22.05.2022, 14:34
Rúnar nickte ihm zu. Also hatte der Falke den Nagel wohl auf den Kopf getroffen und sich keineswegs geirrt was in dem Kopf des Jüngeren vor sich ging. Das Lächeln allerdings misslang diesem und wirkte eher wie eine schiefe Grimasse. Immerhin versuchte es Rúnar, aber im Grunde tat er Tarón leid, weil dieser ahnte, wie es sich anfühlte sich so…unfähig zu fühlen.
Ihm selbst war es so gegangen – ging es mitunter noch so. Seit der Aurora. Seit er so dermaßen versagt hatte, dass es seine Freunde das Leben gekostet hatte. Doch damit musste er leben. Und im Endeffekt musste er daran wachsen – oder darüber zugrunde gehen.
Rúnars Reaktion auf seinen kleinen Scherz brachte die Gedanken des Falken jedoch erneut auf andere Abwege. Wurde Rúnar…rot? Nun gut, vielleicht war ihm tatsächlich ein wenig zu nahe getreten…aber offenbar hatte das geholfen seine Zunge zu lösen, also war die Überrumpelungstaktik wohl aufgegangen – wenn auch verzögert, denn einem Moment schien irgendetwas...Anderes in Rúnis Augen kreisende Gedanken zu verraten. Hm…nein. Tarón hatte ihn sicher nur aus dem Konzept gebracht und er musste nun darüber nachdenken, wie er den Witz aufnahm. Und endlich taute Rúnars abwesendes Pseudo-Lächeln zu einem echten auf, als der Bursche aus seinem Gedankenmeer aufzutauchen schien wie ein nach Luft schnappender Wal.
Anstelle von Gischt spuckte dieser Wal jedoch Worte aus. Und Tarón hörte erneut zu.
„Dein Vater also. Nein ich glaube mir direkt hast du noch nicht davon erzählt.“
Daran würde er sich erinnern…ziemlich sicher. Aber da war sie doch – auch wenn Rúnar das offenbar selbst nicht sah: die lauernde Schuld. Die offene Rechnung. Die Ankerkette an seinem Bein…
„Du solltest dich tatsächlich fragen warum du es machst. Oder eher gemacht hast. Für mich klingt es danach, dass es genau das ist, was dich zurückzieht: Schuld. Du glaubst ihm das zu schulden. Ihm oder irgendwem der auf ihn wartet. Vielleicht auch dir selbst…“
Mit einem letzten Schluck leerte sich der Bierkrug. Taróns Brauen schoben sich kurz etwas unglücklich zusammen.
„Aber die Situation an sich hast du denke ich richtig analysiert. Ich kenne deinen Vater nicht, noch weiß ich, wie ihr zueinander standet…aber manchmal sollte man loslassen, ehe einen der Anker mit an den Grund zieht. Und lass mich dir eine kleine Weisheit mitgeben: wir schulden in diesem Leben niemandem irgendetwas. Schuld ist eine Wahl. Die kann man treffen – die Frage ist ob man das will und bereit ist die Konsequenzen zu tragen. In den meisten Fällen ist auch sie nur eine Form narzisstischer Selbstbestrafung.“
Und damit kannte er sich aus. Er selbst fühlte genug Schuld auf sich lasten – und auch in diesem Fall konnte er sich entscheiden ob er sie weiterhin tragen wollte oder nicht. Und wenn er es tat: wem diente es denn sonst, wenn nicht ihm selbst? Ihm, der sich in ihren Schatten stellen und sich darüber selbst bemitleiden konnte? Schuld war nur für eines gut: aus den Fehlern die zu ihr geführt hatten zu lernen. Schuld brachte keine Toten zurück. Und sie machte auch die Vergangenheit nicht ungeschehen… Vielleicht sollte er das für sich selbst auch noch einmal verinnerlichen.
„Du willst bleiben? Dann bleibst du.“
Er sah ihn einen Moment an, dann zuckte sein Mund leicht.
„Würde mich zumindest freuen.“
Und damit kamen sie zum zweiten Akt – der schiffbrüchige Prinz im Piratenland.
Oho – na da steckte doch einiges mehr an Feuer in dem Burschen, als er ansonsten zeigte.
Die Ellenbogen auf den Tisch gestützt, den Kopf auf die Hände schob Tarón sich erneut ein wenig näher zu Rúnar – allerdings bei weitem nicht so weit wie zuvor. Zuvor wollte er ihn irritieren – diesmal war es eine vertrauliche Geste, bei der er Rúnar tief in die Augen sah.
„Noch ein Geheimnis: Alle haben Angst.“
Nachdenklich verdrehten sich kurz seine Augen, ehe sie zurück zu Rúnar fanden.
„Zumindest gehe ich davon aus und zumindest trifft das auf jeden zu, der nicht ein vollkommender Narr ist. Hast du vor unberechtigten Dingen Angst? Hm? Nein. Jede genannte Sache war eine tatsächliche Bedrohung vor der dein Instinkt dich zu retten versucht. Männer ohne Angst sind Idioten – und nur allzu bald tote Idioten. Anstatt sie zu bekämpfen solltest du dich also vielleicht mit ihr anfreunden. Und damit mit dir selbst. Schonmal daran gedacht, dass du vielleicht gut bist, wie du bist?“
Seine Hand kam nach vorne und mit den Zeigefinger gab er Rúnars Stirn einen leichten Stups.
Damit zog er sich wieder zurück und stand auf.
„Und fürs Theater ist dein Kostüm zu schlecht. Da müssten wir dir erst Augenklappe und Holzbein besorgen.“
Witzelte er und hob dabei seine Brauen.
„Ich hol uns noch was zu trinken!“
Und mit diesen Worten ließ er ihn einen Moment alleine, ehe er mit zwei neuen Krügen – ungeachtet dessen, dass Rúnar noch an seinem ersten nuckelte - zurückkam und sich wieder setzte.
Rúnar hörte Tarón weiter zu. Nickte immer wieder um zu bedeuten, dass er aufmerksam war. Sah ihmmer wieder zwischen seinem Krug und dem anderen Mann hin und her. Aber sein Blick verweilte nie lange auf Tarón.
Er konnte allerdings nicht umhin Tarón direkt anzusehen, als der sagte, er würde sich freuen, wenn Rúnar blieb. Rúnar spiegelte den Ausdruck des anderen, zog leicht seinen Mundwinkel nach oben. Und ihm wurde in dem Augenblick mit warmem Herzen klar, dass die Crew der Sphinx wirklich zu seiner Familie geworden war. Er konnte sich sein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen. Er konnte sich sein Leben so oder so nicht mehr anders vorstellen. Es war dumm von ihm gewesen, auch nur ansatzweise daran gedacht zu haben, dass alles jemals so werden würde wie zuvor.
Rúnar hatte wieder in seinen Krug geschaut, als er hörte, wie Tarón sich bewegte. Als er dann hinsah, war der andere näher zu ihm gerückt. Rúnar stockte der Atem. Für einen Moment war sein Blick fest mit dem von Tarón verwachsen. Ihm fiel auf, dass selbst in Taróns Augen die See war. Ein Seemann durch und durch -- doch die Farbe glich weniger der tatsächlichen See. Die tatsächliche See war grau im Unwetter, grün im Hafen, tiefblau auf dem offenen, ruhigen Meer. Taróns Augen aber, waren wie die See in einem Gemälde: stürmisch, mit hohem Wellengang, Schiffe in sich hineinziehend -- aber von einem klaren, dunklen Blau, wie nur das ruhige Wasser und der klare Himmel es kannten.
Atmen, Rúnar.
Weiter zuhören. Taróns schöne Augen ignorieren.
Das gelang ihm -- dann stupste Tarón ihn gegen die Stirn. Rúnar gab etwas nach, lächelte amüsiert. (Und ignorierte gekonnt, dass er auch diesmal die Berührung des anderen überdeutlich wahrnahm. Unerhört. Aber er war ohnehin in einem seltsamen Zustand: leicht betrunken und äußerst verwirrt. Er müsste nur eine Nacht drüber schlafen, dann war das auch kein Thema mehr.)
Rúnar schnaubte kurz ein Lachen aus, als Tarón dann aufstand, um ihnen noch mehr zu trinken zu holen. Er mit Augenklappe und Holzbein -- das Lächeln verging ihm, als er sich vorstellte, dass das wohl tatsächlich passieren könnte. Obwohl ... es hätte auch beim Walfang passieren können; bei einsamen Ausritten auf frisch gebrochenen Hengsten; auch, als er schon auf See unterwegs war um nach seinem Vater zu suchen; auch in den Monaten, in denen er in der ersten Welt umhergesegelt war und einen Weg zurück nach Andalónia gesucht hatte. Ein Weg der jetzt irgendwo unterwegs zwischen ein paar Inseln und Piraten im Sande verlaufen war.
Götterverdammt, er war schon sein Leben lang Gefahren ausgesetzt gewesen, warum machte es ihm ausgerechnet jetzt etwas aus?
Vielleicht ... weil es ihn nun zum ersten Mal wirklich getroffen hatte. Sichtbare Spuren hinterlassen hatte. Er fuhr sich in den rechten Ärmel und seine Fingerspitzen glitten über das Ende er erhabene Linie die sich seinen ganzen Unterarm entlangzog. Eine tägliche Erinnerung daran, dass der Kopfgeldjäger ihn nur ein paar Zentimeter weiter rechts hätte erwischen müssen und Rúnar wäre wahrscheinlich verblutet.
Ein Bierkrug wurde vor ihm abgestellt. Er sah auf und zog seine Finger wieder unter dem Ärmel hervor. "Danke", sagte er und sein Blick folgte Tarón, als dieser sich wieder hinsetzte. Rúnar löste seinen Blick, nahm seinen angefangenen Krug und trank ihn in ein paar wenigen Zügen aus. Als er absetzte, verzog er kurz das Gesicht. Das Bier war nur noch lauwarm gewesen und immer noch um einiges bitterer, als das, was er gewöhnt war. Aber ihm war heute einfach danach, seinen Kopf zu benebeln, egal mit was. (Auch, wenn er eigentlich von jeglichem Nebel genug haben sollte.) Einfach nicht nachdenken müssen. (Auch, wenn es ihm viel Nachdenken abverlangte, Tarón wenigstens ein klein wenig kohärent von seiner Gedankenbrühe zu erzählen.)
Rúnar nickte. Mehr zu sich selbst. "Ich glaube, dass ich mir und meiner Familie und meinem Vater etwas schuldig bin. Oder ich fühle es. Daran glauben tue ich auch nicht wirklich. Ich werde nur das Gefühl nicht los." An diesem Punkt fragte Rúnar sich langsam, ob er einfach ein offenes Buch sondergleichen war, oder ob Tarón einfach unglaublich gut darin war, die Fäden zu verknüpfen, die lose in Rúnars Kopf herumflogen und lose wie sie in seinem Kopf waren auch aus seinem Mund kamen. (Auch, wenn er schon versucht hatte sie mit Jón zu sortieren.) Er nahm einen Schluck von seinem frischen, kühlen Bier. "Ich ... weiß wieder nicht, wo ich anfangen soll. Es ist ein kompliziertes Gefühl, das damit anfängt, dass ich meinen Vater liebe. Also einmal ganz von vorne: Ich war der Erbe meiner Familie." Er verschränkte die Arme, nahm einen tiefen Atemzug. "Darüber hab ich noch nie wirklich mit jemandem gesprochen, also darfst du dich geehrt fühlen." Er hob seine Hand mit dem Siegelring und dem Ehering. "Ich bin verheiratet. Meine Frau und ich, wir sind die besten Freunde -- aber wir haben keine romantische Gefühle füreinander. Warum haben wir geheiratet, höre ich dich fragen?" Sein Wortlaut wurde nun etwas zynisch. "Wir sind verlobt, seit wir zehn sind. In dem Alter stellt man sowas nicht in Frage -- die Familie weiß, was für einen gut ist, besonders wenn es eine Aristokratenfamilie ist. Wir sind verheiratet, seit ich zwanzig bin. Haben die Heirat so lang rausgezogen wie es ging, bevor es auffällig geworden wäre. Ich wollte mit meinem Bruder und meinem Schwager Pferde züchten, aber stattdessen sitze ich in einem Walfangboot seit ich fünf bin, weil es für mich vorbestimmt war, dass ich das Unternehmen irgendwann führe. Ich habe das nicht in Frage gestellt, weil es einfach schon immer so war. Ein Jahr verheiratet, Ásta und ich -- aber noch keine Kinder. Warum nicht? Weil wir die Ehe nie vollzogen haben. Mein Vater drängt mich die ganze Zeit damit, der Arzt sagt mit uns sei gesundheitlich alles in Ordnung -- ja, also warum gibt es denn nun noch keine Kinder, hm? Ich -- jemand, der Dinge so annimmt wie sie sind -- bereite mich also drauf vor, dass Ásta und ich Kinder bekommen werden. Ich hätte es gemacht -- die meisten Sachen sind einfacher, wenn man sie hinnimmt, oder nicht? Dann hab ich ein bisschen später in unserem Archiv nach Stammbüchern und Ahnentafeln geschaut. Hätte ja bald relevant für mich werden können. Nicht nur zur Namensinspiration oder derartigem, ich musste ja irgendwann mein eigenes Kind da eintragen lassen. Hab sie nach ewiger Suche zusammen mit Jón gefunden, weil sie irgendwie in der hinterletzten Kammer waren. Inklusive meiner eigenen Geburtsurkunde. Kam mir da schon seltsam vor. Was finde ich heraus? Ich bin nicht der Sohn meines Vaters. Ich bin also auch nicht der Erbe dieser Familie. Und meine ganze Familie wusste das. Ich bin mein ganzes Leben lang Dingen nachgegangen, von denen ich dachte, dass sie meine Pflicht sind. Waren sie aber nicht. Mein Onkel wollte schon immer das Unternehmen meines Vaters haben. Soll er es doch haben. Und ich habe endlich eine Erklärung dafür, warum es ihm immer so arg gewesen war, dass ich es bekommen würde. Und dann habe ich tagelang nicht mit meinem Vater geredet, weil er sich geweigert hat, das mit mir auszudiskutieren. Und dann waren wir zusammen auf Walfang, weil man ja wegen eines blöden Streits nicht direkt seine Arbeit vernachlässigt -- ein Unwetter ist aufgezogen und er ist verschwunden während ich wie ein Feigling unter Deck saß und gewartet habe, bis der Sturm sich legt."
Rúnar atmete tief ein -- wieder aus. Ließ seine Fingernägel gegen den Krug klinkern. "Warum suche ich also nach meinem Vater? Schuld. Ja, schon. Aber vielleicht weiß ich auch einfach nicht, was ich sonst machen soll. Wenn ich ein Ziel habe, dann habe ich weniger das Gefühl, dass ich mich verlaufen habe, weißt du." Einatmen. Ausatmen. "Oder vielleicht fühle ich, dass ich meinem Vater etwas schuldig bin, weil ich eigentlich hoffe, dass ich ihn gar nicht mehr finde? Ich konnte ihm nicht mal zur Seite stehen als wir in ein Unwetter geraten sind -- wie soll ich mich denn Svavar stellen, wenn ich ihn finde? Wie soll ich mich mit meiner Angst anfreunden? Wie freundet man sich mit seinem Feind an?"
Nochmal einatmen -- ausatmen.
Jetzt sah er Tarón wieder an. Lehnte sich auf den Tisch. Sah ihm direkt in seine Seeaugen. Was Rúnar nämlich vermutete, würde leider seine ganzen, nun ordentlich geflochtenen, Gedankenfäden wieder hinfällig machen. "Und schuldet man wirklich niemandem etwas, Tarón? Oder wünscht du dir das nur?" Rúnar war nicht der scharfsinnigste Mensch, aber das hatte er bemerkt. Die Art und Weise, wie Tarón über Schuld sprach.
Rúnars Blick fiel nach unten. Er hob kurz die Hände. "Entschuldige", sagte er, ohne Zynismus, ohne Scherz. "Das war taktlos von mir. Du hast wohl mit diesem Thema ein bodenloses Fass aufgemacht und es kam irgendwie mehr raus, als ich beabsichtigt hatte." Und dass er die ganze Zeit Alkohol hineinkippte, half auch nicht.
Irrte er sich oder wirkte Rúnar etwas…atemlos? Aber wenn er an den sich leerenden Stand des Kruges und die Statur der „blassen Noblesse“ dachte war das vielleicht kein Wunder. Rúnar schien nach allem was er bisher beobachtet hatte eher wenig trinkfest zu sein – zumindest verglichen mit den anderen Kalibern an Board.
Das machte sich dann auch in dem Redeschwall bemerkbar, der plötzlich und untypisch aus ihm hervorbrach, nachdem Tarón für Nachschub gesorgt hatte. Aber trotz eines Verziehens der feinen Gesichtszüge leerte er zuvor noch den ersten Krug Bier. Dass man dieses besser trank bevor es schal wurde, musste er wohl noch lernen. Tarón schmunzelte und ließ sich in den Schauer von Rúnars Worten baden.
Die Informationen flogen ihm diesmal nur so zu und Taróns Gehirn schnappte sie gierig auf wie eine alte Strandmöwe.
Also hatte er sich nicht geirrt. Pflicht und Schuld – auch bei Rúnar das alte Spiel.
Und ja, Tarón verstand. Rationalität und das Wissen, dass Schuld nichts als selbstauferlegte Pein war, half nur allzu oft nicht sie dennoch zu fühlen. Noch einmal dachte der Falke daran, dass er wohl besser daran tun würde sich einmal selbst an seine götterverdammten schlauen Ratschläge zu halten und die Last auf den eigenen Schultern abzuschütteln, ehe sie ihn erdrückte. Aber das versuchte er nun schon seit einer gefühlten Ewigkeit…
Ja, er verstand.
Der Falke trank mit nachdenklicher konzentrierter Miene an seinem Bier, während er Rúnars Lebensgeschichte folgte, die sich in allem von seiner eigenen Historie zu unterscheiden schien.
Angefangen damit so etwas wie Vaterliebe auch nur zu kennen. Doch Tarón hatte andere Menschen geliebt – hatte Maira auf eine Art geliebt und seine eigene Mutter davor, auch wenn er sich an sie kaum erinnern konnte und ihm nur Fragmente von Eindrücken von ihr geblieben waren.
Taróns Mundwinkel zuckten nach oben, als Rúnar ihm sagte er dürfe sich geehrt fühlen – und auf eine Weise tat er das. Vertrauen war ein seltenes zerbrechliches Gut und ein Geschenk, dass Tarón zu schätzen wusste. Vor allem, weil er trotz aller scheinbaren Offenheit mit dem Seinen zu geizen pflegte. Zumindest was Vergangenes anging. Viel zu reden, Offenheit zu mimen war das beste Versteck für die Dinge, die man lieber unerwähnt ließ. Sein kurzes angedeutetes Nicken bestärkte das. Aber er sagte nichts, um Rúnar nicht in seinem Redefluss zu unterbrechen. Seine Augen wanderten nur ruhig zu den beiden Ringen, die Rúni präsentierte, ehe sie zurück zu seinem Gesicht glitten.
‚Warum haben wir geheiratet?‘ – nein, er fragte sich das nicht. Das Warum war für ihn bereits klar gewesen, als Rúnar davon sprach mit der Last eines Erbes bedacht worden zu sein. Auch wenn er natürlich derlei nie selbst erlebt hatte – selbst ein Niemand, Bastard eines namenlosen Erzeugers - wusste er, wie solche Dinge liefen. Und wie viel Leid oftmals mit ihnen verbunden war. Er kam nicht umhin an Aylah zu denken, die auf ganz ähnliche Weise hatte verschachert werden sollen. Allerdings nicht an einen Freund…
Das erneute Zucken seines Mundes war diesmal freudloser, auch wenn er seine Züge weiter ganz gut im Griff hatte.
°Nun Rúnar…Zehnjährige, die es sich leisten konnten, stellten so etwas nicht in Frage…°
‚Die Familie weiß, was für einen gut ist…‘
Wie sehr sich ihre Leben unterschieden.
Doch noch immer schwieg er und fuhr ihm nicht dazwischen, auch wenn die Gedanken ihn kurzfristig zurück zu seinem eigenen zehnjährigen Ich ziehen wollten. Für einen Moment konnte er rottendes Holz und Rum riechen und flüchtete sich in seinen Bierkrug, ehe die Schatten nach ihm greifen konnten.
Was Tarón weniger nachvollziehen konnte war, wie es gewesen sein musste eine vorgeschriebene Rolle ausfüllen zu müssen. Für ihn hatte es nie ein Schicksal, eine Bestimmung gegeben. Aber er kannte seinen eigenen Freiheitsdrang und nutzte diesen, um zu verstehen, wie es Rúnar im Walfangboot gegangen sein musste.
In kurzer Zeit ergaben sich drei sehr zentrale Teile im Puzzel: Rúnar hatte tatsächlich massive Erfahrung im Walfang – etwas, das man ihm auf den ersten Blick nicht zutraute; Er interessierte sich eher für Pferde – was ihn durchaus sympathisch machte. Tarón mochte Tiere, auch wenn sich seine Erfahrungen mit Pferden auf die Tiere seiner früheren Nachbarn konzentrierten und den heimlichen Proberitten die er auf den ungesattelten Tieren unternommen hatte…wenn er sie nicht aus dem Gatter ließ, um Chaos zu stiften. Das letzte war, dass er sich offenbar massiv dagegen gewehrt hatte seiner Frau ein Kind zu verpassen. Ok, sie waren „nur“ Freunde gewesen – Tarón hatte das kapiert. Aber in seinem Universum war das kein Grund nicht miteinander intim zu werden, wenn man denn nun schon einmal von „höheren Mächten“ in ein Ehebett gebracht wurde. War Àsta derart unattraktiv gewesen oder fand sie ihrerseits Rúnar so abstoßend, dass sie ihn nicht wollte?
Sein Blick glitt an Rúnars noblen Zügen entlang. Unwahrscheinlich…
Und wieder regte sich etwas Dunkles in ihm und er dachte an Isa und ihre Gründe. Erneut ertränkte er den aufkeimenden Gedanken im Alkohol.
n.
Nein, der Kern schien bei Rúnar zu liegen – Rúnar der sich „vorbereitete“ und „die Dinge nehmen musste, wie sie waren“. Als hätte er in die Schlacht ziehen müssen. Als wäre es schwerer zu akzeptieren gewesen mit dieser Frau zu schlafen, als sein Leben auf dem verdammten Walkahn fern von seinen Pferden zu fristen.
Oho und nun kam die dramatische Wendung in der Ballade! Taróns Brauen zuckten überrascht und Kunde davon tragend, dass er trotz Schweigens Rúnars Geschichte aufmerksam folgte.
„Hm…“
Wie Rúnar über diese Entdeckung dachte überraschte ihn – denn aus seinem vielleicht naiven Verständnis dieser Sachen änderte sich damit rein garnichts. Sein Vater hatte ihn zum Erben erklärt – und wenn er sich dieser Sache verpflichtet gefühlt hatte, als er noch dachte aus dessen Samen entsprungen zu sein, warum dann nicht mehr, als klar wurde, dass er adoptiert war?
°Wie schnell wir uns doch von Vorstellungen fesseln lassen – den eigenen, wie denen anderer.°
Und am Ende war es Alles nichts als Selbstbeschiss. Die Wahl – wenn es irgendeine Wahl gab -hatte es immer gegeben. Nicht erst seitdem er das Geheimnis entdeckt hatte.
Mitgefühl zeigte sich auf seinem Gesicht, als Rúnar zu seinen Beweggründen kam, zum Kern des aktuellen Gefühls.
Svavar? Wer war das? Der Name seines Vaters? Nein… Eine Lücke in dem gut gepflegten und nun um einige Teile reicheren Bildes.
Er kaute noch an diesen Gedanken, sortierte seine, um ihm zu antworten, als Rúnar weitersprach. Und diesmal trafen ihn die Worte wie ein Schlag in die Magengrube.
Gut darin seine Gefühle an und für sich hinter einer ruhigen Fassade zu halten oder nicht: diesmal sah man es dem Falken an.
Eine finstere Dunkelheit schlich in seinen Blick die fast schon Wut glich und einen kleinen Hinweis auf seine andere Seite preisgab. Die Seite die kaltblütig und grausam sein konnte. Skrupellos und tödlich. Die Seite, die Menschen vor Jahren schreiend hatte fliehen lassen, als die Hangman am Horizont erschien und die selbst seine Kameraden auf dem eigenen Schiff davon abgehalten hatte ihn zu sehr zu provozieren.
Doch er war keine zwanzig mehr. Nicht mehr so aufbrausend wie damals, nicht mehr so stolz und nicht mehr so stur darin niemanden auch nur einen Blick hinter die Fassade zu gestatten.
Selbst wenn man sie eintrat und er sich ertappt und auf eine seltsame Art fast nackt fühlte und er das Gewicht seiner eigenen Schuld wie einen Felsen auf sich niedergehen fühlte. Für einen Moment war er sicher, dass dies der Punkt war, an dem sie ihn doch zerquetschen würde.
Der Schmerz peitschte wie ein weiterer Schlag in seinen linken Arm, die Narbe entlang, - fast so, als wollten die Toten der Aurora ihm einen zusätzlichen Tritt verpassen. Ihn daran erinnern wer sie auf den Grund des Meeres gebracht hatte. Schuld! Ja…Schuld…
Die Zähne zusammenbeißend, um den unseligen Nervenschmerz in seiner gezeichneten Gliedmaße zumindest nicht zu offensichtlich werden zu lassen – auch wenn sie zitterte, Göttin, verdammtes Scheißteil. Er kam nicht umhin den Krug abzustellen und die rechte Hand auf die Stelle zu drücken, um zumindest das zu unterbinden – sah er Rúnar kalt in die Augen.
Der entschuldigte sich, bereits deutlich angetrunken und Tarón atmete tief durch. Langsam klang auch der Schmerz ab und er konnte den Arm wieder loslassen, auch wenn der Anfall nicht ganz vorüber war. Für einen Moment sagte Tarón nichts, nahm sich die Zeit Schmerz und Jähzorn gleichermaßen abebben zu lassen, ehe er die Augen kurz schloss und diesmal selbst den Blick abwandte. Als er jedoch sprach richtet er ihn wieder auf Rúnar. Seine Stimme war deutlich angespannter, defensiver und distanzierter als zuvor. Offenbar gab es Dinge, über die selbst er noch immer nicht so einfach hinweggehen konnte…und dieser Zufallstreffer war wohl eines davon.
„Ich wünsche es mir. Ja. Macht es das weniger wahr?“
Schnappte er fast wie ein bissiger Köter.
Nein…aber warum sonst gab er sich dann überhaupt mit dieser verfluchten Echse ab? Was, wenn nicht Schuld war es, die ihn Calwah nicht am nächstbesten Strand zurücklassen ließ, der ihn sogar dazu verleitet hatte, die Aurora in ihren Untergang zu führen und damit noch mehr Schuld, Schuld, Schuld auf sich zu laden, nur um dieses Drecksvieh zu retten?
Seine Stirn legte sich in Falten, als sein Blick nach unten abdriftete, er die Linke Hand, des noch immer schmerzenden Armes ballte und seine Kiefer einmal knirschend übereinander mahlten.
Er schüttelte leicht den Kopf, hob den Blick wieder und entspannte auch seine Hand.
„Treffer, Rúnar. Glückwunsch.“
Doch seine Stimme klang nun eher müde, denn zornig. Loslassen fing hier an, nicht wahr? Offenbar hatte er mit diesen Dingen nicht im Ansatz so gut abgeschlossen, wie er sich selbst vormachen wollte.
Er trank einen Schluck, beäugte Rúnar dabei mit einer leicht seitlichen Haltung und wog ab.
Mit dem Abstellen des Kruges wandte er sich ihm wieder ganz zu.
„Entschuldige dich nicht für Dinge, die du genau so gemeint hast. Und ja…du hast Recht: ich wünsche es mir. Und ich glaube daran. Weil Glaube auch nichts anderes ist, als sich an etwas zu halten, um nicht in den Abgrund daneben zu stürzen. Meine Wahl. Meine Form „es hinzunehmen, wie es ist“. Weil ich es nicht mehr ändern kann.“
Nun schlich sich doch wieder ein Grollen in seine Stimme. Ein leises Donnern wie das Dröhnen eines entfernten Sturmes. Der Schmerz kam wieder, aber ob er aus seinem Arm oder etwas viel tiefer drin Liegendem kam war schwer auszumachen.
„Weil sie tot sind. Und nichts – absolut garnichts wird daran etwas ändern! Und das Rúnar – gilt wahrscheinlich auch für deinen Vater, der nicht dein Vater ist! Wir haben versagt, als sie uns brauchten – so einfach ist das.“
Grausamkeit…oh ja. Sie konnte in mehr bestehen als in körperlicher Gewalt. War das Rache? Kindische Rache, weil Rúnar ihn tiefer verletzt hatte, als er hatte ahnen können? Weil dieses Fass im Grunde sein Fass war und er gradewegs durch den Boden gebrochen war? Er der sich in charmantes Lächeln und gute Ratschläge hüllte und am Ende doch besser auf dem Grund des Meeres verrotten sollte – zusammen mit denen, welchen er dieses Schicksal beschert hatte.
Darauf lief es hinaus, oder? Ein Teil von ihm versuchte noch immer dem Sog des sinkenden Schiffes zu entkommen, ein Teil von ihm war noch immer an diesem verdammten Strand mit dem roten Sand und den spöttisch leuchtenden Sternen…und ein Teil von ihm stand auf der Hangman und sah Isala langsam am Horizont verschwinden, sah Maira, als diese Farans Leiche fand…Und ein Teil von ihm wünschte sich nichts mehr, als selbst mit zerschossenem Gesicht in eben jener Hütte zu liegen, dem Pandämonium seiner Kindheitshölle; am Strand auf Lilanja zu verbluten oder mit der Aurora und ihren Geistern am Boden des Meeres zu liegen. Weil es das war, was er verdiente.
Er kniff die Augen zusammen, schüttelte kurz den Kopf, trank einen tiefen Schluck.
Narzissmus. Was für eine Scheiße… und er blieb dabei: es war Narzissmus, wenn er sich selbst als so wichtig erachtete, dass das alles nur an ihm gelegen hätte. Und es war so bequem sich in den Schatten der Schuld zu flüchten in die dunkle Umarmung und sich einfach selbst zu gleichen Teilen zu hassen… und zu bemitleiden.
°Schüttel es ab…du verdammter alter Narr!°
Seine Stimme war leise, auch wenn er zuvor ebenso nicht laut geworden war.
„Nun war ich taktlos. Wir sind also quitt.“
Er entschuldigte sich nicht, auch wenn er es gerne getan hätte. Er wusste, dass es unfair von ihm gewesen war, dass Rúnar unmöglich hatte ahnen können, was er damit anstieß – dafür hatte er immerhin selbst gesorgt. Und es tat ihm leid.
Aber wenn Rúnar auch selbsterklärt wenig auf seinen Stolz gab war das bei Tarón etwas Anderes. Und so konnte er nicht mehr anbieten als einen Pat – und hoffen, dass Rúnar diesen akzeptieren und es ihm nicht zu sehr nachtragen würde. Wenn es so war, wäre das wohl etwas, das er sich auf seine „Schuld-Liste“ schreiben konnte…dann hatte er es wohl verkackt.
Schweigen, dann ein schwaches Lächeln. Und ein wesentlich versöhnlicherer Tonfall.
„Meinen wunden Punkt hast du damit wohl ausgelotet. Vielleicht darfst du dich nun geehrt fühlen.“
Ein Fetzten Sarkasmus. Erneut ein Kopfschütteln.
„Eigentlich sollte es um dich gehen…ich…wollte nicht so hochfahren. Und hätte es nicht sollen…“
Na? War das etwa doch so etwas wie eine Entschuldigung? Er sah Rúnar an, fast eine Bitte in den Augen ihm diesen Moment des Kontrollverlustes nachzusehen.
Rúnar war sich nicht sicher. Taróns Haltung änderte sich irgendwie und er konnte zunächst nicht sagen, wie und woran es lag. Oder ob er sich nur irrte. Doch dann begann Taróns Arm zu zittern -- irgendwie unkontrolliert. Rúnars Blick huschte zwischen Taróns Arm und dessen Gesicht hin und her. Er hatte offensichtlich Schmerzen, das konnte sogar Rúnar sehen. Und er wusste nicht was er tun sollte -- ob er überhaupt etwas tun sollte. Wahrscheinlich nicht. Jemand wie Tarón wirkte nicht, als ob er Hilfe bräuchte. Das bestätigte sich, als Tarón scheinbar gezielt seinen Krug abstellte und seinen Arm festhielt.
Rúnar sah bewusst weg. Offensichtlich war Tarón dabei, etwas unter Kontrolle zu bringen, das er nicht kontrollieren konnte.
Rúnar zuckte kaum merklich zusammen als Tarón ihn anging. Aber dann schweifte sein Blick zurück zu dem anderen Mann, er sah ihn von unten herab an, atmete tief ein. Etwas in seiner Brust hatte zu brodeln begonnen, er war drauf und dran zurückzuschnappen -- und das lag nicht an seinem Alkoholpegel.
Ordnung. Chaos. Ordnung.
Aber es war wohl nur ein kurzer Ausbruch gewesen -- bloß, dass Tarón noch immer angespannt wirkte. In jeder anderen Situation hätte Rúnar die Chance vielleicht genutzt um die Situation zu eskalieren. Und es dann wieder gut sein zu lassen. Ordnung. Chaos. Ordnung. Dass er es doch nicht tat, lag einerseits nun wirklich an seinem Alkoholpegel. Andererseits daran, wie Tarón sprach. Treffer. Glückwunsch. Das hier war kein Stierkampf und Rúnar kein Matador. Er war nicht darauf aus gewesen, Tarón zu verletzen, also musste Tarón sich nicht geschlagen geben.
Aber das tat Tarón anscheinend auch nicht. Und da war es: Die Teile die Rúnar Tarón hingeschmissen hatte, die der andere geholfen hatte zusammenzuschieben, wurden zu einem Mosaikl. Das Gefühl, dass Rúnar seinem Vater verpflichtet war, dass er ihn suchen musste; das Gefühl, dass er Svavar finden musste -- es war eigentlich, wie er gedacht hatte: Er hoffte nicht mehr, seinen Vater zu finden, weil er es ihm schuldig war. Er hoffte Svavar zu finden, weil er es sich selbst schuldig war. Er wollte aus den Dingen ausbrechen, die ihm seit seiner Geburt an auferlegt geworden waren, die ihn immer die für ihn gepflasterte Straße entlang geschickt hatten. Mit Scheuklappen und vor einen Wagen gespannt, auf den all seine Pflichten aufgeladen waren. Die Scheuklappen war er losgeworden, als er sich dazu entschieden hatte, seinen Vater suchen zu gehen -- und die Welt hier draußen war verdammt furchteinflößend.
Er mochte gut so sein, wie er war, aber er war nicht er. Er musste erstmal wissen wer er war, um gut so zu sein, wie er war.
Und am Ende konnte er vor seinem Vater stehen und ihm zeigen, dass er nicht nur ein gebrochenes, stumpfsinniges Zugpferd war, dass den Weg entlang ging, auf den es gelenkt wurde.
Taróns Worte lenkten Rúnar von seinen Gedanken ab. Rúnars Blick muss noch ernster geworden sein. Seine Entschlossenheit intensiver -- er hatte immer noch dieses Gefühl in seiner Brust und er fuhr mit der Handfläche über die Stelle, wo er es spürte -- dort wo seine Rippenbogen sich trafen.
Tarón hatte keine Ahnung ob Rúnars Vater tot war. Nicht im geringsten. Rúnar wandte seinen Blick ab, seine Hand ging zu seinen Haaren, seine Finger strichen seine mittlerweile viel zu langen Strähnen aus seiner Stirn und sein Atemzug war zittrig -- weil es in seiner Brust zu sieden begonnen hatte.
Weil sie uns brauchten? Tarón hatte an jemanden bestimmten gedacht. Aber das wunderte Rúnar nicht. Schien als zeigte Tarón gerade sein wahres Gesicht. Was einerseits gut war, denn es zeugte davon, dass er ihn nun wirklich kennenlernte. Aber--
So war es irgendwie nicht. Es kam Rúnar nicht so vor, als ob alles nur eine Maske gewesen war und jetzt der wahre Tarón zum Vorschein gekommen war. Es war mehr so, als ob Tarón sich nur entschied den einen Teil von sich außen vor zu lassen -- weil er selbst nicht damit umgehen konnte? Das überstieg aber nun Rúnars Fähigkeit, den anderen Mann zu lesen.
Eins aber hatte er gewusst: Stille Wasser waren durchaus tief.
Er hatte auch gewusst, dass in diesem tiefen Wasser sehr wohl ein Ungeheur liegen könnte, doch er hatte nicht vorgehabt es zu wecken. Und so wie er den anderen Mann gerade vor sich hatte -- scheinbar hart mit sich selbst ringend -- hätte er es mehr um Taróns als um seinetwillen vermieden.
Rúnar sah Tarón nicht wieder an als der weitersprach.
Nichts da, quitt.
Nichts da, geehrt fühlen.
Mit Taróns Worten versiegte das Sieden in Rúnars Brust und als er seinen Blick hob, traf er auf Taróns. Dessen Blick nun ein ganz anderer war.
Rúnar war kein nachtragender Mensch. In der Regel. Doch wenn er es war, dann sicher nicht gegen Tarón.
"Entschuldige, Tarón", sagte er. "Wirklich. Ich fühle mich nicht geehrt, red' keinen Unsinn -- ich fühle mich bescheuert, dass ich dich sowas Dummes gefragt hab." Er fand nicht, dass es per se etwas Dummes war. Er fand es berechtigt. In anderen Situationen hätte es vielleicht zu einer produktiven Diskussion angeregt und er selbst wäre der einzige gewesen, den er unter Umständen damit unglücklich gemacht hätte. Aber Tarón -- der weise, humorvolle, charakterfeste Tarón -- dass man den auf dem falschen Fuß erwischen konnte -- und dabei noch so sehr Salz in eine Wunde streuen konnte, die offensichtlich schon lange vor sich hinsiechte ... "Und es muss nicht nur um mich gehen -- falls du über etwas reden willst, dann höre ich zu. Diesmal, ohne dumme Fragen zu stellen." Er hob seinen Krug und gab Tarón ein schiefes, äußerst zaghaftes Lächeln. "Auf dein Geheule?"
Trotz seines Ausbruches bekam Tarón mit, dass Rúnar auf seine Art versuchte Rücksicht zu nehmen. Oder war es Fremdscham, die ihn den Blick abwenden ließ – nein. Dieser Gedanke ging wohl eher auf seine eigenen Dämonen zurück, die gierig nach allem bissen, was sie von seinem Moment der Schwäche erhaschen konnten.
Für einen Augenblick schien es jedoch als wolle sein blonder Freund zurückfeuern. Tarón sah es in seinen Augen, ehe er sie wieder abwandte, sich offenbar anders entschied. Aber er vernahm das Beben in seinem Atemzug, den Griff ans Herz, spürte das Kochen beinahe mehr, als man es sehen konnte, denn auch Taróns Worte hatten ihr Ziel wohl nicht verfehlt. Und im Gegensatz zu Rúnar hatte er bewusst gezielt. In einem Anflug hässlicher Wut, die am Ende doch nur ihm selbst galt.
Doch diese verrauchte spätestens mit Rúnars zweiter Entschuldigung. Kondensierte zu Asche, die sich mit der vereinte, die auch die Gebeine aller anderen Fehltritte beinhaltete.
„Es war nicht dumm…“
Antwortet er fest, auch wenn seine Stimme so klang, wie er sich fühlte: ausgebrannt.
Und dann kam das Angebot. Wie eine Tür, die sich nun vor ihm aufschob und einen Strahl Lichts in einen lange dunklen, verstaubten Raum ließ. Jenem Raum in dem er sich wohl schon viel zu lange selbst eingesperrt hatte - alleine mit Gedanken und Monstern.
Es war einladend - auch, weil niemand sonst ihm zuvor in dieser Art die Tür für ein Gespräch geöffnet hatte. Es hatte sich niemals jemand auch nur im Ansatz genug für ihn interessiert, um das zu tun - sah man Isa und Aylah ab…und von Jack auf seine Art. Erstere hatte es so oder so schwerer als er und er würde den Teufel tun sich bei ihr auszuheulen und sie mit seinen Problemchen zu belasten. Das durfte er nicht.
Und Aylah...war tot. Und zentraler Bestandteil dieses in Bruchstücken daliegenden Werkes, das er sein Leben schimpfte. Genau wie Jack.
Aber Rúnar fragte. Und vielleicht interessierte es ihn wirklich…
Dennoch war es schwer. So schwer! Denn wenn er durch diese Tür ging gab es kein Zurück mehr - nicht Rúnar gegenüber, vielleicht überhaupt nicht. Dann wusste er es - wie auch immer sein Urteil ausfallen würde. Und tatsächlich fürchtete er dieses Urteil. Fürchtete, dass es genauso ausfallen konnte wie jenes, das der narzisstische Teil in ihm wieder und wieder über sich selbst fällte. Und dann stünde er erneut in diesem Raum. Alleine tanzend mit den Gespenstern - und ohne Tür die den Blick auf ihn und sie verbarg.
Er rang mit sich und dass er dies sichtbar werden ließ war zum einen Teil eines schon lange gärenden Prozesses, zum anderen bereits ein Vertrauensbeweis, denn nicht einmal bis zu diesem Punkt hatte er bisher jemand anderen kommen lassen.
Er umschlich die Option wie eine alarmierte Katze.
Und schließlich traf er seine Entscheidung.
"Also gut. Aber dafür brauchen wir etwas Stärkeres als Bier."
Und mit "wir" meinte er sich. Der Gang zum Tresen verschaffte ihm weitere Minuten in denen er Zeit hatte seine Entscheidung doch noch einmal zu überdenken. Aber Tarón neigte dazu bei einer einmal getroffenen Wahl zu bleiben.
Er kam gleich mit einer ganzen Flasche zurück und stellte den Rum plus die zwei Gläser vor Rúnars Nase ab, wie er es auch schon zuvor mit dem Bierkrug gemacht hatte. Ohne den anderen groß anzusehen schenkte er sich ein erstes Glas ein und leerte es mit einem Zug. So viel zu Manieren, aber die waren ihm gerade wirklich egal.
"Ich...nun ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie ich beginnen soll. Also mache ich es wohl wie du und beginne am Anfang: Ich bin auf Chikarn aufgewachsen- allerdings in ganz anderen Verhältnissen als du. Sehr anderen…
Eines aber haben wir gemeinsam: der Mann der mich aufgezogen hat war nicht mein Vater. Damit endet aber auch schon jede Ähnlichkeit- zumindest wünsche ich dir das."
In der Sache war er sich jedoch sehr sicher. Niemand würde über einen Faran von „Vaterliebe“ sprechen.
„Meinen Vater kannte ich nie und meine Mutter starb als ich 6 war.“
Er schüttelte leicht den Kopf.
„Ich weiß nicht wie lange ich in unserer kleinen Hütte ausgeharrt haben und ihrer Leiche beim Verrotten zusah, während ich selbst auf meinem Tod wartet, weil ich ansonsten nicht wusste, was ich tun sollte. Meine Tante – ihre Schwester – fand mich schließlich und nahm mich mit zu sich. Isa war da grade zwei Jahre alt.“
Diese Erinnerung brachte ein leichtes Lächeln auf seine Lippen, das angesichts der anderen Erinnerungen jedoch schnell verschwand.
Bevor er weitersprach schenkte er sich ein weiteres Glas ein, trank diesmal jedoch nur einen Schluck.
„Mein Onkel war ein Monster. Und ich sage das nicht leichtfertig. Ich möchte behaupten, dass ich in meinem Leben einige furchtbare Männer getroffen habe – grausame, abartige. Aber bis auf einen weiteren würde ich keinen von ihnen so betiteln. In dem Mann ging etwas Dunkles vor sich, etwas, das über reine Bosheit hinausging.“
Etwas, das nicht ihn betraf. Es betraf Isa. Aber es war nicht an ihm davon zu berichten und es war auch nicht an ihm sich über ihr Leiden als ein Held darzustellen, der er nicht war. Also blieb er bei seiner eigenen Geschichte und ließ den Rest offen.
„Zu seiner „Ehrerettung“ – als wenn er auch nur im Ansatz so etwas wie Ehre gekannt hätte: ich habe es oftmals provoziert.“
Den tatsächlichen Grund hierfür konnte er jedoch nicht nennen… also nannte er den zweiten, der in seinem Kern ebenso wahr war.
„Keine Ahnung warum…aber irgendwie und irgendwann kam ich wohl dazu zu glauben, dass dies einfach meine Rolle war. Wenn er mich schlug wusste ich zumindest woran ich war. Wo ich stand. Und es gefiel ihm, dem Mistkerl. Auch wenn er in klaren Momenten versuchte irgendwas „wieder gut“ zu machen, war das offensichtlich. Und es wurde schlimmer. Irgendetwas in ihm drin fraß an seiner götterverfluchten Seele, bis davon nichts mehr übrig blieb…“
Diesmal leerte sich das Glas – er verschwendete keine Zeit und füllte es nach.
Warum erzählte er das alles, so ausführlich beginnend dort wo es an sich keine Relevanz für Rúnars Frage hatte? Vielleicht wollte er Mitleid- er der nie welches erfahren, es nie gebraucht oder gesucht hatte. Aber er hatte sich auch noch nie so verletzlich gemacht. Nicht vorsätzlich zumindest.
„Wie auch immer…eines schönen Tages fand ich einen verletzten Piraten. Ich war zehn…und ich beschloss dem verlumpten blutenden Kerl zu helfen. Es gab ein Versteck, das nur ich kannte. Eine kleine Höhle, deren Eingang nur bei Ebbe zu erreichen war – es sei denn man wollte tauchen. Hab ihn dort versteckt und ihm Sachen gebracht und mich mit ihm angefreundet.“
Wärme stahl sich in seinen Blick, eine tief empfundene Liebe dem alten Jack gegenüber, die wohl nichts auf dieser Welt je brechen würde.
„Isa lernte ihn auch kennen: Black Tooth Jack! Benannt danach, dass seine Zähne schwarz wie Rattenscheiße waren von dem Kraut, dass er immer kaute.
Wir hatten uns Hoffnung gemacht, geträumt, dass er uns mitnehmen würde…aber das tat er nicht. He…“
Nachdenklich drehte er das Glas in seiner Hand und blickte sich selbst im Honigschein des Rums entgegen.
„Wie auch? Wir waren zwei kleine unnütze Sprotten…nun…er kehrte zu seiner Crew zurück, aber er kam wieder und er besuchte uns und ich träumte weiter meinen Traum von Freiheit, um nicht daran denken zu müssen, wo ich wirklich war.“
Ein Schluck, eine kurze Pause.
„Für Isa hatte es nie eine Chance dazu gegeben…als Mädchen…noch so jung. Doch mir stellte Jack schließlich ein Ultimatum, als er mir zum zwölften Geburtstag eine seiner Pistolen schenkte…
Göttin ich vermisse das Scheißteil. Liegt nun auf dem Grund des Meeres bei…allem andern. Aber dazu kommen wir noch, wenn du bis dahin nicht längst die Schnauze voll hast.
Nun. Jack war nicht blind – er wusste, was bei uns Zuhause passierte. Aber es war nicht an ihm diese Sache zu lösen. Es war an mir. Das wussten wir beide im Herzen. Er gab mir das Ding und seine Worte werde ich nie vergessen:
‚Es gibt nur eine Art, wie man dem Teufel begegnet, Tarón: mit gebleckten Zähnen und einer geladenen Waffe! Töte ihn bevor er dich tötet!‘
Und das hätte er getan…ziemlich sicher. Da ich aber hier bin kannst du dir denken wie die Sache ausging. Ich erschoss meinen Onkel. War überrascht davon wie viel von seinem Gesicht die scheiß Pistole weggerissen hat…ich stand zu tief, hab zu sehr gezittert, deshalb habe ich sein Auge verfehlt…“
Rúnar ansehend zeigte er auf die Stelle ein paar Zentimeter unter dem linken Auge, ehe er die Hand sinken ließ.
„Hat es ihm dennoch weggerissen, zusammen mit einem guten Teil seiner Zähne und schließlich auch Teilen seines Hirns.“
Das Bild Farans brannte vor seinen Augen, der einäugige Blick des Monsters starr in seinem begraben. Keine Angst, keine Überraschung oder auch nur Schmerz, nur ein Abgrund aus bodenlosem Hass!
„Er…starb nicht gleich. Wahrscheinlich kam es mir weit länger vor, wie ich da mit Isa am Boden hockte und heulte, während er um sich schlug und trat und zuckte…aber es war sicher eine halbe Stunde, bis er endlich stilllag. Unsere Tante fand uns schließlich… und egal ob Jack Recht hatte oder nicht: ich habe ihren Mann getötet. Für mich gab es in Chikarn kein Zuhause mehr. Nachdem wir Faran – meinen Onkel – verscharrt hatten, ging ich fort und schloss mich Jack auf der Ocean’s Hangman an…“
Ein schiefes Lächeln neben einem schief gehaltenen Glas.
„Nun, Rúnar…das war Kapitel eins meines Geheules…soll ich weitermachen?“
Es war nicht dumm? Sehr gut. Letztendlich hatte Rúnar das ohnehin eher gesagt, um Tarón zu beschwichtigen. Es hatte anscheinend funktioniert. Und es hatte wohl auch dazu geführt, dass es bis auf offensichtliche Wut und Schuld noch etwas in Tarón ausgelöst hatte. Etwas, das ihn -- wider Rúnars Erwartungen -- dazu brachte, ihm eine Tür zu seiner Vergangenheit zu öffnen.
Wenn er sich nicht auf dem Weg zur Bar umentscheiden würde. Rúnar sah ihm hinterher, musterte die Form seiner Schultern, die Art wie er ging. Sah kurz weg und nahm einen tiefen Atemzug. Das war nicht der passende Moment um Herzchenaugen zu machen. War es von Anfang nicht gewesen -- was hatte sich sein blödes Hirn dabei nur wieder gedacht?
Rúnar hob die Augenbrauen, als Tarón eine ganze Flasche -- er musste etwas genauer auf das Etikett sehen-- Rum vor ihnen abstellte. Und zwei Gläser. Und dann trank Tarón ein ganzes Glas aus ohne abzusetzen. Rúnars Augenbrauen waren immer noch gehoben und er verkniff sich einen unangebrachten, sarkastischen Kommentar -- es musste Tarón wirklich arg sein. Entweder das was er zu sagen hatte, oder dass er sich dazu entschieden hatte, überhaupt etwas zu sagen. (Vermutlich beides.)
Rúnar nahm einen Zug von seinem Bier, stellte es wieder ab, zog das Rumglas zu sich, aber es blieb leer.
Es gelang ihm, Tarón (ohne Herzchenaugen) anzusehen. Es fiel ihm leichter jemand anderen anzusehen der sprach, als jemanden anzusehen, wenn er selbst sprach. Und er wollte Tarón weiterhin bedeuten, dass er zuhörte und das hören wollte, was er zu sagen hatte.
Vater nie gekannt, Mutter gestorben. Rúnar konnte das bis zu einem gewissen Punkt nachfühlen. Seine Mutter hatte die Familie verlassen als er klein war -- und hatte ihn bei dem Mann gelassen der noch nichtmal sein Vater war. Auch er war zusammen mit seinem Cousin aufgewachsen, der ihm letztendlich auch näher stand als seine Geschwister. Aber das war alles nur halb so extrem wie Taróns Leben gewesen war. Und Rúnar hatte sich ausgerechnet bei ihm über seine banalen Probleme beschwert. Dabei hätte er sich eigentlich denken können, dass Tarón nicht aus Spaß an der Freude Pirat war.
Als Tarón einen Schluck von seinem Rum nahm, nahm Rúnar einen von seinem Bier -- und rückte sich dann so hin, dass er Tarón komplett zugewandt war.
Auch Rúnar selbst hatte neben einer verwesenden Leiche gesessen und man hatte ihn fast gewaltsam von ihr wegzerren müssen -- aber ein geliebtes Haustier war noch lange keine Mutter.
Auch Rúnars Onkel war ein bösartiger Mensch -- aber kein Monster.
Und Rúnar wurde nie, nie geschlagen.
Es trieb ihm die Tränen in die Augen und er musste einmal tief einatmen, damit sie dort auch blieben. Er wollte nicht, dass Tarón dachte, dass Rúnar ihn bemitleidete. Die Art und Weise, wie er davon erzählte, ließ Rúnar glauben, dass er kein Mitleid wollte. Und es half ja auch nichts mehr -- was passiert war, war passiert. Auf der anderen Seite tat es ihm leid und er schämte sich dafür, dass er sich darüber ausgelassen hatte, dass ihm selbst so schlecht ergangen war -- dabei war sein eigenes Leid nur ein Dreck unter dem Fingernagel eines Riesen.
Ein Lächeln huschte kurz über Rúnars Gesicht, über die Art wie Tarón über den Piraten sprach und er lachte kurz auf, als Tarón dessen Zähne mit der Farbe von Rattenscheiße beschrieb.
Als Tarón dann erzählte, wie er seinen Onkel getötet hatte, ging Rúnars Hand zu seiner Brust -- ein intensives Gefühl machte sich in seinem Herzen breit, aber er konnte nicht genau sagen, was es war. Auf sich projizierte Genugtuung? Entsetzen über die Vorstellung von einem kleinen Jungen, der einen Mann erschoss? Hochachtung dafür, wie ruhig Tarón gerade davon erzählte?
Bei der Vorstellung, wie er und Isa dasaßen und weinten, konnte er seine eigenen Tränen nun auch nicht mehr zurückhalten. Er versuchte nicht großartig sie zu verbergen, aber wischte sich trotzdem kurz mit dem Handgelenk über die Wange.
Als Tarón geendet hatte, nahm Rúnar erstmal einen großen Schluck von seinem Bier. Es kam ihm weniger bitter vor -- vielleicht weil er sich dran gewöhnt hatte -- oder weil Taróns Worte einen bittereren Geschmack hinterließen als das Getränk.
Rúnar entgegnete das Lächeln. "Ich bitte darum", sagte er, so bestimmt aber so sanft wie möglich. Er hatte nicht vor, dass Tarón sich genötigt fühlte. Aber er wollte auch nicht den Eindruck erwecken, dass es ihm zu viel war.
Tarón hatte jemanden umgebracht. Vielleicht zu Rúnars eigener Überraschung, verschreckte ihn das nicht allzu sehr. Es tat seiner Zuneigung keinen Abbruch, vielleicht hatte es diese sogar noch verstärkt. Zum einen hatte er nichts anderes erwartet, als er sich einer Piratencrew angeschlossen hatte. Zum anderen zeugte das davon, dass Tarón ihm irgendwie vertraute.
Ihm selbst war es so gegangen – ging es mitunter noch so. Seit der Aurora. Seit er so dermaßen versagt hatte, dass es seine Freunde das Leben gekostet hatte. Doch damit musste er leben. Und im Endeffekt musste er daran wachsen – oder darüber zugrunde gehen.
Rúnars Reaktion auf seinen kleinen Scherz brachte die Gedanken des Falken jedoch erneut auf andere Abwege. Wurde Rúnar…rot? Nun gut, vielleicht war ihm tatsächlich ein wenig zu nahe getreten…aber offenbar hatte das geholfen seine Zunge zu lösen, also war die Überrumpelungstaktik wohl aufgegangen – wenn auch verzögert, denn einem Moment schien irgendetwas...Anderes in Rúnis Augen kreisende Gedanken zu verraten. Hm…nein. Tarón hatte ihn sicher nur aus dem Konzept gebracht und er musste nun darüber nachdenken, wie er den Witz aufnahm. Und endlich taute Rúnars abwesendes Pseudo-Lächeln zu einem echten auf, als der Bursche aus seinem Gedankenmeer aufzutauchen schien wie ein nach Luft schnappender Wal.
Anstelle von Gischt spuckte dieser Wal jedoch Worte aus. Und Tarón hörte erneut zu.
„Dein Vater also. Nein ich glaube mir direkt hast du noch nicht davon erzählt.“
Daran würde er sich erinnern…ziemlich sicher. Aber da war sie doch – auch wenn Rúnar das offenbar selbst nicht sah: die lauernde Schuld. Die offene Rechnung. Die Ankerkette an seinem Bein…
„Du solltest dich tatsächlich fragen warum du es machst. Oder eher gemacht hast. Für mich klingt es danach, dass es genau das ist, was dich zurückzieht: Schuld. Du glaubst ihm das zu schulden. Ihm oder irgendwem der auf ihn wartet. Vielleicht auch dir selbst…“
Mit einem letzten Schluck leerte sich der Bierkrug. Taróns Brauen schoben sich kurz etwas unglücklich zusammen.
„Aber die Situation an sich hast du denke ich richtig analysiert. Ich kenne deinen Vater nicht, noch weiß ich, wie ihr zueinander standet…aber manchmal sollte man loslassen, ehe einen der Anker mit an den Grund zieht. Und lass mich dir eine kleine Weisheit mitgeben: wir schulden in diesem Leben niemandem irgendetwas. Schuld ist eine Wahl. Die kann man treffen – die Frage ist ob man das will und bereit ist die Konsequenzen zu tragen. In den meisten Fällen ist auch sie nur eine Form narzisstischer Selbstbestrafung.“
Und damit kannte er sich aus. Er selbst fühlte genug Schuld auf sich lasten – und auch in diesem Fall konnte er sich entscheiden ob er sie weiterhin tragen wollte oder nicht. Und wenn er es tat: wem diente es denn sonst, wenn nicht ihm selbst? Ihm, der sich in ihren Schatten stellen und sich darüber selbst bemitleiden konnte? Schuld war nur für eines gut: aus den Fehlern die zu ihr geführt hatten zu lernen. Schuld brachte keine Toten zurück. Und sie machte auch die Vergangenheit nicht ungeschehen… Vielleicht sollte er das für sich selbst auch noch einmal verinnerlichen.
„Du willst bleiben? Dann bleibst du.“
Er sah ihn einen Moment an, dann zuckte sein Mund leicht.
„Würde mich zumindest freuen.“
Und damit kamen sie zum zweiten Akt – der schiffbrüchige Prinz im Piratenland.
Oho – na da steckte doch einiges mehr an Feuer in dem Burschen, als er ansonsten zeigte.
Die Ellenbogen auf den Tisch gestützt, den Kopf auf die Hände schob Tarón sich erneut ein wenig näher zu Rúnar – allerdings bei weitem nicht so weit wie zuvor. Zuvor wollte er ihn irritieren – diesmal war es eine vertrauliche Geste, bei der er Rúnar tief in die Augen sah.
„Noch ein Geheimnis: Alle haben Angst.“
Nachdenklich verdrehten sich kurz seine Augen, ehe sie zurück zu Rúnar fanden.
„Zumindest gehe ich davon aus und zumindest trifft das auf jeden zu, der nicht ein vollkommender Narr ist. Hast du vor unberechtigten Dingen Angst? Hm? Nein. Jede genannte Sache war eine tatsächliche Bedrohung vor der dein Instinkt dich zu retten versucht. Männer ohne Angst sind Idioten – und nur allzu bald tote Idioten. Anstatt sie zu bekämpfen solltest du dich also vielleicht mit ihr anfreunden. Und damit mit dir selbst. Schonmal daran gedacht, dass du vielleicht gut bist, wie du bist?“
Seine Hand kam nach vorne und mit den Zeigefinger gab er Rúnars Stirn einen leichten Stups.
Damit zog er sich wieder zurück und stand auf.
„Und fürs Theater ist dein Kostüm zu schlecht. Da müssten wir dir erst Augenklappe und Holzbein besorgen.“
Witzelte er und hob dabei seine Brauen.
„Ich hol uns noch was zu trinken!“
Und mit diesen Worten ließ er ihn einen Moment alleine, ehe er mit zwei neuen Krügen – ungeachtet dessen, dass Rúnar noch an seinem ersten nuckelte - zurückkam und sich wieder setzte.
Rúnar hörte Tarón weiter zu. Nickte immer wieder um zu bedeuten, dass er aufmerksam war. Sah ihmmer wieder zwischen seinem Krug und dem anderen Mann hin und her. Aber sein Blick verweilte nie lange auf Tarón.
Er konnte allerdings nicht umhin Tarón direkt anzusehen, als der sagte, er würde sich freuen, wenn Rúnar blieb. Rúnar spiegelte den Ausdruck des anderen, zog leicht seinen Mundwinkel nach oben. Und ihm wurde in dem Augenblick mit warmem Herzen klar, dass die Crew der Sphinx wirklich zu seiner Familie geworden war. Er konnte sich sein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen. Er konnte sich sein Leben so oder so nicht mehr anders vorstellen. Es war dumm von ihm gewesen, auch nur ansatzweise daran gedacht zu haben, dass alles jemals so werden würde wie zuvor.
Rúnar hatte wieder in seinen Krug geschaut, als er hörte, wie Tarón sich bewegte. Als er dann hinsah, war der andere näher zu ihm gerückt. Rúnar stockte der Atem. Für einen Moment war sein Blick fest mit dem von Tarón verwachsen. Ihm fiel auf, dass selbst in Taróns Augen die See war. Ein Seemann durch und durch -- doch die Farbe glich weniger der tatsächlichen See. Die tatsächliche See war grau im Unwetter, grün im Hafen, tiefblau auf dem offenen, ruhigen Meer. Taróns Augen aber, waren wie die See in einem Gemälde: stürmisch, mit hohem Wellengang, Schiffe in sich hineinziehend -- aber von einem klaren, dunklen Blau, wie nur das ruhige Wasser und der klare Himmel es kannten.
Atmen, Rúnar.
Weiter zuhören. Taróns schöne Augen ignorieren.
Das gelang ihm -- dann stupste Tarón ihn gegen die Stirn. Rúnar gab etwas nach, lächelte amüsiert. (Und ignorierte gekonnt, dass er auch diesmal die Berührung des anderen überdeutlich wahrnahm. Unerhört. Aber er war ohnehin in einem seltsamen Zustand: leicht betrunken und äußerst verwirrt. Er müsste nur eine Nacht drüber schlafen, dann war das auch kein Thema mehr.)
Rúnar schnaubte kurz ein Lachen aus, als Tarón dann aufstand, um ihnen noch mehr zu trinken zu holen. Er mit Augenklappe und Holzbein -- das Lächeln verging ihm, als er sich vorstellte, dass das wohl tatsächlich passieren könnte. Obwohl ... es hätte auch beim Walfang passieren können; bei einsamen Ausritten auf frisch gebrochenen Hengsten; auch, als er schon auf See unterwegs war um nach seinem Vater zu suchen; auch in den Monaten, in denen er in der ersten Welt umhergesegelt war und einen Weg zurück nach Andalónia gesucht hatte. Ein Weg der jetzt irgendwo unterwegs zwischen ein paar Inseln und Piraten im Sande verlaufen war.
Götterverdammt, er war schon sein Leben lang Gefahren ausgesetzt gewesen, warum machte es ihm ausgerechnet jetzt etwas aus?
Vielleicht ... weil es ihn nun zum ersten Mal wirklich getroffen hatte. Sichtbare Spuren hinterlassen hatte. Er fuhr sich in den rechten Ärmel und seine Fingerspitzen glitten über das Ende er erhabene Linie die sich seinen ganzen Unterarm entlangzog. Eine tägliche Erinnerung daran, dass der Kopfgeldjäger ihn nur ein paar Zentimeter weiter rechts hätte erwischen müssen und Rúnar wäre wahrscheinlich verblutet.
Ein Bierkrug wurde vor ihm abgestellt. Er sah auf und zog seine Finger wieder unter dem Ärmel hervor. "Danke", sagte er und sein Blick folgte Tarón, als dieser sich wieder hinsetzte. Rúnar löste seinen Blick, nahm seinen angefangenen Krug und trank ihn in ein paar wenigen Zügen aus. Als er absetzte, verzog er kurz das Gesicht. Das Bier war nur noch lauwarm gewesen und immer noch um einiges bitterer, als das, was er gewöhnt war. Aber ihm war heute einfach danach, seinen Kopf zu benebeln, egal mit was. (Auch, wenn er eigentlich von jeglichem Nebel genug haben sollte.) Einfach nicht nachdenken müssen. (Auch, wenn es ihm viel Nachdenken abverlangte, Tarón wenigstens ein klein wenig kohärent von seiner Gedankenbrühe zu erzählen.)
Rúnar nickte. Mehr zu sich selbst. "Ich glaube, dass ich mir und meiner Familie und meinem Vater etwas schuldig bin. Oder ich fühle es. Daran glauben tue ich auch nicht wirklich. Ich werde nur das Gefühl nicht los." An diesem Punkt fragte Rúnar sich langsam, ob er einfach ein offenes Buch sondergleichen war, oder ob Tarón einfach unglaublich gut darin war, die Fäden zu verknüpfen, die lose in Rúnars Kopf herumflogen und lose wie sie in seinem Kopf waren auch aus seinem Mund kamen. (Auch, wenn er schon versucht hatte sie mit Jón zu sortieren.) Er nahm einen Schluck von seinem frischen, kühlen Bier. "Ich ... weiß wieder nicht, wo ich anfangen soll. Es ist ein kompliziertes Gefühl, das damit anfängt, dass ich meinen Vater liebe. Also einmal ganz von vorne: Ich war der Erbe meiner Familie." Er verschränkte die Arme, nahm einen tiefen Atemzug. "Darüber hab ich noch nie wirklich mit jemandem gesprochen, also darfst du dich geehrt fühlen." Er hob seine Hand mit dem Siegelring und dem Ehering. "Ich bin verheiratet. Meine Frau und ich, wir sind die besten Freunde -- aber wir haben keine romantische Gefühle füreinander. Warum haben wir geheiratet, höre ich dich fragen?" Sein Wortlaut wurde nun etwas zynisch. "Wir sind verlobt, seit wir zehn sind. In dem Alter stellt man sowas nicht in Frage -- die Familie weiß, was für einen gut ist, besonders wenn es eine Aristokratenfamilie ist. Wir sind verheiratet, seit ich zwanzig bin. Haben die Heirat so lang rausgezogen wie es ging, bevor es auffällig geworden wäre. Ich wollte mit meinem Bruder und meinem Schwager Pferde züchten, aber stattdessen sitze ich in einem Walfangboot seit ich fünf bin, weil es für mich vorbestimmt war, dass ich das Unternehmen irgendwann führe. Ich habe das nicht in Frage gestellt, weil es einfach schon immer so war. Ein Jahr verheiratet, Ásta und ich -- aber noch keine Kinder. Warum nicht? Weil wir die Ehe nie vollzogen haben. Mein Vater drängt mich die ganze Zeit damit, der Arzt sagt mit uns sei gesundheitlich alles in Ordnung -- ja, also warum gibt es denn nun noch keine Kinder, hm? Ich -- jemand, der Dinge so annimmt wie sie sind -- bereite mich also drauf vor, dass Ásta und ich Kinder bekommen werden. Ich hätte es gemacht -- die meisten Sachen sind einfacher, wenn man sie hinnimmt, oder nicht? Dann hab ich ein bisschen später in unserem Archiv nach Stammbüchern und Ahnentafeln geschaut. Hätte ja bald relevant für mich werden können. Nicht nur zur Namensinspiration oder derartigem, ich musste ja irgendwann mein eigenes Kind da eintragen lassen. Hab sie nach ewiger Suche zusammen mit Jón gefunden, weil sie irgendwie in der hinterletzten Kammer waren. Inklusive meiner eigenen Geburtsurkunde. Kam mir da schon seltsam vor. Was finde ich heraus? Ich bin nicht der Sohn meines Vaters. Ich bin also auch nicht der Erbe dieser Familie. Und meine ganze Familie wusste das. Ich bin mein ganzes Leben lang Dingen nachgegangen, von denen ich dachte, dass sie meine Pflicht sind. Waren sie aber nicht. Mein Onkel wollte schon immer das Unternehmen meines Vaters haben. Soll er es doch haben. Und ich habe endlich eine Erklärung dafür, warum es ihm immer so arg gewesen war, dass ich es bekommen würde. Und dann habe ich tagelang nicht mit meinem Vater geredet, weil er sich geweigert hat, das mit mir auszudiskutieren. Und dann waren wir zusammen auf Walfang, weil man ja wegen eines blöden Streits nicht direkt seine Arbeit vernachlässigt -- ein Unwetter ist aufgezogen und er ist verschwunden während ich wie ein Feigling unter Deck saß und gewartet habe, bis der Sturm sich legt."
Rúnar atmete tief ein -- wieder aus. Ließ seine Fingernägel gegen den Krug klinkern. "Warum suche ich also nach meinem Vater? Schuld. Ja, schon. Aber vielleicht weiß ich auch einfach nicht, was ich sonst machen soll. Wenn ich ein Ziel habe, dann habe ich weniger das Gefühl, dass ich mich verlaufen habe, weißt du." Einatmen. Ausatmen. "Oder vielleicht fühle ich, dass ich meinem Vater etwas schuldig bin, weil ich eigentlich hoffe, dass ich ihn gar nicht mehr finde? Ich konnte ihm nicht mal zur Seite stehen als wir in ein Unwetter geraten sind -- wie soll ich mich denn Svavar stellen, wenn ich ihn finde? Wie soll ich mich mit meiner Angst anfreunden? Wie freundet man sich mit seinem Feind an?"
Nochmal einatmen -- ausatmen.
Jetzt sah er Tarón wieder an. Lehnte sich auf den Tisch. Sah ihm direkt in seine Seeaugen. Was Rúnar nämlich vermutete, würde leider seine ganzen, nun ordentlich geflochtenen, Gedankenfäden wieder hinfällig machen. "Und schuldet man wirklich niemandem etwas, Tarón? Oder wünscht du dir das nur?" Rúnar war nicht der scharfsinnigste Mensch, aber das hatte er bemerkt. Die Art und Weise, wie Tarón über Schuld sprach.
Rúnars Blick fiel nach unten. Er hob kurz die Hände. "Entschuldige", sagte er, ohne Zynismus, ohne Scherz. "Das war taktlos von mir. Du hast wohl mit diesem Thema ein bodenloses Fass aufgemacht und es kam irgendwie mehr raus, als ich beabsichtigt hatte." Und dass er die ganze Zeit Alkohol hineinkippte, half auch nicht.
Irrte er sich oder wirkte Rúnar etwas…atemlos? Aber wenn er an den sich leerenden Stand des Kruges und die Statur der „blassen Noblesse“ dachte war das vielleicht kein Wunder. Rúnar schien nach allem was er bisher beobachtet hatte eher wenig trinkfest zu sein – zumindest verglichen mit den anderen Kalibern an Board.
Das machte sich dann auch in dem Redeschwall bemerkbar, der plötzlich und untypisch aus ihm hervorbrach, nachdem Tarón für Nachschub gesorgt hatte. Aber trotz eines Verziehens der feinen Gesichtszüge leerte er zuvor noch den ersten Krug Bier. Dass man dieses besser trank bevor es schal wurde, musste er wohl noch lernen. Tarón schmunzelte und ließ sich in den Schauer von Rúnars Worten baden.
Die Informationen flogen ihm diesmal nur so zu und Taróns Gehirn schnappte sie gierig auf wie eine alte Strandmöwe.
Also hatte er sich nicht geirrt. Pflicht und Schuld – auch bei Rúnar das alte Spiel.
Und ja, Tarón verstand. Rationalität und das Wissen, dass Schuld nichts als selbstauferlegte Pein war, half nur allzu oft nicht sie dennoch zu fühlen. Noch einmal dachte der Falke daran, dass er wohl besser daran tun würde sich einmal selbst an seine götterverdammten schlauen Ratschläge zu halten und die Last auf den eigenen Schultern abzuschütteln, ehe sie ihn erdrückte. Aber das versuchte er nun schon seit einer gefühlten Ewigkeit…
Ja, er verstand.
Der Falke trank mit nachdenklicher konzentrierter Miene an seinem Bier, während er Rúnars Lebensgeschichte folgte, die sich in allem von seiner eigenen Historie zu unterscheiden schien.
Angefangen damit so etwas wie Vaterliebe auch nur zu kennen. Doch Tarón hatte andere Menschen geliebt – hatte Maira auf eine Art geliebt und seine eigene Mutter davor, auch wenn er sich an sie kaum erinnern konnte und ihm nur Fragmente von Eindrücken von ihr geblieben waren.
Taróns Mundwinkel zuckten nach oben, als Rúnar ihm sagte er dürfe sich geehrt fühlen – und auf eine Weise tat er das. Vertrauen war ein seltenes zerbrechliches Gut und ein Geschenk, dass Tarón zu schätzen wusste. Vor allem, weil er trotz aller scheinbaren Offenheit mit dem Seinen zu geizen pflegte. Zumindest was Vergangenes anging. Viel zu reden, Offenheit zu mimen war das beste Versteck für die Dinge, die man lieber unerwähnt ließ. Sein kurzes angedeutetes Nicken bestärkte das. Aber er sagte nichts, um Rúnar nicht in seinem Redefluss zu unterbrechen. Seine Augen wanderten nur ruhig zu den beiden Ringen, die Rúni präsentierte, ehe sie zurück zu seinem Gesicht glitten.
‚Warum haben wir geheiratet?‘ – nein, er fragte sich das nicht. Das Warum war für ihn bereits klar gewesen, als Rúnar davon sprach mit der Last eines Erbes bedacht worden zu sein. Auch wenn er natürlich derlei nie selbst erlebt hatte – selbst ein Niemand, Bastard eines namenlosen Erzeugers - wusste er, wie solche Dinge liefen. Und wie viel Leid oftmals mit ihnen verbunden war. Er kam nicht umhin an Aylah zu denken, die auf ganz ähnliche Weise hatte verschachert werden sollen. Allerdings nicht an einen Freund…
Das erneute Zucken seines Mundes war diesmal freudloser, auch wenn er seine Züge weiter ganz gut im Griff hatte.
°Nun Rúnar…Zehnjährige, die es sich leisten konnten, stellten so etwas nicht in Frage…°
‚Die Familie weiß, was für einen gut ist…‘
Wie sehr sich ihre Leben unterschieden.
Doch noch immer schwieg er und fuhr ihm nicht dazwischen, auch wenn die Gedanken ihn kurzfristig zurück zu seinem eigenen zehnjährigen Ich ziehen wollten. Für einen Moment konnte er rottendes Holz und Rum riechen und flüchtete sich in seinen Bierkrug, ehe die Schatten nach ihm greifen konnten.
Was Tarón weniger nachvollziehen konnte war, wie es gewesen sein musste eine vorgeschriebene Rolle ausfüllen zu müssen. Für ihn hatte es nie ein Schicksal, eine Bestimmung gegeben. Aber er kannte seinen eigenen Freiheitsdrang und nutzte diesen, um zu verstehen, wie es Rúnar im Walfangboot gegangen sein musste.
In kurzer Zeit ergaben sich drei sehr zentrale Teile im Puzzel: Rúnar hatte tatsächlich massive Erfahrung im Walfang – etwas, das man ihm auf den ersten Blick nicht zutraute; Er interessierte sich eher für Pferde – was ihn durchaus sympathisch machte. Tarón mochte Tiere, auch wenn sich seine Erfahrungen mit Pferden auf die Tiere seiner früheren Nachbarn konzentrierten und den heimlichen Proberitten die er auf den ungesattelten Tieren unternommen hatte…wenn er sie nicht aus dem Gatter ließ, um Chaos zu stiften. Das letzte war, dass er sich offenbar massiv dagegen gewehrt hatte seiner Frau ein Kind zu verpassen. Ok, sie waren „nur“ Freunde gewesen – Tarón hatte das kapiert. Aber in seinem Universum war das kein Grund nicht miteinander intim zu werden, wenn man denn nun schon einmal von „höheren Mächten“ in ein Ehebett gebracht wurde. War Àsta derart unattraktiv gewesen oder fand sie ihrerseits Rúnar so abstoßend, dass sie ihn nicht wollte?
Sein Blick glitt an Rúnars noblen Zügen entlang. Unwahrscheinlich…
Und wieder regte sich etwas Dunkles in ihm und er dachte an Isa und ihre Gründe. Erneut ertränkte er den aufkeimenden Gedanken im Alkohol.
n.
Nein, der Kern schien bei Rúnar zu liegen – Rúnar der sich „vorbereitete“ und „die Dinge nehmen musste, wie sie waren“. Als hätte er in die Schlacht ziehen müssen. Als wäre es schwerer zu akzeptieren gewesen mit dieser Frau zu schlafen, als sein Leben auf dem verdammten Walkahn fern von seinen Pferden zu fristen.
Oho und nun kam die dramatische Wendung in der Ballade! Taróns Brauen zuckten überrascht und Kunde davon tragend, dass er trotz Schweigens Rúnars Geschichte aufmerksam folgte.
„Hm…“
Wie Rúnar über diese Entdeckung dachte überraschte ihn – denn aus seinem vielleicht naiven Verständnis dieser Sachen änderte sich damit rein garnichts. Sein Vater hatte ihn zum Erben erklärt – und wenn er sich dieser Sache verpflichtet gefühlt hatte, als er noch dachte aus dessen Samen entsprungen zu sein, warum dann nicht mehr, als klar wurde, dass er adoptiert war?
°Wie schnell wir uns doch von Vorstellungen fesseln lassen – den eigenen, wie denen anderer.°
Und am Ende war es Alles nichts als Selbstbeschiss. Die Wahl – wenn es irgendeine Wahl gab -hatte es immer gegeben. Nicht erst seitdem er das Geheimnis entdeckt hatte.
Mitgefühl zeigte sich auf seinem Gesicht, als Rúnar zu seinen Beweggründen kam, zum Kern des aktuellen Gefühls.
Svavar? Wer war das? Der Name seines Vaters? Nein… Eine Lücke in dem gut gepflegten und nun um einige Teile reicheren Bildes.
Er kaute noch an diesen Gedanken, sortierte seine, um ihm zu antworten, als Rúnar weitersprach. Und diesmal trafen ihn die Worte wie ein Schlag in die Magengrube.
Gut darin seine Gefühle an und für sich hinter einer ruhigen Fassade zu halten oder nicht: diesmal sah man es dem Falken an.
Eine finstere Dunkelheit schlich in seinen Blick die fast schon Wut glich und einen kleinen Hinweis auf seine andere Seite preisgab. Die Seite die kaltblütig und grausam sein konnte. Skrupellos und tödlich. Die Seite, die Menschen vor Jahren schreiend hatte fliehen lassen, als die Hangman am Horizont erschien und die selbst seine Kameraden auf dem eigenen Schiff davon abgehalten hatte ihn zu sehr zu provozieren.
Doch er war keine zwanzig mehr. Nicht mehr so aufbrausend wie damals, nicht mehr so stolz und nicht mehr so stur darin niemanden auch nur einen Blick hinter die Fassade zu gestatten.
Selbst wenn man sie eintrat und er sich ertappt und auf eine seltsame Art fast nackt fühlte und er das Gewicht seiner eigenen Schuld wie einen Felsen auf sich niedergehen fühlte. Für einen Moment war er sicher, dass dies der Punkt war, an dem sie ihn doch zerquetschen würde.
Der Schmerz peitschte wie ein weiterer Schlag in seinen linken Arm, die Narbe entlang, - fast so, als wollten die Toten der Aurora ihm einen zusätzlichen Tritt verpassen. Ihn daran erinnern wer sie auf den Grund des Meeres gebracht hatte. Schuld! Ja…Schuld…
Die Zähne zusammenbeißend, um den unseligen Nervenschmerz in seiner gezeichneten Gliedmaße zumindest nicht zu offensichtlich werden zu lassen – auch wenn sie zitterte, Göttin, verdammtes Scheißteil. Er kam nicht umhin den Krug abzustellen und die rechte Hand auf die Stelle zu drücken, um zumindest das zu unterbinden – sah er Rúnar kalt in die Augen.
Der entschuldigte sich, bereits deutlich angetrunken und Tarón atmete tief durch. Langsam klang auch der Schmerz ab und er konnte den Arm wieder loslassen, auch wenn der Anfall nicht ganz vorüber war. Für einen Moment sagte Tarón nichts, nahm sich die Zeit Schmerz und Jähzorn gleichermaßen abebben zu lassen, ehe er die Augen kurz schloss und diesmal selbst den Blick abwandte. Als er jedoch sprach richtet er ihn wieder auf Rúnar. Seine Stimme war deutlich angespannter, defensiver und distanzierter als zuvor. Offenbar gab es Dinge, über die selbst er noch immer nicht so einfach hinweggehen konnte…und dieser Zufallstreffer war wohl eines davon.
„Ich wünsche es mir. Ja. Macht es das weniger wahr?“
Schnappte er fast wie ein bissiger Köter.
Nein…aber warum sonst gab er sich dann überhaupt mit dieser verfluchten Echse ab? Was, wenn nicht Schuld war es, die ihn Calwah nicht am nächstbesten Strand zurücklassen ließ, der ihn sogar dazu verleitet hatte, die Aurora in ihren Untergang zu führen und damit noch mehr Schuld, Schuld, Schuld auf sich zu laden, nur um dieses Drecksvieh zu retten?
Seine Stirn legte sich in Falten, als sein Blick nach unten abdriftete, er die Linke Hand, des noch immer schmerzenden Armes ballte und seine Kiefer einmal knirschend übereinander mahlten.
Er schüttelte leicht den Kopf, hob den Blick wieder und entspannte auch seine Hand.
„Treffer, Rúnar. Glückwunsch.“
Doch seine Stimme klang nun eher müde, denn zornig. Loslassen fing hier an, nicht wahr? Offenbar hatte er mit diesen Dingen nicht im Ansatz so gut abgeschlossen, wie er sich selbst vormachen wollte.
Er trank einen Schluck, beäugte Rúnar dabei mit einer leicht seitlichen Haltung und wog ab.
Mit dem Abstellen des Kruges wandte er sich ihm wieder ganz zu.
„Entschuldige dich nicht für Dinge, die du genau so gemeint hast. Und ja…du hast Recht: ich wünsche es mir. Und ich glaube daran. Weil Glaube auch nichts anderes ist, als sich an etwas zu halten, um nicht in den Abgrund daneben zu stürzen. Meine Wahl. Meine Form „es hinzunehmen, wie es ist“. Weil ich es nicht mehr ändern kann.“
Nun schlich sich doch wieder ein Grollen in seine Stimme. Ein leises Donnern wie das Dröhnen eines entfernten Sturmes. Der Schmerz kam wieder, aber ob er aus seinem Arm oder etwas viel tiefer drin Liegendem kam war schwer auszumachen.
„Weil sie tot sind. Und nichts – absolut garnichts wird daran etwas ändern! Und das Rúnar – gilt wahrscheinlich auch für deinen Vater, der nicht dein Vater ist! Wir haben versagt, als sie uns brauchten – so einfach ist das.“
Grausamkeit…oh ja. Sie konnte in mehr bestehen als in körperlicher Gewalt. War das Rache? Kindische Rache, weil Rúnar ihn tiefer verletzt hatte, als er hatte ahnen können? Weil dieses Fass im Grunde sein Fass war und er gradewegs durch den Boden gebrochen war? Er der sich in charmantes Lächeln und gute Ratschläge hüllte und am Ende doch besser auf dem Grund des Meeres verrotten sollte – zusammen mit denen, welchen er dieses Schicksal beschert hatte.
Darauf lief es hinaus, oder? Ein Teil von ihm versuchte noch immer dem Sog des sinkenden Schiffes zu entkommen, ein Teil von ihm war noch immer an diesem verdammten Strand mit dem roten Sand und den spöttisch leuchtenden Sternen…und ein Teil von ihm stand auf der Hangman und sah Isala langsam am Horizont verschwinden, sah Maira, als diese Farans Leiche fand…Und ein Teil von ihm wünschte sich nichts mehr, als selbst mit zerschossenem Gesicht in eben jener Hütte zu liegen, dem Pandämonium seiner Kindheitshölle; am Strand auf Lilanja zu verbluten oder mit der Aurora und ihren Geistern am Boden des Meeres zu liegen. Weil es das war, was er verdiente.
Er kniff die Augen zusammen, schüttelte kurz den Kopf, trank einen tiefen Schluck.
Narzissmus. Was für eine Scheiße… und er blieb dabei: es war Narzissmus, wenn er sich selbst als so wichtig erachtete, dass das alles nur an ihm gelegen hätte. Und es war so bequem sich in den Schatten der Schuld zu flüchten in die dunkle Umarmung und sich einfach selbst zu gleichen Teilen zu hassen… und zu bemitleiden.
°Schüttel es ab…du verdammter alter Narr!°
Seine Stimme war leise, auch wenn er zuvor ebenso nicht laut geworden war.
„Nun war ich taktlos. Wir sind also quitt.“
Er entschuldigte sich nicht, auch wenn er es gerne getan hätte. Er wusste, dass es unfair von ihm gewesen war, dass Rúnar unmöglich hatte ahnen können, was er damit anstieß – dafür hatte er immerhin selbst gesorgt. Und es tat ihm leid.
Aber wenn Rúnar auch selbsterklärt wenig auf seinen Stolz gab war das bei Tarón etwas Anderes. Und so konnte er nicht mehr anbieten als einen Pat – und hoffen, dass Rúnar diesen akzeptieren und es ihm nicht zu sehr nachtragen würde. Wenn es so war, wäre das wohl etwas, das er sich auf seine „Schuld-Liste“ schreiben konnte…dann hatte er es wohl verkackt.
Schweigen, dann ein schwaches Lächeln. Und ein wesentlich versöhnlicherer Tonfall.
„Meinen wunden Punkt hast du damit wohl ausgelotet. Vielleicht darfst du dich nun geehrt fühlen.“
Ein Fetzten Sarkasmus. Erneut ein Kopfschütteln.
„Eigentlich sollte es um dich gehen…ich…wollte nicht so hochfahren. Und hätte es nicht sollen…“
Na? War das etwa doch so etwas wie eine Entschuldigung? Er sah Rúnar an, fast eine Bitte in den Augen ihm diesen Moment des Kontrollverlustes nachzusehen.
Rúnar war sich nicht sicher. Taróns Haltung änderte sich irgendwie und er konnte zunächst nicht sagen, wie und woran es lag. Oder ob er sich nur irrte. Doch dann begann Taróns Arm zu zittern -- irgendwie unkontrolliert. Rúnars Blick huschte zwischen Taróns Arm und dessen Gesicht hin und her. Er hatte offensichtlich Schmerzen, das konnte sogar Rúnar sehen. Und er wusste nicht was er tun sollte -- ob er überhaupt etwas tun sollte. Wahrscheinlich nicht. Jemand wie Tarón wirkte nicht, als ob er Hilfe bräuchte. Das bestätigte sich, als Tarón scheinbar gezielt seinen Krug abstellte und seinen Arm festhielt.
Rúnar sah bewusst weg. Offensichtlich war Tarón dabei, etwas unter Kontrolle zu bringen, das er nicht kontrollieren konnte.
Rúnar zuckte kaum merklich zusammen als Tarón ihn anging. Aber dann schweifte sein Blick zurück zu dem anderen Mann, er sah ihn von unten herab an, atmete tief ein. Etwas in seiner Brust hatte zu brodeln begonnen, er war drauf und dran zurückzuschnappen -- und das lag nicht an seinem Alkoholpegel.
Ordnung. Chaos. Ordnung.
Aber es war wohl nur ein kurzer Ausbruch gewesen -- bloß, dass Tarón noch immer angespannt wirkte. In jeder anderen Situation hätte Rúnar die Chance vielleicht genutzt um die Situation zu eskalieren. Und es dann wieder gut sein zu lassen. Ordnung. Chaos. Ordnung. Dass er es doch nicht tat, lag einerseits nun wirklich an seinem Alkoholpegel. Andererseits daran, wie Tarón sprach. Treffer. Glückwunsch. Das hier war kein Stierkampf und Rúnar kein Matador. Er war nicht darauf aus gewesen, Tarón zu verletzen, also musste Tarón sich nicht geschlagen geben.
Aber das tat Tarón anscheinend auch nicht. Und da war es: Die Teile die Rúnar Tarón hingeschmissen hatte, die der andere geholfen hatte zusammenzuschieben, wurden zu einem Mosaikl. Das Gefühl, dass Rúnar seinem Vater verpflichtet war, dass er ihn suchen musste; das Gefühl, dass er Svavar finden musste -- es war eigentlich, wie er gedacht hatte: Er hoffte nicht mehr, seinen Vater zu finden, weil er es ihm schuldig war. Er hoffte Svavar zu finden, weil er es sich selbst schuldig war. Er wollte aus den Dingen ausbrechen, die ihm seit seiner Geburt an auferlegt geworden waren, die ihn immer die für ihn gepflasterte Straße entlang geschickt hatten. Mit Scheuklappen und vor einen Wagen gespannt, auf den all seine Pflichten aufgeladen waren. Die Scheuklappen war er losgeworden, als er sich dazu entschieden hatte, seinen Vater suchen zu gehen -- und die Welt hier draußen war verdammt furchteinflößend.
Er mochte gut so sein, wie er war, aber er war nicht er. Er musste erstmal wissen wer er war, um gut so zu sein, wie er war.
Und am Ende konnte er vor seinem Vater stehen und ihm zeigen, dass er nicht nur ein gebrochenes, stumpfsinniges Zugpferd war, dass den Weg entlang ging, auf den es gelenkt wurde.
Taróns Worte lenkten Rúnar von seinen Gedanken ab. Rúnars Blick muss noch ernster geworden sein. Seine Entschlossenheit intensiver -- er hatte immer noch dieses Gefühl in seiner Brust und er fuhr mit der Handfläche über die Stelle, wo er es spürte -- dort wo seine Rippenbogen sich trafen.
Tarón hatte keine Ahnung ob Rúnars Vater tot war. Nicht im geringsten. Rúnar wandte seinen Blick ab, seine Hand ging zu seinen Haaren, seine Finger strichen seine mittlerweile viel zu langen Strähnen aus seiner Stirn und sein Atemzug war zittrig -- weil es in seiner Brust zu sieden begonnen hatte.
Weil sie uns brauchten? Tarón hatte an jemanden bestimmten gedacht. Aber das wunderte Rúnar nicht. Schien als zeigte Tarón gerade sein wahres Gesicht. Was einerseits gut war, denn es zeugte davon, dass er ihn nun wirklich kennenlernte. Aber--
So war es irgendwie nicht. Es kam Rúnar nicht so vor, als ob alles nur eine Maske gewesen war und jetzt der wahre Tarón zum Vorschein gekommen war. Es war mehr so, als ob Tarón sich nur entschied den einen Teil von sich außen vor zu lassen -- weil er selbst nicht damit umgehen konnte? Das überstieg aber nun Rúnars Fähigkeit, den anderen Mann zu lesen.
Eins aber hatte er gewusst: Stille Wasser waren durchaus tief.
Er hatte auch gewusst, dass in diesem tiefen Wasser sehr wohl ein Ungeheur liegen könnte, doch er hatte nicht vorgehabt es zu wecken. Und so wie er den anderen Mann gerade vor sich hatte -- scheinbar hart mit sich selbst ringend -- hätte er es mehr um Taróns als um seinetwillen vermieden.
Rúnar sah Tarón nicht wieder an als der weitersprach.
Nichts da, quitt.
Nichts da, geehrt fühlen.
Mit Taróns Worten versiegte das Sieden in Rúnars Brust und als er seinen Blick hob, traf er auf Taróns. Dessen Blick nun ein ganz anderer war.
Rúnar war kein nachtragender Mensch. In der Regel. Doch wenn er es war, dann sicher nicht gegen Tarón.
"Entschuldige, Tarón", sagte er. "Wirklich. Ich fühle mich nicht geehrt, red' keinen Unsinn -- ich fühle mich bescheuert, dass ich dich sowas Dummes gefragt hab." Er fand nicht, dass es per se etwas Dummes war. Er fand es berechtigt. In anderen Situationen hätte es vielleicht zu einer produktiven Diskussion angeregt und er selbst wäre der einzige gewesen, den er unter Umständen damit unglücklich gemacht hätte. Aber Tarón -- der weise, humorvolle, charakterfeste Tarón -- dass man den auf dem falschen Fuß erwischen konnte -- und dabei noch so sehr Salz in eine Wunde streuen konnte, die offensichtlich schon lange vor sich hinsiechte ... "Und es muss nicht nur um mich gehen -- falls du über etwas reden willst, dann höre ich zu. Diesmal, ohne dumme Fragen zu stellen." Er hob seinen Krug und gab Tarón ein schiefes, äußerst zaghaftes Lächeln. "Auf dein Geheule?"
Trotz seines Ausbruches bekam Tarón mit, dass Rúnar auf seine Art versuchte Rücksicht zu nehmen. Oder war es Fremdscham, die ihn den Blick abwenden ließ – nein. Dieser Gedanke ging wohl eher auf seine eigenen Dämonen zurück, die gierig nach allem bissen, was sie von seinem Moment der Schwäche erhaschen konnten.
Für einen Augenblick schien es jedoch als wolle sein blonder Freund zurückfeuern. Tarón sah es in seinen Augen, ehe er sie wieder abwandte, sich offenbar anders entschied. Aber er vernahm das Beben in seinem Atemzug, den Griff ans Herz, spürte das Kochen beinahe mehr, als man es sehen konnte, denn auch Taróns Worte hatten ihr Ziel wohl nicht verfehlt. Und im Gegensatz zu Rúnar hatte er bewusst gezielt. In einem Anflug hässlicher Wut, die am Ende doch nur ihm selbst galt.
Doch diese verrauchte spätestens mit Rúnars zweiter Entschuldigung. Kondensierte zu Asche, die sich mit der vereinte, die auch die Gebeine aller anderen Fehltritte beinhaltete.
„Es war nicht dumm…“
Antwortet er fest, auch wenn seine Stimme so klang, wie er sich fühlte: ausgebrannt.
Und dann kam das Angebot. Wie eine Tür, die sich nun vor ihm aufschob und einen Strahl Lichts in einen lange dunklen, verstaubten Raum ließ. Jenem Raum in dem er sich wohl schon viel zu lange selbst eingesperrt hatte - alleine mit Gedanken und Monstern.
Es war einladend - auch, weil niemand sonst ihm zuvor in dieser Art die Tür für ein Gespräch geöffnet hatte. Es hatte sich niemals jemand auch nur im Ansatz genug für ihn interessiert, um das zu tun - sah man Isa und Aylah ab…und von Jack auf seine Art. Erstere hatte es so oder so schwerer als er und er würde den Teufel tun sich bei ihr auszuheulen und sie mit seinen Problemchen zu belasten. Das durfte er nicht.
Und Aylah...war tot. Und zentraler Bestandteil dieses in Bruchstücken daliegenden Werkes, das er sein Leben schimpfte. Genau wie Jack.
Aber Rúnar fragte. Und vielleicht interessierte es ihn wirklich…
Dennoch war es schwer. So schwer! Denn wenn er durch diese Tür ging gab es kein Zurück mehr - nicht Rúnar gegenüber, vielleicht überhaupt nicht. Dann wusste er es - wie auch immer sein Urteil ausfallen würde. Und tatsächlich fürchtete er dieses Urteil. Fürchtete, dass es genauso ausfallen konnte wie jenes, das der narzisstische Teil in ihm wieder und wieder über sich selbst fällte. Und dann stünde er erneut in diesem Raum. Alleine tanzend mit den Gespenstern - und ohne Tür die den Blick auf ihn und sie verbarg.
Er rang mit sich und dass er dies sichtbar werden ließ war zum einen Teil eines schon lange gärenden Prozesses, zum anderen bereits ein Vertrauensbeweis, denn nicht einmal bis zu diesem Punkt hatte er bisher jemand anderen kommen lassen.
Er umschlich die Option wie eine alarmierte Katze.
Und schließlich traf er seine Entscheidung.
"Also gut. Aber dafür brauchen wir etwas Stärkeres als Bier."
Und mit "wir" meinte er sich. Der Gang zum Tresen verschaffte ihm weitere Minuten in denen er Zeit hatte seine Entscheidung doch noch einmal zu überdenken. Aber Tarón neigte dazu bei einer einmal getroffenen Wahl zu bleiben.
Er kam gleich mit einer ganzen Flasche zurück und stellte den Rum plus die zwei Gläser vor Rúnars Nase ab, wie er es auch schon zuvor mit dem Bierkrug gemacht hatte. Ohne den anderen groß anzusehen schenkte er sich ein erstes Glas ein und leerte es mit einem Zug. So viel zu Manieren, aber die waren ihm gerade wirklich egal.
"Ich...nun ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie ich beginnen soll. Also mache ich es wohl wie du und beginne am Anfang: Ich bin auf Chikarn aufgewachsen- allerdings in ganz anderen Verhältnissen als du. Sehr anderen…
Eines aber haben wir gemeinsam: der Mann der mich aufgezogen hat war nicht mein Vater. Damit endet aber auch schon jede Ähnlichkeit- zumindest wünsche ich dir das."
In der Sache war er sich jedoch sehr sicher. Niemand würde über einen Faran von „Vaterliebe“ sprechen.
„Meinen Vater kannte ich nie und meine Mutter starb als ich 6 war.“
Er schüttelte leicht den Kopf.
„Ich weiß nicht wie lange ich in unserer kleinen Hütte ausgeharrt haben und ihrer Leiche beim Verrotten zusah, während ich selbst auf meinem Tod wartet, weil ich ansonsten nicht wusste, was ich tun sollte. Meine Tante – ihre Schwester – fand mich schließlich und nahm mich mit zu sich. Isa war da grade zwei Jahre alt.“
Diese Erinnerung brachte ein leichtes Lächeln auf seine Lippen, das angesichts der anderen Erinnerungen jedoch schnell verschwand.
Bevor er weitersprach schenkte er sich ein weiteres Glas ein, trank diesmal jedoch nur einen Schluck.
„Mein Onkel war ein Monster. Und ich sage das nicht leichtfertig. Ich möchte behaupten, dass ich in meinem Leben einige furchtbare Männer getroffen habe – grausame, abartige. Aber bis auf einen weiteren würde ich keinen von ihnen so betiteln. In dem Mann ging etwas Dunkles vor sich, etwas, das über reine Bosheit hinausging.“
Etwas, das nicht ihn betraf. Es betraf Isa. Aber es war nicht an ihm davon zu berichten und es war auch nicht an ihm sich über ihr Leiden als ein Held darzustellen, der er nicht war. Also blieb er bei seiner eigenen Geschichte und ließ den Rest offen.
„Zu seiner „Ehrerettung“ – als wenn er auch nur im Ansatz so etwas wie Ehre gekannt hätte: ich habe es oftmals provoziert.“
Den tatsächlichen Grund hierfür konnte er jedoch nicht nennen… also nannte er den zweiten, der in seinem Kern ebenso wahr war.
„Keine Ahnung warum…aber irgendwie und irgendwann kam ich wohl dazu zu glauben, dass dies einfach meine Rolle war. Wenn er mich schlug wusste ich zumindest woran ich war. Wo ich stand. Und es gefiel ihm, dem Mistkerl. Auch wenn er in klaren Momenten versuchte irgendwas „wieder gut“ zu machen, war das offensichtlich. Und es wurde schlimmer. Irgendetwas in ihm drin fraß an seiner götterverfluchten Seele, bis davon nichts mehr übrig blieb…“
Diesmal leerte sich das Glas – er verschwendete keine Zeit und füllte es nach.
Warum erzählte er das alles, so ausführlich beginnend dort wo es an sich keine Relevanz für Rúnars Frage hatte? Vielleicht wollte er Mitleid- er der nie welches erfahren, es nie gebraucht oder gesucht hatte. Aber er hatte sich auch noch nie so verletzlich gemacht. Nicht vorsätzlich zumindest.
„Wie auch immer…eines schönen Tages fand ich einen verletzten Piraten. Ich war zehn…und ich beschloss dem verlumpten blutenden Kerl zu helfen. Es gab ein Versteck, das nur ich kannte. Eine kleine Höhle, deren Eingang nur bei Ebbe zu erreichen war – es sei denn man wollte tauchen. Hab ihn dort versteckt und ihm Sachen gebracht und mich mit ihm angefreundet.“
Wärme stahl sich in seinen Blick, eine tief empfundene Liebe dem alten Jack gegenüber, die wohl nichts auf dieser Welt je brechen würde.
„Isa lernte ihn auch kennen: Black Tooth Jack! Benannt danach, dass seine Zähne schwarz wie Rattenscheiße waren von dem Kraut, dass er immer kaute.
Wir hatten uns Hoffnung gemacht, geträumt, dass er uns mitnehmen würde…aber das tat er nicht. He…“
Nachdenklich drehte er das Glas in seiner Hand und blickte sich selbst im Honigschein des Rums entgegen.
„Wie auch? Wir waren zwei kleine unnütze Sprotten…nun…er kehrte zu seiner Crew zurück, aber er kam wieder und er besuchte uns und ich träumte weiter meinen Traum von Freiheit, um nicht daran denken zu müssen, wo ich wirklich war.“
Ein Schluck, eine kurze Pause.
„Für Isa hatte es nie eine Chance dazu gegeben…als Mädchen…noch so jung. Doch mir stellte Jack schließlich ein Ultimatum, als er mir zum zwölften Geburtstag eine seiner Pistolen schenkte…
Göttin ich vermisse das Scheißteil. Liegt nun auf dem Grund des Meeres bei…allem andern. Aber dazu kommen wir noch, wenn du bis dahin nicht längst die Schnauze voll hast.
Nun. Jack war nicht blind – er wusste, was bei uns Zuhause passierte. Aber es war nicht an ihm diese Sache zu lösen. Es war an mir. Das wussten wir beide im Herzen. Er gab mir das Ding und seine Worte werde ich nie vergessen:
‚Es gibt nur eine Art, wie man dem Teufel begegnet, Tarón: mit gebleckten Zähnen und einer geladenen Waffe! Töte ihn bevor er dich tötet!‘
Und das hätte er getan…ziemlich sicher. Da ich aber hier bin kannst du dir denken wie die Sache ausging. Ich erschoss meinen Onkel. War überrascht davon wie viel von seinem Gesicht die scheiß Pistole weggerissen hat…ich stand zu tief, hab zu sehr gezittert, deshalb habe ich sein Auge verfehlt…“
Rúnar ansehend zeigte er auf die Stelle ein paar Zentimeter unter dem linken Auge, ehe er die Hand sinken ließ.
„Hat es ihm dennoch weggerissen, zusammen mit einem guten Teil seiner Zähne und schließlich auch Teilen seines Hirns.“
Das Bild Farans brannte vor seinen Augen, der einäugige Blick des Monsters starr in seinem begraben. Keine Angst, keine Überraschung oder auch nur Schmerz, nur ein Abgrund aus bodenlosem Hass!
„Er…starb nicht gleich. Wahrscheinlich kam es mir weit länger vor, wie ich da mit Isa am Boden hockte und heulte, während er um sich schlug und trat und zuckte…aber es war sicher eine halbe Stunde, bis er endlich stilllag. Unsere Tante fand uns schließlich… und egal ob Jack Recht hatte oder nicht: ich habe ihren Mann getötet. Für mich gab es in Chikarn kein Zuhause mehr. Nachdem wir Faran – meinen Onkel – verscharrt hatten, ging ich fort und schloss mich Jack auf der Ocean’s Hangman an…“
Ein schiefes Lächeln neben einem schief gehaltenen Glas.
„Nun, Rúnar…das war Kapitel eins meines Geheules…soll ich weitermachen?“
Es war nicht dumm? Sehr gut. Letztendlich hatte Rúnar das ohnehin eher gesagt, um Tarón zu beschwichtigen. Es hatte anscheinend funktioniert. Und es hatte wohl auch dazu geführt, dass es bis auf offensichtliche Wut und Schuld noch etwas in Tarón ausgelöst hatte. Etwas, das ihn -- wider Rúnars Erwartungen -- dazu brachte, ihm eine Tür zu seiner Vergangenheit zu öffnen.
Wenn er sich nicht auf dem Weg zur Bar umentscheiden würde. Rúnar sah ihm hinterher, musterte die Form seiner Schultern, die Art wie er ging. Sah kurz weg und nahm einen tiefen Atemzug. Das war nicht der passende Moment um Herzchenaugen zu machen. War es von Anfang nicht gewesen -- was hatte sich sein blödes Hirn dabei nur wieder gedacht?
Rúnar hob die Augenbrauen, als Tarón eine ganze Flasche -- er musste etwas genauer auf das Etikett sehen-- Rum vor ihnen abstellte. Und zwei Gläser. Und dann trank Tarón ein ganzes Glas aus ohne abzusetzen. Rúnars Augenbrauen waren immer noch gehoben und er verkniff sich einen unangebrachten, sarkastischen Kommentar -- es musste Tarón wirklich arg sein. Entweder das was er zu sagen hatte, oder dass er sich dazu entschieden hatte, überhaupt etwas zu sagen. (Vermutlich beides.)
Rúnar nahm einen Zug von seinem Bier, stellte es wieder ab, zog das Rumglas zu sich, aber es blieb leer.
Es gelang ihm, Tarón (ohne Herzchenaugen) anzusehen. Es fiel ihm leichter jemand anderen anzusehen der sprach, als jemanden anzusehen, wenn er selbst sprach. Und er wollte Tarón weiterhin bedeuten, dass er zuhörte und das hören wollte, was er zu sagen hatte.
Vater nie gekannt, Mutter gestorben. Rúnar konnte das bis zu einem gewissen Punkt nachfühlen. Seine Mutter hatte die Familie verlassen als er klein war -- und hatte ihn bei dem Mann gelassen der noch nichtmal sein Vater war. Auch er war zusammen mit seinem Cousin aufgewachsen, der ihm letztendlich auch näher stand als seine Geschwister. Aber das war alles nur halb so extrem wie Taróns Leben gewesen war. Und Rúnar hatte sich ausgerechnet bei ihm über seine banalen Probleme beschwert. Dabei hätte er sich eigentlich denken können, dass Tarón nicht aus Spaß an der Freude Pirat war.
Als Tarón einen Schluck von seinem Rum nahm, nahm Rúnar einen von seinem Bier -- und rückte sich dann so hin, dass er Tarón komplett zugewandt war.
Auch Rúnar selbst hatte neben einer verwesenden Leiche gesessen und man hatte ihn fast gewaltsam von ihr wegzerren müssen -- aber ein geliebtes Haustier war noch lange keine Mutter.
Auch Rúnars Onkel war ein bösartiger Mensch -- aber kein Monster.
Und Rúnar wurde nie, nie geschlagen.
Es trieb ihm die Tränen in die Augen und er musste einmal tief einatmen, damit sie dort auch blieben. Er wollte nicht, dass Tarón dachte, dass Rúnar ihn bemitleidete. Die Art und Weise, wie er davon erzählte, ließ Rúnar glauben, dass er kein Mitleid wollte. Und es half ja auch nichts mehr -- was passiert war, war passiert. Auf der anderen Seite tat es ihm leid und er schämte sich dafür, dass er sich darüber ausgelassen hatte, dass ihm selbst so schlecht ergangen war -- dabei war sein eigenes Leid nur ein Dreck unter dem Fingernagel eines Riesen.
Ein Lächeln huschte kurz über Rúnars Gesicht, über die Art wie Tarón über den Piraten sprach und er lachte kurz auf, als Tarón dessen Zähne mit der Farbe von Rattenscheiße beschrieb.
Als Tarón dann erzählte, wie er seinen Onkel getötet hatte, ging Rúnars Hand zu seiner Brust -- ein intensives Gefühl machte sich in seinem Herzen breit, aber er konnte nicht genau sagen, was es war. Auf sich projizierte Genugtuung? Entsetzen über die Vorstellung von einem kleinen Jungen, der einen Mann erschoss? Hochachtung dafür, wie ruhig Tarón gerade davon erzählte?
Bei der Vorstellung, wie er und Isa dasaßen und weinten, konnte er seine eigenen Tränen nun auch nicht mehr zurückhalten. Er versuchte nicht großartig sie zu verbergen, aber wischte sich trotzdem kurz mit dem Handgelenk über die Wange.
Als Tarón geendet hatte, nahm Rúnar erstmal einen großen Schluck von seinem Bier. Es kam ihm weniger bitter vor -- vielleicht weil er sich dran gewöhnt hatte -- oder weil Taróns Worte einen bittereren Geschmack hinterließen als das Getränk.
Rúnar entgegnete das Lächeln. "Ich bitte darum", sagte er, so bestimmt aber so sanft wie möglich. Er hatte nicht vor, dass Tarón sich genötigt fühlte. Aber er wollte auch nicht den Eindruck erwecken, dass es ihm zu viel war.
Tarón hatte jemanden umgebracht. Vielleicht zu Rúnars eigener Überraschung, verschreckte ihn das nicht allzu sehr. Es tat seiner Zuneigung keinen Abbruch, vielleicht hatte es diese sogar noch verstärkt. Zum einen hatte er nichts anderes erwartet, als er sich einer Piratencrew angeschlossen hatte. Zum anderen zeugte das davon, dass Tarón ihm irgendwie vertraute.