06.03.2022, 22:51
Diesmal lief Jón ein kalter Schauer über den Rücken, als Tarón ihn so intensiv ansah. Für einen Augenblick fragte er sich, warum ihm das so unangenehm war.*
*Und die Erkenntnis streifte lediglich seinen Geist: Weil der Kerl ihn komplett durchschauen konnte. Und das konnte Jón noch nicht einmal bei sich selbst.
Vor dem würde er sich besser in Acht nehmen.
Jóns Blick zuckte kurz über Tarón, als der sich bewegte -- vermeintlich gezielt einen Schritt zu Seite tat. Seine Muskeln spannten sich an und dann fauchte die Echse, die auf Taróns Schulter saß, ihn an--
Jón zuckte zurück -- ärgerte sich über diese reflexartige Reaktion. Weniger, weil er nicht zeigen wollte, dass ihm diese ganze Situation arg war, sondern weil es ganz speziell Tarón in die Karten spielen würde, so wie Jón ihn in dieser kurzen Zeit bisher wahrgenommen hatte. Jemand der wusste wie andere Leute tickten und das auf deren Kosten nutzen konnte. Und wenn es im Moment auch nur scherzhaft war.
Und er ärgerte sich auch darüber, dass sein nächster Gedanke war, dass ihn interessierte, was das für eine Echse war. Er hatte noch nie etwas derartiges gesehen, auch nicht in irgendwelchen Büchern. Aber das war einfach unglaublich unwichtig, gerade.
Doch auch der Gedanke verfiel ebenfalls. Denn Jóns Hand ballte sich so schnell zu einer Faust, dass seine Aufmerksamkeit gar nicht schnell genug nachkam. Taróns Lachen; die Art, wie er seine Worte hervorbrachte, die Jón gar nicht wirklich registrieren wollte -- die er aber sehr wohl registrierte, denn seine andere Hand ließ den Stoff, den er sich vor die Nase hielt los und ballte sich ebenfalls und er machte einen festen Schritt auf Tarón zu -- und hätte sich dessen Haltung nun nicht schlagartig geändert, so hätte Jón den anderen beim Kragen gepackt, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, was das für Konsequenzen gehabt hätte.
Und da waren sie auch schon gewesen: Witze auf Jóns Kosten. Zu denen er überhaupt nicht aufgelegt war.
Jóns Blick folgte dem von Tarón. Sein Hals begann zu kratzen und er musste einmal aufhusten, zog sich wieder sein Hemd vor die Nase -- nur um es dann sofort wieder fallen zu lassen.
Es ging ihm gut. Rúnar ging es gut.
Weniger die Überraschung darüber, dass sie sich sahen, sondern die Tatsache, dass sie sich seit einem Jahr nicht gesehen hatten, aber dass alles so war wie immer, brachte Jóns Blut zum Rauschen. Wie Rúnar ihn ansah, als er sich das Tuch vom Gesicht zog; wie Rúnars Stimme sich anhörte; die Art seiner Gestik, als er sich die Hand vor den Mund schlug und sich an dem Mann neben ihm festhalten musste. Dass es einfach Rúnar war -- einfach Rúnar, trotz längerer Haare und verdreckter Klamotten und neben komplett fremden Menschen und in einer Umgebung in der er niemals damit gerechnet hätte, dass sie sich jemals beide gleichzeitig dort befinden würden.
Jóns Beine setzten sich, ohne, dass er auch nur eine Sekunde darüber nachdachte, in Bewegung und im nächsten Moment schlang er seine Arme um Rúnar und hielt ihn fest.
Er konnte sich nicht daran erinnern, wann sie sich das letzte Mal umarmt hatten -- wahrscheinlich als sie Kinder waren** -- und er konnte sich im Moment nichts besseres vorstellen. Er fühlte sich, als hätte er nach einer Goldmünze gesucht und auf dem Weg dorthin einen Diamanten gefunden. "Götterverdammt", murmelte er. "Ich wusste, dass ich dich finde."
**Das stimmte nicht. Rúnar hatte Jón im Arm gehalten, als seine Frau und sein Kind gestorben waren. Viele Leute hatten ihn da im Arm gehalten. Selbst sein Vater. Doch das war eine Zeit in seinem Leben, die er tief, tief in seinem Gedächtnis vergraben hatte und nicht so einfach wieder ausgraben würde.
{ Hauptmast mit Rúnar, Tarón, Liam, Greo, James und Isala }