es hatte etwas. Ein Aspekt davon war vermutlich, dass Rúnar nichts mehr von der Apathie spürte, die er zuvor nich mit sich herumgeschleppt hatte. Teil davon war dem Alkohol geschuldet, der stattdessen einen angenehmen Schwindel durch seinen Kopf sandte. Ein anderer Teil davon war Tarón geschuldet, einfach ... weil er mit Rúnar gerade diesen Strand entlang lief und Rúnars Herz dazu brachte, schneller zu schlagen, wenn er ihn ansah.
"Ich--" Das 'auch' blieb ihm im Hals stecken, als Tarón ihn plötzlich am Arm packte. Rúnar schaffte es nicht rechtzeitig, seine Hände aus den Taschen zu nehmen um das Gewicht, das ihn zur Seite zog, auszubalancieren und seine Hände dämpften seinen Fall so: Die eine auf dem Felsen, die andere auf Taróns Brust. Sein eines Knie wäre um Haaresbreite in Taróns Schritt gelandet, stattdessen war es unsanft auf dem Felsen aufgekommen.
Tarón entschuldigte sich. Rúnar konnte seinen Atem auf seiner Wange spüren. Er brauchte einen Moment -- er war zu beschäftigt damit zu verarbeiten wie nah er Tarón gerade war.
"Macht nichts, Tarón", murmelte er. Sein Atem wurde etwas schwerer -- von der Anstrengung sich oben zu halten, von der Nähe, von dem Gefühl seiner Hand unter Taróns Schlüsselbein, dem Gedanken, wie es sich unter den paar Lagen Stoff anfühlen würde.
Er sollte aufstehen.
Jetzt.
Jetzt!
Aber alles krachte gerade auf ihn ein: die Atmosphäre, die Situation, ihr vertrauensvolles Gespräch von vorhin, die Wirkung des Alkohols und ganz einfache, banale Lust. Er sagte: "Ach, was soll's", und griff in den Kragen von Taróns Mantel, zog ihn an sich und küsste ihn.
Taróns leises Lachen angesichts der bizarren Situation (Angesichts seines Alkoholpegels wohl eher!) wurde abrupt erstickt als Rúnars Lippen plötzlich die seinen berührten -weich, wie die einer Frau, fordernd, leidenschaftlich.
Tarón – viel zu verblüfft davon, was geschah – unternahm für einen Moment garnichts, erwiderte den Kuss nicht, ließ ihn jedoch zu, als sein Verstand versuchte zu der Situation aufzuholen und sein verklärter Geist sich durch den Dunst kämpfte, den der Rum in seinem Kopf hinterlassen hatte.
Und trotz seines Zustandes kamen die Puzzlestücke nun zusammen, machte es „klick klick“ in Taróns umwölkten Schädel.
Das war es also – die Gesten und die Mimiken des Abends, die Worte und ihre Tonlage setzten sich zu einem weiteren Bild zusammen und fügten sich zu dem, was er zuvor schon beobachtet hatte.
Und jetzt reagierte auch sein Körper wieder. Taróns Rechte schoss hoch- eine umgekehrte Analogie zu dem Sturzflug des Vogels, mit dem man ihn oft verglich – und fasste Rúnars Kinn, während er ihn mit dem linken Unterarm ein Stück von sich schob. Jedoch nicht weit – die rechte hielt ihn noch immer so nah, das Rúnar Taróns Worte über seine eigenen Lippen zu fließen spüren glaubte.
Der Falke sah ihm in die Augen – Blau in Grau. Das Lächeln, dass seinen Mund kräuselte hatte etwas raubtierhaftes – zugleich etwas Grausames.
„So ist das also…“
Die Worte waren ein raues tiefes Branden der Wellen.
„Hm…
Deshalb, ja? Hast du ihn deshalb bei deiner Frau nicht hochgekriegt?...“
In Taróns Stimme klang etwas Gefährliches mit. Er nahm seinen Kopf zurück, betrachtete Rúnar einen Moment mit dem Ausdruck eines Falken.
Und irgendetwas in ihm erwachte. Vielleicht war es seine Art des Monsters, das wohl tief in jedem Mann lauerte. Ein Biest, rasend und düster…und voller Verlangen. Rúnars fein geschnittenes Kinn in seiner Hand…rau ließ er den Daumen über diese perfekten Lippen gleiten, hielt ihn nun nurnoch mit der Rechten wo er war, während seine Linke sich senkte, zwischen sie kroch und beinahe sanft über den Stoff von Rúnars Schritt glitt.
„Und wie sieht es jetzt aus?“
Taróns Stimme – ohnehin schon tief – schien noch eine Octave zu sinken und ein Knurren zu beinhalten.
Seine Hand in Rúnars Schritt verschwand – er nutzt sie um sich etwas aufzurichten – dem anderen entgegen. Seine Bartstoppel strichen an Rúnars Wange entlang, als er den Mund zu dessen Ohr führte, den Atem heiß und seltsam schwer in seiner eigenen Brust gegen die bleiche haut schlagend und über das Läppchen streichend.
„Willst du das Rúni…? Mich…?“
Seine Lippen streiften sein Ohr, hinunter zum Hals, wieder hinauf.
Und Tarón wurde sich klar, dass er selbst bereits hart, wie der Fels in seinem Rücken war.
Gegen den stemmte sich nun seine Hand, als er Rúnars Körper herumzwang, sich selbst über ihn wälzte – die Hand endlich von seinem Gesicht lösend – und ihn auf den Felsen pinnte. Der Anblick des anderen unter ihm war wie Alkohol im glühenden Feuer der Bestie. Ihr Verlangen tat beinahe weh.
'O-oh', schoss es durch Rúnars Kopf. Und auch immernoch etwas, das ihn drängte, jetzt sofort wieder aufzustehen. Etwas das ihn drängte, den Kuss zu vertiefen. Der Gedanke, dass er das ganze Vertrauen, dass sie an Land gezogen hatten in diesem Kuss wieder versenkte. Dass Tarón kein Interesse an Männern hatte. Dass Rúnar ihn an sich ziehen wollte. Dass er ihn auf tausend verschiedene Arten, an tausend verschiedenen Stellen an seinem Körper spüren wollte. Dass er es gründlich verschissen hatte. Dass er--
Tarón nahm ihm jegliche Entscheidung ab. Plötzlich waren seine Finger an Rúnars Kinn und er hatte Rúnar ein kleines Stück von sich weggeschoben. Rúnar ließ seinen Griff an Taróns Kragen locker, aber nicht los.
Sein Herz machte einen Sprung -- ihm graute vor Taróns Reaktion. Aber im nächsten Moment vergaß er wieder, den Teufel an die Wand zu malen, als der Atem des anderen auf seinen Lippen seine Sinne benebelte. Taróns cheshire-artiges Lächeln ... sein eindringlicher Blick ... seine tiefe, tiefe Stimme. Rúnar stockte kurz der Atem, dann stieß er ihn mit einem Seufzen aus. Ja, so war es.
Und das mit Ásta ... "Nein. Also, ja. Also--" Rúnar wusste wieder nicht wohin mit seinen Worten, als Tarón ihn betrachtete -- eindringlich, neugierig und scharf, wie der Falke der er war.
Rúnar schloss die Augen, als Taróns Finger über seine Lippen glitt -- wieder stockte ihm der Atem als er Taróns andere Hand in seinem Schritt fühlte. Wo Taróns Stimme dunkel und rau war, war Rúnars sanft und atemlos: "Das fragst du noch?"
Als Tarón sich zu ihm lehnte, löste Rúnar seine Hand von dessen Kragen und seine Finger legten sich sanft, fast unauffällig auf Taróns Hinterkopf. Er lehnte seine Wange in Taróns Hand, ein Schauer, ein Zittern fuhr einmal durch seinen ganzen Körper, als Taróns Atem über sein Ohr glitt. Bei dessen Worten krallten seine Finger sich in Taróns Haare und er antwortete, so fest wie es mit fehlendem Atem möglich war: "Ich will dich."
Rúnar stieß einen weiteren Atemzug aus, als Taróns Lippen seinen Hals entlang wanderten. Die kühle Meeresbrise auf der feuchten Haut jagten einen weiteren Schauer durch ihn.
Tarón stützte sich ab und Rúnar nahm seine Hand aus Taróns Haaren, umklammerte stattdessen seine Schulter, damit er sich leichter umdrehen ließ.
Taróns Kopf lehnte mit der Stirn zwischen Rúnars Schulterblättern, als er wieder zur Besinnung kam, zu Atem. Keuchend rollte er sich neben ihm auf den Rücken.
„Das war…der Wahnsinn...“
Erzählte er den Sternen über sich, ehe sein Blick zu Rúnar glitt.
„Bist du okay?“
Auf den letzten Metern dieses Sprints hatte er keinerlei Rücksicht mehr genommen, Rúnars Körper in völliger Vergessenheit benutzt, als hinge sein Leben von der Erlösung ab, die er ihm gegeben hatte.
[...]
Rúnars Brust hob und senkte sich noch immer mit schweren Atemzügen. Eine kühle Brise streifte seine schwitzige Haut und er erschauderte ein wenig. "War es", bestätigte er. Auf mehr als nur eine Art.
Er sah Tarón an. Dessen ebenfalls verschwitzten, wohlgeformten Körper. Als sein Blick bei Taróns Augen ankam, lächelte Rúnar und nickte. Er war okay. Und ein etwas suggestiver Blick folgte.
Dann ließ er seine Augen zum Meer schweifen -- wieder zurück zu Tarón. Er zog die Augenbrauen hoch. "Kurzes Bad?" Sand und andere Dinge loswerden.
„Götter, ich bin total fertig…“ murmelte der Falke sachte, während sich sein Herzschlag langsam wieder normalisierte und die kühle Luft das Fieber mit sich davontrug. Rúnar Nicken erwiderte er mit einem seichten Lächeln seinerseits.
Noch immer fühlte sich sein Kopf umwölkt an – nun jedoch wieder mehr vom Alkohol und nicht mehr vorn dem Wahnsinn, der ihn befallen hatte. Und sein Körper lag angenehm schwer auf dem Felsen.
Baden?...Er sah Rúnar an, dann wälzte er sich mit einem Seufzen herum und entledigte sich mit den Füßen seiner Stiefel. Gefolgt von der dümmlich rumhängenden Hose und seinen Socken.
„Bad.“ Bestätigte er. Das würde seinem Kopf vielleicht ganz guttun.
Was zum Henker war das gewesen?
Während er sich aufrichtete musterte er Rúnar, dann dessen zerfetztes Hemd…und lachte leise.
„Scheiße du siehst aus, als hätte man dich verprügelt…“
Seine Brauen zogen sich nachdenklich zusammen
„Was vielleicht garnicht so schlecht ist…“
Rúnar lächelte ein wenig in sich hinein. Hätte ihm jemand vor nur ein paar Stunden erzählt, was den Abend noch passieren würde, hätte er wahrscheinlich herzlich gelacht und wäre weiter seiner Wege gegangen. (Er wusste, dass dies bald in irgendeiner seltsamen Art und Weise an ihm nagen würde -- er wusste nur noch nicht, wann.)
Er sah aus als hätte man ihn verprügelt? Rúnar spiegelte Taróns Gesichtsausdruck. Etwas mehr Verwirrung lag vielleicht noch mit darin. Er sah an sich herunter. Sein kaputtes Hemd, das noch halb an ihm dran hing, zog er ganz aus, hob es kurz an einem Finger hoch um es resigniert anzusehen, und legte es dann zur Seite. Und hier -- während er begann, sich vom Rest seiner Kleidung auch noch vollends zu entledigen -- entschied sich sein Kopf auch schon dafür, ihn an der ganzen Sache nagen zu lassen.
Er hatte keine Nähsachen. Er müsste jemand anderen fragen, ob er sich Nähsachen leihen konnte. Vielleicht würde derjenige ja gar nicht genauer nachfragen. (Vermutlich würde er Gregory fragen. Der hatte sicher Nähzeug und er stellte generell nicht allzu viele Fragen.) Und wenn doch jemand fragen würde, was würden sie antworten? Würden sie die Wahrheit sagen? Oder sich eine Ausrede einfallen lassen? Was war das überhaupt gewesen? In einem Moment saßen sie noch betrunken und weinend in der Taverne und im nächsten trieben sie es auf irgendeinem Felsen am Strand. War das für Tarón nur dieses eine Mal gewesen? War es, weil er betrunken war? Sollte Rúnar ihm sagen, dass er vielleicht, möglicherweise, unter Umständen, ziemlich sicher Gefühle für ihn hatte? Aber fühlte er sich vielleicht nur so, weil er ebenfalls betrunken war?
"Sehe ich noch anderweitig vermöbelt aus?" Er konnte sich vorstellen wie und wo. Und was zur Hölle meinte Tarón mit, dass das wahrscheinlich gar nicht so schlecht war? Aber darüber musste Rúnar dann nicht weiter nachdenken. Sie würden sich eine Ausrede einfallen lassen. So war das also. War vielleicht auch gar nicht so schlecht. Solange seine Gedankenbrühe so seltsam trüb war. "Was sagen wir den anderen?"
„Auf keinen Fall sagen wir was hier wirklich passiert ist!“
Diese Antwort kam sogar für seine eigenen Ohren zu schnell und zu heftig aus ihm heraus.
Er seufzte, rieb sich über das Gesicht…und langsam sickerte die Erkenntnis darüber was sie eben getan, wozu er sich hatte hinreißen lassen, wirklich in seinen Geist.
„Das war einer der verrücktesten Abende meines Lebens…erst schütten wir uns gegenseitig das Herz aus und erzählen uns unsere Lebensgeschichten und dann…“
Er sah Rúnar an – nackt und bleich im Mondlicht, das zerrissene Hemd neben ihm - und wandte den Blick fast beschämt wieder ab.
„…und dann ficke ich nen Typen…wie in aller Welten ist es dazu gekommen? Ok…ok ich bin betrunken…aber…“
Erneut ging seine Hand zu seinem Gesicht, als würde das helfen seine Gedanken beisammen zu halten.
„Wir sagen wir sind in eine Kneipenschlägerei gekommen – ich hab sie verursacht, du hast eingesteckt…“ Er sah zu Rúnar, ließ den Blick flüchtig über die Blessuren gleiten, die er ihm verpasst hatte.
„Scheiße warum auch immer irgendein Kneipenschläger dir Bissmale am Hals und wer weiß noch wo verpassen sollte…“
Das Ganze wäre lustig - wenn es nicht so verdammt ernst wäre.
Und wie ernst es womöglich war, ging ihm selbst nun nach und nach auf, da der Rausch nachließ, der ihn überhaupt erst in diese Lage gebracht hatte – nicht der des Alkohols, sondern der seines eigenen Verlangens. Und nun fühlte er sich als würde er an einem Abgrund stehen – und der in einholende Sturm im Rücken wollte ihn jederzeit hinunter stoßen.
„Was wir hier…getan haben kann auf jeden Fall keiner der anderen erfahren. Darf keiner erfahren.
Leute wie…“
‚Du‘, wollte er sagen - doch stattdessen seufzte er, denn auch er war nun ‚so jemand‘. Er war an dieser Lage mindestens genauso schuld…eher mehr noch als Rúnar. Er wusste was so etwas bedeuten konnte!
„Leute die so...etwas tun... wir wären unseres Lebens nicht mehr froh!“
Und nun sprach er es doch aus – das, was ihm bereits bei ihrem Gespräch in der Taverne durch den Kopf gegangen war, denn Rúnar musste verstehen, wie die Karten lagen. Auch wenn Taron ihm damit weh tat.
„An Board jedes anderen Schiffes als der Sphinx wärst du damit in jedem Fall gefundenes Fressen gewesen. Erst hätten sie dich vergewaltigt und was von dir übrig wäre hätten sie mit durchschnittener Kehle über Board geworfen.“
Das wäre ihm zumindest auf der Hangman passiert. Daran hatte er wenig Zweifel.
„Wir können das keinen wissen lassen. Verstehst du das?“
Und ihm ging noch etwas anderes auf. Er kniff die Augen zusammen, stellte es klar bevor Rúnar nach diesem dummen Gefühl der Unzulänglichkeit greifen und es womöglich darauf schieben konnte.
„Nicht weil du zu schwach für dieses Leben bist oder so ein Mist...scheiße, mit mir hätten sie hiernach das gleiche gemacht...vielleicht hätten sie meinen Arsch verschont und mir dafür den Schwanz abgeschnitten...wie auch immer: Männer die Männer ficken...das ist auf einem Schiff wie ein Anker am Fuß!“
Oder ein Strick um den Hals. Machte keinen Unterschied.
„Was hab ich mir nur dabei gedacht?“
Garnichts, Tarón…garnichts hast du gedacht. Das alles hatte rein garnichts mit denken zu tun. Und nun war es zu spät.
„Und es hat mir gefallen…“
Er lachte leise auf – und es klang fast ein wenig hysterisch.
„Oh scheiße, hat es mir gefallen…
mein Kopf....
Das war ein Fehler…ein verdammt dummer Fehler.
und doch... wenn ich gewusst hätte wie es sein kann mit einem anderen Kerl...
Ich hätte da niemals auch nur dran gedacht, in keiner Fantasie in keinem Traum und da kommst du und dann passiert...das hier.“
Wieder lachte er.
„Götter, ich bin völlig durcheinander...“
Diesmal rieb die Hand stärker durch sein Gesicht, als könne er das, was geschehen war wie einen Flecken wegreiben. Sein Blick glitt zu Rúnar und er atmete durch.
„Das war kein Vorwurf Rúni...ich...ich weiß nur nicht was...ich weiß garnichts!“
Und das war für jemandem wie ihn ein verdammt beschissenes Gefühl.
Er atmete noch einmal durch, versuchte seinen Kopf dazu zu zwingen zu funktionieren.
„Das wird nie jemand außer uns erfahren. Verspricht mir das! Wir waren saufen, wir sind in eine Kellerei geraten und dich hat es mehr erwischt als mich - obwohl ich sie vom Zaun gebrochen habe... und danach…keine Ahnung haben wir irgendwelche Huren aufgegabelt oder weiß der Geier. Dann haben wir was für die Bisse…scheiße, Rúnar es tut mir leid…“
Rúnar zuckte ein wenig zusammen -- starrte Tarón an, die Schultern immer noch ein wenig hochgezogen. Taróns Monolog hielten Rúnar für ein paar Momente davon ab, sich zu sehr in seinen eigenen zu verlieren.
Seine Augenbrauen hoben sich. '... einen Typen', das hörte sich an, als wäre es davor noch nie passiert. Das wäre absurd.
Es war offensichtlich, wie verwirrt und aufgewühlt Tarón über die ganze Situation war -- er war, wie Rúnar selbst, gerade erst zur Besinnung gekommen, was eigentlich passiert war. Doch seine Gedankengänge gingen wohl einen ganz anderen Weg als Rúnars: einen sehr steilen Abhang hinab -- und Rúnar konnte nicht sagen, ob Tarón ihn gerade wider Willen mitriss oder ob Rúnar einfach vergeblich nach ihm zu greifen versuchen wollte. Vielleicht ja beides. Was auch immer es war, es war verdammt unangenehm.
Kneipenschlägerei, gute Idee. Tarón hatte sie verursacht, Rúnar hatte eingesteckt. Genau so fühlten sich Taróns Worte gerade auch an.
Leute wie -- wer? Rúnar zog abermals die Augenbrauen hoch. Sag jetzt eine falsche Sache--
Aber was dann? Rúnar konnte nicht so tun als wäre er ein Verfechter der Ehre ... seiner Leute. Er war, was das anging, mehr ein erbärmlicher Knappe als ein edler Ritter.
Und dann sagte Tarón eine falsche Sache. Und Rúnar ballte kurz die Fäuste -- aber tat nichts weiter. Es war nicht allzu lange her, dass er genau so gedacht hatte wie Tarón. Rúnars Selbstwertgefühl mit dieser Seite von sich stand noch immer auf eine enorm bröckeligen Fassade und Tarón hatte gerade mit der Faust hineingeschlagen und einen ordentlichen Riss verursacht.
Rúnar ließ nicht einsickern, was Tarón darüber sagte, was sie mit Männern wie ihnen auf Piratenschiffen taten. (Und sicherlich würde es später zurückkommen um ihn heimzusuchen.) Trotzdem spielten sich die Szenarien vor seinem inneren Auge ab und kurz begann das Blut in seinen Ohren zu rauschen. Er legte sich die Hand aufs Herz und atmete tief ein. Zum einen hatte Tarón es eben selbst gesagt -- auf jedem anderen Schiff als der Sphinx, aber sie waren nun mal Teil der Sphinx und nicht irgendeines anderen Schiffes. Zum anderen fragte sich Rúnar, ob Tarón nicht derjenige war, der sich selbst gerade einen Anker an den Fuß band.
Durcheinander, kein Vorwurf, es tat ihm leid. Rúnar hatte nicht erwartet, dass ihn noch irgendwas heute überraschen könnte. Wie Tarón vorhin die Kontrolle verloren hatte, das war die eine Sache gewesen ... und jetzt, als es gerade so wirkte, als käme Tarón wieder in einen Zustand, in dem er die Kontrolle zurück erlangte, brannten ihm diesmal die mentalen Sicherung durch.
Rúnar streckte seine Hand nach Tarón aus, griff dessen Oberarm. Keine liebvolle Geste oder derartiges, einfach etwas um den anderen zu erden. "Tarón", sagte er, ruhig, aber mit genug Nachdruck. "Es muss dir nicht leid tun." (Was nur halb stimmte. Was passiert war sollte ihm nicht leid tun, nur das was, er sich oder ihnen beiden gerade einredete.) "Niemand wird etwas erfahren."