28.02.2022, 19:58
Nachdem der Abend schon ein bisschen vorangeschritten war, hatten sich einige bereits verabschiedet. Soula nicht, irgendwie fand sie es doch recht gemütlich und auch wenn sie Zairyms Zaubergetränk dankend abgelehnt hatte, hatte sie bei anderen Schnäpsen zugelangt und auch nochmal das ein oder andere Bier getrunken. Demnach war sie auch schon gut dabei und ließ ihre trüben Gedanken zu ihrem Vater und auch zu Loki, der sich dieser Gesellschaft nicht angeschlossen hatte, vertreiben. Kurzzeitig hatte sie die Tatsache, dass Loki sich abschottete genervt, aber Soula kippte das mit dem nächsten Schluck ihres Bieres einfach direkt mit hinunter. Eine Zeit lang hatte sie sich mit Tarón unterhalten und auch nochmal mit Lucien. Inzwischen war die Truppe aber gut zusammengeschrumpft und Soula hatte ehrlich gesagt noch nicht das Bedürfnis den anderen ins Bordell zu folgen, auch wenn es vielleicht sogar das Beste gewesen wäre. Aber seit wann traf man mit Alkohol die besten Entscheidungen? Ihr Blick lag auf Alex, der ebenfalls immer noch anwesend war… offensichtlich! Soula überlegte nicht lange, erhob sich von ihrem Platz und suchte den neben Alex aus, um sich wieder niederzulassen. Sie saß an diesem Abend schon mal neben ihm und es war ganz amüsant gewesen.
„Scheinst auch noch nicht gehen zu wollen“, stellte sie unnötigerweise fest.
„Wie trinkfest bist du?“, wollte sie wissen und sah Alex schmunzelnd an.
Oh, wie hatte er diese Abende vermisst. Sich in der Taverne einem Umtrunk anschließen war das eine - es mit Freunden tun, etwas ganz anderes. Alex hätte nicht gedacht, Liam so schnell wiederzusehen. Noch weniger hätte er gedacht, dass er gleich eine komplette Crew mitbringen würde, die ihre bisherige Lebensweise ein wenig auf den Kopf stellen würde. Daher hatte er sich an diesem Abend nicht groß aufs Tanzen eingelassen, sondern die Zeit genutzt, die Anwesenden Crewmitglieder etwas besser einschätzen zu können. Und wie ging das besser als unter Alkoholeinfluss? Gemeinsam mit dem Captain und Zairym hatte er noch die ein oder andere Runde genossen und sich gefühlt durch den halben Schnapsvorrat der Taverne probiert. Inzwischen war der Abend weit vorangeschritten und die Räumlichkeit überschaubarer gefüllt als vor ein paar Stunden noch. Ein weiterer Schwung ihrer Gruppe machte sich auf Richtung Bordell und Alex spielte mit dem Gedanken, sich ebenfalls auf den Weg zu machen. Sein Blick suchte Liam, um ihm statt seines Schlafplatzes im Bordell einen Teil seines Tavernenzimmers anzubieten, doch Soula lenkte ihn ab und ließ ihn seinen Gedanken vergessen.
„Willst du das wirklich herausfinden?“, lachte er und musterte die Jüngere skeptisch.
Sie sah ihm nicht nur in Statur nach, sondern auch in der Erfahrung der Leber, vermutete Alex. Seine Frage allerdings war rein rhetorisch, denn im fast gleichen Moment leerte auch er seinen Krug und hob die Hand, um zwei weitere Biere zu bestellen. Soula sah zuversichtlich aus, also ließ er sich die Herausforderung nicht entgehen.
„Schläfst du nicht auch bei denen in Puff?“
Dass sie da gerade ganz eventuell Liam und Alex bei irgendwelchen Plänen unterbrochen hatte, war ihr in ihrem aktuellen Zustand nicht aufgefallen. Als ihr Hirn realisierte, wie Alex ihre Worte aufgenommen hatte, was einige Sekunden mehr als üblich gebraucht hatte, schüttelte sie den Kopf.
„Ich kann dich nicht unter den Tisch trinken!“, meinte sie so, als würde sie sich fragen, wie Alex überhaupt auf diese Idee gekommen war.
„Zumindest heute nicht mehr… und auch sonst wahrscheinlich nicht“, stellte sie also schnell klar.
Nur, weil sie sich öfter mal in solchen Spelunken herumgetrieben hatte, hieß das nicht, dass sie besonders trinkfest war. War sie nicht. Zumindest nicht im Vergleich zu dem, was Männer teilweise hinunterstürzen konnten, ohne auch nur zu schwanken. Wahrscheinlich hatte sie nicht mal die Trinkfestigkeit, um sich mit IRGENDEINEM Kerl in der Hinsicht messen zu können. Sie wollte es nicht mal versuchen. Ein Bier mit ihm trinken würde sie aber trotzdem noch. Aufmerksam wurde sie dann wieder bei Alex nächsten Worten: ‚bei denen‘. Sie stutzte. Fühlte er sich der Crew nicht zugehörig? Würde er dann nicht ‚bei uns‘ sagen?
„Bist du kein Teil der Crew?“, fragte sie deswegen noch bevor sie auf die eigentliche Frage antwortete, denn irgendwie hat sich Chaos in ihrem Kopf ausgebreitet.
Vielleicht war es ein Hauch Enttäuschung, der in seinen Augenwinkeln zuckte, als Soula augenblicklich deutlich machte, dass sie es gar nicht erst versuchen wollte. Schade, aber wenn er ehrlich war, hatte er ihr sowieso keine Chancen eingeräumt. Dazu war ihre Statur zu zierlich und sie insgesamt vielleicht auch einfach zu jung. Alex hätte sich gerne überraschen lassen, andererseits zeugte ihre Klarstellung von einer guten Selbsteinschätzung.
„Willst du's üben?“, lachte er und unterbreitete ihr ein offenes Angebot für die Zukunft. Seine Stimme klang dabei allerdings alles andere als drängend, mehr scherzhaft.
„Kann doch nicht sein, dass du als Piratin ständig unter den Tisch getrunken wirst.“
Bislang ging Alex davon aus, dass Soula fester Teil dieser Crew war. Sie hingegen ging scheinbar genau vom gleichen aus. Alex runzelte die Stirn, ehe er belustigt schnaubte.
„Naja. Jetzt schon, schätze ich.“, gab er zurück. „Aber ich bin noch nicht in den engeren Puff-Kreis aufgenommen worden. In erster Linie geht's mir darum, Liam nicht schon wieder sich selbst zu überlassen. Und wenn's nur dadurch geht, euch länger auszuhalten, dann ist's eben so.“
Sah sie da einen Hauch der Enttäuschung? Konnte auch sein, dass sie sich den einbildete, weil sie ihn fast erwartete. Alex amüsierte Soula und sie lachte leise, als er fragte, ob sie üben wollte. Bevor sie antwortete, ließ sie ihn weiterreden. Piratin… es klang aus seinem Mund bereits so endgültig, dabei hatte ihr Abenteuer mit der Crew noch nicht mal begonnen. Zumindest nicht wirklich. Dann schüttelte sie den Kopf.
„Erst mal nicht. Das unter den Tisch trinken überlasse ich lieber anderen“, meinte sie schmunzelnd und beobachtete, wie die zwei Biere an ihren Tisch gebracht wurden. Gut, dann hatte sie wieder einen Becher, an dem sie sich festhalten konnte.
„Aber danke, vielleicht komme ich doch irgendwann darauf zurück.“ Ihre kurze Verwirrung, verflüchtigte sich, als Alex doch meinte, dass er jetzt wohl zur Crew gehörte.
„Also ja, ich schlafe auch in besagtem Puff“, gab sie ihm dann endlich Antwort darauf und hörte ihm weiter zu. Liam und Alex kannten sich wohl schon länger.
„Wieso kannst du Liam nicht sich selbst überlassen? Kennt ihr euch gut? Scheint fast so, als steht ihr euch nahe“, stellte sie fest.
Ihr Verstand funktionierte immer noch, allerdings längst nicht so scharfsinnig, was man bei ihrem folgenden Kommentar auch merkte.
„Ach, komm. Sieh das nicht so negativ.“
Soula grinste. Wow, das Gleiche konnte sie auch zu sich selber sagen, denn es fiel ihr tatsächlich gar nicht so leicht so viel Positives aus dieser Situation zu schlagen, auch wenn sie das niemandem zeigte.
Alex nickte langsam. Mit einem Schmunzeln. So, das Trinken überließ sie also den anderen. Dafür war sie an diesem Abend aber gut mit dabei gewesen. Am Ende bluffte sie bloß und wollte ihn in Sicherheit wiegen. Er würde es im Auge behalten - vorausgesetzt, er würde sich morgen noch an diesen Plan erinnern. Als die Thekendame an ihren Tisch kam, um ihnen zwei weitere Krüge zu bringen, sah er auf und kramte das Kleingeld aus seiner Geldbörse, ehe er sich wieder seiner Sitznachbarin zuwandte. Er hob den Krug, prostete ihr auf ihre Überlegung hin als Antwort zu und nippte an seinem frischen Bier. Ihre Antwort irritierte ihn etwas - sein Geist war betäubt genug, um in diesem Moment nicht Eins und Eins zusammenzuzählen und sie als so frisches Mitglied der Crew zu entlarven. Aber er ging nicht weiter darauf ein. Stattdessen ließ sie ihrer Frage freien Lauf und der Lockenkopf konnte nicht anders, als kurz aufzulachen.
„Na, weil ihr ihn früher oder später noch umbringt, natürlich.“
Jedenfalls wenn er den Geschichten seines Freundes Glauben schenken durfte. Und Liam war gewiss nicht der Typ für ausschweifende und ausgeschmückte Abenteuerstorys.
„Er ist sozusagen mein Bruder. Nicht biologisch, aber trotzdem.“, stellte er schließlich klar und stützte sich auf dem Tisch ab. Dann erwiderte er ihr Grinsen mit einem Lächeln.
„Negativ? Viel mehr realistisch. Aber das, was ich bislang gehört habe, klang ja zumindest abenteuerlich.“
War das Vorfreude, die in seiner Stimme mitschwang? Er musterte Soula schließlich und in seine Züge mischte sich leichte, neugierige Skepsis.
„Sag mal, was treibt ein so junges Mädchen auf die Seite der Gesetzeslosen? Ich meine - wenn wir hier schon so offen plaudern? Oder müsstest du mich umbringen, wenn du's mir erzählst?“
Könnte Soula Gedanken lesen, würde sie sich königlich über die von Alex amüsieren. Während das Bier gebracht wurde und Alex in seiner Geldbörse herumkramte, tat sie es ihm gleich. Sie war nicht erpicht darauf, sich einladen zu lassen oder sich irgendwie in eine Art Schuld zu begeben, von der sie jetzt noch nicht wusste, was sie davon halten sollte. Die ein oder andere Schnapsrunde wurde zwischendurch zwar von irgendwem bezahlt, aber darüber hatte sie wenig Macht besessen. Hier hatte sie die wieder und ihr schwummrig denkendes Gehirn wollte das so. Nachdem sie ihren Krug ebenfalls kurz angehoben hatte, um Alex zuzuprosten, setzte sie das Bier auch direkt an. Es war kühl und schmeckte ihr auch immer noch erstaunlich gut.
„Ich hoffe doch sehr, dass hier keine Crewmitglieder umgebracht werden.“ Soula war sich nicht ganz sicher, ob sie seine Worte nun als Scherz, ziemlich ernst oder gar als beunruhigend für sich einstufen sollte.
„Oder gibt es da Sonderregeln?“ Immerhin stand in der Carta so etwas wie, dass man ein Crewmitglied nicht verletzen durfte oder so etwas. Den genauen Wortlaut bekam sie gerade auch nicht mehr zusammen. Abenteuerlich…
„Ja, abenteuerlich klingt gut.“ Wie sehr sie das noch bereuen würde… Bei seiner Frage zu ihren Gründen ließ eine Antwort nicht lange auf sich warten.
„Vielleicht erzähle ich es dir irgendwann“, meinte sie ziemlich direkt.
Sie brauchte bei ihrer Antwort nicht zu zögern, denn sie hatte sich diese einigermaßen zurechtgelegt. Sie wollte niemandem aus der Crew ihre Beweggründe erzählen. Zumindest nicht, solange sie sich noch auf Calbota befanden. Man wusste nicht, wer sonst noch zuhörte und es reichte ihr bereits, dass Lucien alles wusste.
„Erzählst du mir deine Geschichte? Oder ist das so ein ‚Ich erzähle es dir, wenn du mir deine erzählst‘-Ding‘?“, fragte sie und sah schmunzelnd zu ihm rüber. Wenn es so war, würde sie sich auf diesen Tag jetzt schon freuen, denn sie war neugierig. Jeder hatte sicher eine spannende Geschichte darüber zu erzählen.
Erst, als auch die Münzen aus Soulas Geldbörse klimpernd auf den Tisch fielen, bemerkte Alex überhaupt, dass sie es gar nicht darauf abgesehen zu haben schien, sich einladen zu lassen. Ein paar seiner Münzen ließ er wieder zurück in seine eigene Tasche gleiten, ehe er den offenen Betrag beglich und die Bardame von dannen zog. Überrascht war er durchaus ein wenig. Aber er hatte es auch nicht nötig, nun darauf zu bestehen, ihre Schulden zu begleichen – ganz im Gegenteil. An diesem Abend war ohnehin genug Gold in irgendwelche Richtungen geflossen, bloß damit wieder eine volle Partie Alkohol zu ihrem Tisch gefunden hatte. An machen Abenden war es einfach so. Die junge Frau wirkte ein wenig beunruhigt durch seine Worte, doch Alex hatte lediglich ein amüsiertes Schmunzeln dafür übrig. War sie sich wirklich sicher, dass sie sich Piraten anschließen wollte? Sie wirkte unwissend, was alles mit dieser Entscheidung einher ging.
„Nur passiv, keine Sorge.“, versuchte er nur halbherzig, ihre Sorgen zu nehmen und lehnte sich zurück.
Aktiv die eigene Crew meucheln, war nicht sonderlich geschäftstüchtig. Nach Liams Erzählungen allerdings, schien die Sphinx sich nicht ungerne in eher unpraktische Situationen zu bringen. Ihre Unsicherheit verflüchtigte sich allerdings schlagartig, als der Lockenkopf sich näher nach ihren Beweggründen informieren wollte. Er lachte leise, schmunzelte in seinen Bart und musterte sie daraufhin wieder eingehend.
„Ein Geheimnis also, so so.“, stellte er fest. Der Vorschlag, den sie gleich darauf tätigte, ließ ihn kurz überlegend den Kopf zur Seite neigen.
„Ändert das dann etwas an deiner Entscheidung?“ Alex erwiderte den Blick des Mädchens ernst und herausfordernd – nach wenigen Herzschlägen allerdings trat das Lächeln zurück auf seine Züge und er nahm einen weiteren Schluck seines Bieres, ehe er mit der Schulter zuckte.
„Ich bin nur ein einfacher Mann ohne Geheimnisse.“ Jedenfalls war’s immer gut, wenn man andere das glauben ließ.
Nein, im Grunde wusste Soula nicht im Detail, worauf sie sich hier eingelassen hatte. Die Worte des Captains vor ein paar Tagen klangen zumindest sehr vielversprechend. Trotzdem beunruhigten sie die Worte Alex’ für einen Moment. Nur passiv wurden also Crewmitglieder umgebracht…
„Beruhigend“, meinte sie abschließend dazu. Eine bessere Möglichkeit sah sie nicht, also musste sie es wohl oder übel hinnehmen.
Von ihrer eigenen Vergangenheit wollte sie erst mal nicht sprechen und als Alex von einem Geheimnis sprach, zuckte sie mit den Schultern. Im Grunde war es nur so lange eins, wie sie sich auf dieser Insel befanden, dachte Soula zumindest. Bei dem Versuch ihre Meinung zu ändern, schmunzelte sie.
„Netter Versuch. Aber nein.“
Egal, wie viel Alkohol er ihr auch geben würde, es würde sich nicht ändern. Er stellte sich wiederum als einfachen Mann dar. War er sich da sicher? Soula wollte das nicht so recht glauben.
„Hmm, wo seid ihr groß geworden? Liam und du? Wie war euer Leben?“, fragte sie dann etwas spezifischer drauf los.
In Alex‘ Mundwinkeln hatte sich ein amüsiertes Schmunzeln eingenistet. Er war gespannt, ob die Verunsicherung, die er im Augenblick zu spüren glaubte, anhalten würde. War sich dieses Mädchen wirklich darüber im Klaren, worauf sie sich einließ? Oder war sie einfach nur gedankenlos und auf der Suche nach einem romantisch zumutenden Abenteuer? Letzteres bezweifelte er tatsächlich. Dazu wirkte sie viel zu entschlossen, bei ihrer Entscheidung zu bleiben. Vielleicht war also die Alternative, die sie hatte, eine noch schlechtere Option als Piraterie. Wie dem auch war – es war ihre Sache und nicht seine. Und sie war es auch, die mit den Konsequenzen für sich leben musste. Daher war sein zweiter Versuch, etwas aus ihr herauszukitzeln, auch eher halbherzig und mehr als Spaß gemeint. Im Gegensatz zu Soula wählte er schließlich eine andere Strategie, seine Geheimnisse in Sicherheit zu wissen. Die junge Frau glaubte ihm nicht – wer hatte auch schon keine Geheimnisse? – und machte sich selbst dran, eines herauszufinden.
„Ich komme von Chikarn, aus einfachen Verhältnissen, bin Zimmermann und habe in den Wäldern der Insel das Jagen gelernt. Als ich 18 war, habe ich die Insel verlassen und bin seitdem auf Reisen. Als Tagelöhner sozusagen. Liam und ich sind seit einigen Jahren zusammen unterwegs. Oder waren es bis zum Herbst letzten Jahres, weil ich einen Abstecher nach Hause einlegen musste.“, erzählte er offen und nahm schließlich einen weiteren Schluck seines Bieres.
„Vermutlich bin ich also das, was deine Familie als ‚Herumtreiber‘ bezeichnet hätte.“
Herumtreiber, mit einem angewiderten Unterton, doch der Lockenkopf störte sich nicht daran. Soula besser auch nicht, immerhin war sie im Begriff, mit einem Haufen dieser Herumtreiber in See zu stechen.
„Was willst du noch wissen? Lieblingsfarbe? Lieblingsessen?“, fuhr er scherzhaft fort. „Und du? Warst du jemals eine andere Insel gesehen als die hier?“
Ihr war nicht klar, worauf sie sich eingelassen hatte, noch wollte sie ein romantisches Abenteuer erleben. Soula wollte schlicht und ergreifend ihr eigenes Leben retten, war es nun im tatsächlichen Sinne oder auch nur daran gebunden, dass sie frei sein konnte. Nirgendwo konnte man wohl so frei sein, als mit Piraten zu segeln und nirgendwo konnte diese Freiheit so schnell wieder vorbei sein. Eine verdammte Zwickmühle und hätte sie einen anderen Ausweg, würde sie ihn wählen.
„Zimmermann? Dann kannst du sicher auch einfache Schäden am Schiff direkt reparieren, oder?“, fragte sie interessiert nach.
Sie hatte keine Ahnung, dass er in der Werft bereits half. Im nüchternen Zustand wäre ihr aufgefallen, dass Alex von ‚müssen‘ gesprochen hatte, als er von dem Abstecher erzählte. Aktuell achtete sie auf solche Details nicht, sonst würde sie noch viel mehr nachfragen. Vermutlich mussten sie dieses Gespräch sowieso irgendwann nochmal von neuem beginnen. War auch nicht schlimm, bisher war Alex eine angenehme Gesellschaft und darum ging es ihr gerade. Davon abgesehen redete er viel und Soula konnte das alles gar nicht verarbeiten. Was ebenfalls nur mit ihrem aktuellen Pegel zu tun hatte. Bei dem Wort Herumtreiber schmunzelte sie aber.
„Meine Familie also. Wie stellst du sie dir denn vor?“, fragte sie interessiert, wenn Alex sich schon eine Meinung darüber erlaubte. Soula war neugierig, wie er sie sah.
„Hmm, du kannst mir alles erzählen“, meinte sie neckend auf seine scherzhaften Worte. Auf seine Frage schüttelte Soula den Kopf.
„Nein, habe ich nicht. Wird also mal Zeit, sich die Welt anzuschauen.“
Ihre Zunge war ziemlich gelockert, sonst hätte sie das so direkt gar nicht beantwortet, der Sinn dafür, dass sie nicht alles ausplaudern durfte, hatte sie trotzdem noch.
Alkohol hatte bekanntlich unterschiedlichste Wirkungen auf Menschen. Und Alex war einer dieser Menschen, die sich selbst sehr gerne hatten und sich dementsprechend auch gerne reden hörten. Dementsprechend schwer war es also, zu beurteilen, ob es nun der Alkohol oder sein Charakter war, der ihn zum Plaudern brachte. Genauso hatte er aber auch seine ruhigeren Momente – nur eben nicht an einem geselligen Abend in einer Taverne. Bedacht blieb er trotzdem. Nicht nur aus Vorsicht heraus, sondern weil er trotz all seiner Redseligkeit nicht der offenste Mensch der Welt war.
„Das sollte eigentlich jeder können.“, bemerkte er recht überzeugt davon.
Immerhin sollte jeder Mann zumindest ein bisschen handwerklich begabt sein, wenn es nach ihm ging. Dass das aber nicht das war, worauf Soula hinauswollte, dachte er sich.
„Letztlich bin ich auch kein Schiffszimmermann, aber ja. Provisorisch sollte sich so einiges machen lassen, wenn es nötig wird. Erstmal haben wir sie ja auf Vordermann gebracht.“
Und er hatte sich bei der Arbeit in der Werft bereits ein genaueres Bild von der Sphinx verschaffen können, während er die Reparaturen durchgeführt hatte. Schließlich zog Soula das Thema von ganz alleine zurück auf ihre Person, ohne dass Alex direkt danach hatte fragen müssen. Er wusste, was er tat.
„Nun.“, begann er und schmunzelte zufrieden, während er den Boden seines Bierkruges kurz über den Tisch drehte.
„Vermutlich darauf bedacht, dass ihr Prinzesschen stets den besten Umgang hat, brav Handarbeiten lernt und hübsch aussieht, wenn hoher Besuch zugegen ist.“
Sein Blick ruhte auf Soulas Gesicht und beobachtete gespannt die Reaktionen. Seine Stimme war weniger provokant als herausfordernd und bereit, sich vom Gegenteil überzeugen zu lassen. Er nahm einen weiteren Schluck seines Bieres und atmete dann belustigt aus.
„Um sich die Welt anzuschauen gäb‘s etliche andere Möglichkeiten als ein Piratenschiff. Entweder also und verkennst das Ganze, oder… willst vielleicht irgendjemanden besonders wütend machen?“
„Schade, dass die Welt so einfach nicht funktioniert“, meinte sie eher beiläufig, bevor sie aus ihrem Krug trank.
Es gab so viele grundsätzliche Dinge, die man tun oder lassen sollte und dennoch wurden sie nicht getan oder gelassen. Natürlich durfte man trotzdem seine Meinung darüber haben, hoffentlich wurde Alex davon nicht zu sehr enttäuscht. Dann schmunzelte sie und wandte sich Alex wieder zu.
„In dem Fall erwarte ich, dass du uns in Zukunft rettest. Also, das Schiff.“
Je nach Schaden war das vermutlich gar nicht so einfach zu bewerkstelligen, stellte Soula sich vor. Aber doof daherreden, besonders in einer Situation wie jetzt, war in ihren Augen völlig okay. Bei der Erwähnung ihrer Familie, wollte sie nun wissen, was Alex tatsächlich über sie dachte. ‚Nun?‘ Soula war super neugierig und verbarg das auch nicht. Prinzesschen… Wow, war das sein scheiß ernst? Handarbeiten… jaaa, stimmte, auch wenn Soula das nie gerne gemacht hatte. Stritt sie jetzt alles ab? Allerdings hatte jemand, der vehement versuchte alles abzustreiten, auch oft etwas zu verbergen. Hmm, Soula schmunzelte und sah ihn von der Seite aus an.
„Stimmt nur teilweise“, verriet sie und hätte sich in einer anderen Situation wahrscheinlich darüber echauffiert, dass er sie ‚Prinzesschen‘ nannte. Aber Soula war weiterhin vorsichtig und wollte sich nicht zu sehr aus dem Fenster lehne.
„Tanz war auch sehr wichtig!“, meinte sie dann noch überschwänglich und war irgendwie neugierig darauf, ob er sie nun noch weiter in diese Schublade steckte, denn sie gab ihm nicht wirklich einen Grund dafür es nicht zu tun. Dann zuckte sie mit den Schultern. Jemanden besonders wütend machen stimmte wohl, wenn man so an ihre Verfolger dachte. Wenn auch ein bisschen anders, wie Alex es vielleicht gemeint hatte.
„Erlebt man mit Piraten nicht immer sehr viel? Und jemanden wütend machen, passt auch irgendwie.“ Eigentlich… sollte Soula hier lieber ganz schnell ihre klappe halten.
Obwohl es lediglich eine Floskel war, der sich die junge Frau da bediente – es klang, als hätte sie die Weisheit mit dem Löffel gegessen. Alex bewertete es nicht, weder positiv, noch negativ. Im Augenblick passte es lediglich zu dem Bild, das seine Gedanken an diesem Abend von ihr formten. Soulas Glück: Sie passte nicht ganz in die Schublade, schien die Vorurteile ihrer Herkunft nicht völlig übernommen zu haben und wirkte zumindest nicht komplett ahnungslos, was ihr Vorhaben anging. Sie war selbstbewusst, entschlossen und furchtlos. Inwieweit ihr das helfen würde, würde sich zeigen, sobald sie in See gestochen waren. Er lächelte hörbar bei ihrer Erwartung und schmunzelte in seinen Bierkrug hinein.
„Ich geb‘ mein Bestes.“, versicherte er, als er den Krug wieder abstellte. Dann beobachtete er ihre Gesichtszüge genau, während er kein Geheimnis daraus machte, was ihr Auftreten ihm über ihre Familie sagte. Teilweise, gab sie zu und Alex grinste zufrieden.
„Das konnte man eben sehen.“
Auch, wenn er eher darauf geachtet hatte, mit wem sich Liam vergnügte als auf Soula. Aber da hatten sich immerhin die Richtigen gefunden. Zwar entsprach Liams Vater nicht ganz dem Bild, das er von dieser Art Menschen hatte, aber seine Mutter hatte scheinbar ebenso auf viele dieser Dinge wertgelegt, die auch Soula in die Wiege gelegt worden waren.
„Kommt drauf an. Wenn man sich besonders ungeschickt anstellt, erlebt man insgesamt nicht mehr sonderlich viel.“
Der Lockenkopf lehnte sich in seinem Stuhl zurück und beachte die Jüngere wieder interessiert.
„Das heißt, dass du irgendwem wichtig genug bist, dass ihn dein Anheuern auf einem Piratenschiff genug bedeutet, ihn wütend zu machen.“, wiederholte er, was er bislang verstanden hatte. Er wog den Kopf leicht zu Seite. An diesem Spiel konnte er glatt schon Gefallen finden.
„Also entweder der werte Herr Vater oder… Der werte Herr Schwiegervater vielleicht, weil es ein Versuch ist, sich der Ehe zu entziehen, um die Familien zu einen?“
Würde Soula behaupten, dass sie die Weisheit mit Löffeln gefressen hatte? Nein, denn keiner hatte das und schon gar nicht sie, sonst wäre sie nicht an diesem Ort. Sie war nur nicht der Typ für Selbstzweifel. Zumindest im Moment nicht, denn Zweifel hatte sie genug, nur versuchte sie die zu unterdrücken, was aktuell noch ganz gut klappte. Alex Antwort auf ihre Erwartung war äußerst zufriedenstellend und sie nickte.
„Gut.“
Soula wollte ungern mit dem Schiff untergehen und falls das doch passierte, hatte sie jetzt jemanden, dem sie die Schuld dafür geben konnte. Perfekt. Grinsend zuckte sie mit den Schultern.
„Es ist nicht alles schlecht, was mir beigebracht wurde, auch wenn du mir das Gefühl gibst, dass es so ist.“ Ob er das nun auch so glaubte oder nicht, war im Grunde egal, das Gefühl, was er ihr in Bezug auf ihre Herkunft gab, war nicht sonderlich positiv.
„Besonders ungeschickt? Hmm, das hast du aber schön umschrieben“, meinte sie leise lachend.
War nur zu hoffen, dass Soula sich nicht ‚besonders ungeschickt‘ anstellte. Hoffentlich würde Loki sie wovor auch immer bewahren, falls sie es doch mal tat. Davor gefeit war sie schließlich nicht. Je mehr Vermutungen Alex gerade anstellte, desto mehr hatte sie das Gefühl zu viel gesagt zu haben und wurde unruhig. Er hatte nicht wirklich recht, aber auch nicht wirklich unrecht. Bevor sie etwas Dummes dazu sagte, trank sie lieber einen Schluck von ihrem Bier und verschluckte sich beinahe daran, als er einen Schwiegervater erwähnte. Alex kam hier gerade auf Ideen, an die sie noch nicht mal gedacht hatte. Nach ihrem kleinen Hustenanfall räusperte sie sich und warf einen Blick in ihren Becher, in der Hoffnung, dass der bald leer war. Sie war viel zu geizig, als dass sie ein Getränk, für das sie bezahlt hatte, einfach stehen lassen konnte.
„Vielleicht sollte ich das das nächste Mal als Ausrede benutzen. Meinst du, das zieht?“ Als Ausrede für was genau eigentlich? Naja, war auch irgendwie gerade total egal.
„Oh, das war nicht meine Absicht.“, stellte er richtig.
„Du kannst ja nichts für deine Familie. Und jetzt hast du ja scheinbar doch noch die Kurve gekriegt.“
Alex zuckte mit der Schulter, nahm den letzten Schluck seines Bieres und lächelte der Jüngeren wieder entgegen.
„Und in vielerlei Dingen kannst du dich an Liam wenden, um herauszufinden, wie sich deine gutbürgerlichen Talente nützlich einsetzen lassen.“
Er machte daraus gar keine so große Sache wie es geklungen haben musste. Er hatte nur einfach Gefallen an Vorurteilen – allein schon, weil sie so häufig der Wahrheit entsprachen, wie auch Soula wieder bewiesen hatte. Wenn sie das Klischee ganz erfüllte, würde sie es ohnehin nicht lange auf einem Piratenschiff aushalten. Das musste man nicht vorher feststellen, wie er fand. Diese Fehleinschätzung konnte jeder selbst ausbügeln. Wo würde sonst der Lerneffekt bleiben? Mit seiner nächsten Raterunde ließ sie ihn etwas mehr auf dem Trockenen sitzen als zuvor. Einem nüchternen Alex wäre in diesem Moment vermutlich aufgefallen, dass sie dieses Themas inzwischen überdrüssig war – der betrunkene Alex allerdings stellte das nicht fest. Ihre Rückfrage brachte ihn zu einem hörbaren Schmunzeln, ehe er nachdenklich die Nase rümpfte und den Kopf letztlich zur Seite wog.
„Ich würd‘ dir empfehlen, die Geschichte lieber auf den Ehemann in Spe umzumünzen. Der kommt so nämlich eher wie ein Nichtsnutz rüber, wenn sein Vater die Angelegenheiten regeln muss. Würde mich weniger aufhalten als ein besitzergreifender Ehemann.“, plauderte er offen aus, wobei das nur die halbe Wahrheit war. Vermutlich war es eigentlich genau umgekehrt. Mit besitzergreifenden Ehemännern kannte er sich unglücklicherweise aus. Und – leider für alle, auf die dieses Kriterium zutraf – er war ihnen seit Kindestagen nicht wirklich wohlgesinnt.
Das war nicht seine Absicht gewesen? Soula konnte sich durchaus vorstellen, dass ihre Herkunft unter Piraten eher für Späße sorgen konnte. Immerhin waren Menschen in diesen Rängen oft arrogant und von sich überzeugt, von ihrem Adelsstand und den wichtigen Bekanntschaften, die sie hatten. Irgendwie konnte Soula das sogar nachvollziehen und es stimmte wohl, dass sie die Kurve gekriegt hatte… Darüber war sie noch nicht so wirklich froh und sie war sich alles andere als sicher, ob sie darüber froh sein sollte.
„Ja, scheint als hätte ich die Kurve gekriegt“, wiederholte sie mit seinen Worten und klang dabei recht neutral.
„Hmm, bisher glaube ich nicht, dass sie mir besonders nützlich sein werden, aber ich kann Liam mal drauf ansprechen.“
Soula glaubte eher, dass ihre diebischen Talente von Nutzen sein konnten. Leider aber auch nur auf Inseln. Es brachte ihr sicher keine Pluspunkte ein, wenn sie Crewmitglieder bestahl. Auf die Geschichte mit dem Ehemann, schien ihm dann aber noch viel mehr einzufallen und Soula hörte Alex ein wenig amüsiert zu. Das war wohl wirklich irgendwie sein Ernst und wenn sie sich morgen noch an dieses Gespräch erinnerte, würde sie darum vielleicht wirklich eine Lüge spinnen.
„Ich werde mir darüber mal Gedanken machen!“, versprach sie und nahm endlich den letzten, schalen Schluck aus ihrem Krug. Dann deutete sie in Richtung Tür.
„Ich glaube, ich sollte gehen. Sonst stehe ich morgen nicht mehr auf“, meinte sie und stand geradewegs auf, als sie im Stehen gefährlich ins Schwanken geriet. Frische Luft würde ihr sicher guttun. Ausnüchterungsspaziergang zum Bordell. Das war es, was sie jetzt brauchte.
Mit offenen Handflächen bedeutete er Soula, dass sie selbst entscheiden konnte, ob sie sich mit Liam in Verbindung setzen wollte oder nicht. Gut zu verstehen schienen sie sich ja schon mal. Außerdem war er bislang darüber im Unwissenden, dass das Mädchen andere nützliche Qualitäten hatte als die, auf die sie ihr Stand reduzierte. Dass sie lange Finger besaß und viel mehr einer Elster glich, traute er ihr nicht zu. Genauso wenig wie unverschämtes Glück und Tricksereien am Kartentisch. Alex‘ Augenbrauen schoben sich ein wenig zusammen, als sie beteuerte, an ihrer Ausrede zu feilen, ließ ihn aber weiterhin im Dunkeln über den wahren Hintergrund. Schade, aber was wollte man machen? Er hatte vermutlich in Zukunft aber noch einiges an Zeit, um dieses Ratespiel fortzuführen. Dann stellte sie ihren Krug geräuschvoll auf den Tisch und verkündete, dass es Zeit war, zu gehen. Alex‘ Blick huschte flüchtig zu den beiden Gestalten am Tresen. Zairym und Luc hatten die kleine Feier verlegt und er hätte nichts dagegen gehabt, ihnen noch ein wenig Gesellschaft zu leisten. Leider aber war er Realist und wusste, was es bedeuten konnte, ein so junges Mädchen alleine und betrunken durch die Straßen ziehen zu lassen. Vor allem, wenn dieser Weg bei einem Bordell enden sollte, wo sich um diese Uhrzeit kaum vernünftige Freier herumtrieben.
„Ich komme mit.“, beschloss er also mit siegender Vernunft.
„Ich muss in die gleiche Richtung. Dein Glück also.“
Das entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, aber er war nicht die Art Mann, die nun gutherzig verkündete, dass er es nicht übers Herz brachte, sie alleine nach Hause laufen zu lassen. Ob er sich davon etwas erhoffte? – Mit Nichten. Zu dieser Art Mann zählte er nämlich auch nicht. Also folgte er Soula hinauf auf die Straße und merkte erst jetzt, wie stickig es in der Taverne gewesen war.
Näheres ließ sie Alex in Bezug auf ihrer Herkunft nicht wissen. Es war kein guter Ort und sie in keiner guten Verfassung, um weiter in die Tiefe zu gehen. Demnach blieb sie lieber bei dem oberflächlichen Geplänkel, das er angezettelt hatte. Im Grunde mochte Soula tiefgehende Unterhaltungen um einiges lieber und wollte sich zusätzlich dummem Gerede, das durchaus auch aus ihrem Mund kommen konnte, entziehen. Es war definitiv Zeit für die Ruhe, als sie merkte, wie sie beim Aufstehen leicht schwankte. Vielleicht hätte sie sich schon der vorherigen Gruppe anschließen sollen. Aber… hätte, hätte-
Alex’ Blick in Richtung Zairym und Lucien fiel ihr gar nicht auf. Wollte er etwa noch länger hier bleiben? Hmm, in der Nacht wurde die Stimmung entweder noch geselliger oder noch viel gefährlicher. Beides hatte Soula bereits miterlebt und das Kribbeln ihrer Hände riet ihr definitiv weiterhin zur Vorsicht. In einem Moment war sie vorsichtig und dachte nach, im nächsten schon wieder nicht mehr. Sie hatte sich keine Gedanken darüber gemacht, dass sie eventuell alleine zum Bordell zurückgehen musste. Wenn Loki das mitbekam, dann würde er ihr sicher eine Standpauke halten. Mist… Ganz so geschickt und wendig war sie in diesem Zustand auch nicht mehr und auch wenn ihr Umhang in der Nacht einen gewissen Schutz bot, war das bestimmt nicht genug. Es kribbelte noch ein wenig mehr in ihren Händen, als sie an den Rückweg dachte. Dann drangen Alex Worte zu ihr durch, dass er mit kommen würde, da er sowieso in dieselbe Richtung musste. Das Kribbeln wurde weniger und eine gewisse Erleichterung konnte sie nicht verbergen.
„Oh, das… ist wirklich Glück“, meinte sie lächelnd und war ziemlich dankbar dafür, dass Alex sie begleitete.
Ob er wirklich in dieselbe Richtung musste? Wohnte er nicht auch mit im Bordell? Hmm, darüber wollte sie sich eigentlich noch weitere Gedanken machen, allerdings verflogen diese Fragen erstmal, als sie nach ihrem Umhang griff und ihn sich überwarf.
Draußen angekommen schlug ihr die kühle Nachtluft ins Gesicht, als sie kurz darauf ihre Haare und Teile ihres Kopfes unter ihrer Kapuze versteckte. Sie atmete die frische Luft tief ein, die einen salzigen Geschmack auf ihrer Zunge zurückließ.
„Wohnst du auch da?“
Mit ‚Da‘ war selbstredend das Bordell gemeint und… hatte Soula das nicht sogar im Laufe des Gespräches schon mal gefragt? Sie war sich nicht sicher und fragte im schlimmsten Fall lieber nochmal nach. Die Straße vor der Taverne war noch recht belebt, hinter der nächsten Ecke waren es nur noch zwei Männer, die grölend an ihnen vorbei torkelten und Alex halb anrempelten. Bei Soula wäre der erste Griff nach einem Rempler an ihre gut versteckte Brieftasche gewesen, um zu sehen, ob sie sich noch an Ort und Stelle befand. Reflexartig fühlte sie sogar nach dieser, obwohl es nicht mal sie gewesen war, die angerempelt wurde. Glücklicherweise war noch alles an ihrem Platz und das Bordell würden sie auch bald erreichen.
„Ich mag Nächte lieber als den Tag. Es ist zwar viel Gesindel unterwegs, aber man selber ist auch oft… unsichtbar. Mancherorts hat es etwas Geheimnisvolles an sich“, erzählte sie und es lag ein zufriedenes Lächeln auf ihren Lippen. Soula konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann sie angefangen hat die Nächte zu bevorzugen.
Immerhin sparten sie sich die ‚du musst mich nicht begleiten‘-Diskussion. Ob nun, weil Alex vorgab, in die gleiche Richtung zu müssen, oder weil Soula nicht zu stolz war, um einzusehen, dass die nächtlichen Straßen nicht unbedingt der sicherste Ort für eine Frau war – schon gar nicht, wenn einem die Jugend noch ins Gesicht geschrieben stand und man nicht zu dem Schlag gehörte, den sich Männer erst schöntrinken mussten. Im Gegenteil – sie klang sogar gar nicht mal so unglücklich darüber, dass er mitkam. Vermutlich hatte auch sie bereits ihre schlechten Erfahrungen gemacht. Bedauerlich.
„Mir hat die Dienstkleidung nicht gepasst.“, antwortete Alex auf ihre Frage.
Er erinnerte sich selbst nicht mehr daran, ob sie dieses Thema bereits im Laufe des Abends gehabt hatten oder nicht. Er gehörte allerdings nicht zu der privilegierten Gruppe, die freien Eintritt in das städtische Bordell erlangt hatte. Hätte er hineingewollt, hätte er zahlen müssen. Hätte sich dann aber auch geholt, was ihm für sein Geld zustand. Stattdessen nächtigte er in einer Taverne in Hafennähe, seit er in der hiesigen Werft angeheuert hatte. Aber auch diese Tage waren ja inzwischen gezählt.
Aus Gewohnheit lief er auf der Seite, die der Straße zugewandt war. Wie spät es war, konnte er anhand der Anzahl der umherlungernden Gestalten nicht wirklich ausmachen. Seine Miene verfinsterte sich etwas, als er zwei Männer berauscht in ihre Richtung kommen sah, offensichtlich nicht mehr in der Lage, wirklich gerade zu laufen. Sein Blickfeld war zwar auch nicht mehr gänzlich ohne Einschränkung, aber soweit, dass er mit Fremden auf der Straße kuschelte, war er dann doch noch nicht. Wirklich Angst, dass die beiden Gestalten irgendetwas entwendet hatten, hatte er nicht – er trug den Beutel mit Münzen schon seit er klein war auf der Innenseite seiner Hose. Und wer ihm in die Hose griff, entschied noch immer er.
„Es ist ruhiger. Weniger Hektik, weniger offener Hinterhalt. Und das Gesindel erkennt man meistens daran, dass sie sich auffällig unauffällig verhalten.“, stieg er ein und sah zur Seite.
„Aber wenn ich ehrlich bin, bevorzuge ich noch immer die Landstriche. Schon mal die Nacht im Wald verbracht?“
Ihm fiel nicht auf, dass man das als Frau ebenfalls als durchaus unangenehm empfinden konnte. Er sprach aber auch zu schnell weiter, als dass er wirklich darüber nachgedacht hätte.
„Ich war schon immer viel unterwegs. Mich hält keine Stadt lang genug, als dass ich mich daran gewöhnen würde.“
Das Bordell hatte ihr Lucien bei ihrem ersten Gespräch nahegelegt und Soula hatte für die Verschwiegenheit dort auch viel zahlen müssen. Jetzt fühlte sie sich dort ganz gut aufgehoben und sie zählte bereits jeden Tag, der näher kam, bis sie endlich in See stechen würden.
„Hmm“, antwortete sie nur nickend auf Alex Antwort, dass ihm die Dienstkleidung nicht wirklich zusagte.
Kein Kommentar dazu, dass sie das bereits gefragt hatte. Das war doch gut, oder? Vermutlich… würde sie das selbe am nächsten Tag oder an dem Tag, an dem sie sich wieder treffen würden, erneut fragen. Die auf sie zu torkelten Männer, schienen Alex eher weniger zu beeindrucken. Auch das war gut, nicht umsonst fühlte sich Soula gerade um einiges sicherer an seiner Seite. Sie dachte gar nicht darüber nach, dass er selbst eventuell übergriffige Gedanken haben könnte. Immerhin kannten sie sich nicht gut und vor allem nicht lange. Dieser Tag war wohl allgemein mit wahnsinnigem Glück ihrerseits verbunden. Anders könnte sie sich das Tags darauf auch nicht erklären. Über Alex Aussage lachte sie dann leise.
„Auffällig unauffällig? Spielst du damit etwa auf mich an?“, fragte sie und war dazu geneigt ihre Kapuze noch ein wenig tiefer zu ziehen. Soula schüttelte den Kopf und schmunzelte bei seiner Frage ein wenig in sich hinein.
„Nein, ich habe noch nie die Nacht im Wald verbracht. Ist das nicht super gruselig?“ Zumindest war das ihre erste Assoziation damit.
„Hmm, nach einer langen Zeit auf See, kann einem das Stadtgetümmel aber sicher auch guttun, oder?“ Ja, entweder das oder die Einsamkeit, die man auf einem Schiff kaum kannte. Aber das würde Soula erst noch lernen.
Was ihm eigentlich durch den Kopf ging, waren Gestalten wie dieser Flint, mit dem er vor zwei Wochen Bekanntschaft gemacht hatte, als er Liam mit Skadi und Lucien aus der Scheiße gezogen hatte. Gestalten, die glaubten, dass ihr raubtierhaftes Grinsen nicht auffiel und die sich in den Schatten der Nacht bei ihren dreckigen Geschäften wohler fühlten. Nicht, dass sich Alex die Dunkelheit nicht auch schon für derlei Dinge zu Nutze gemacht hatte. Aber er passte sich an. Er war keiner dieser Menschen.
„Hm?“, wandte er den Kopf zu ihr herum und blinzelte etwas verwirrt. Soulas Vermutung traf ihn hörbar unvorbereitet. Die Verwirrung wandelte sich aber schnell zu einem belustigten Schnauben, mit dem er angedeutet den Kopf schüttelte.
„Willst du mir gerade in den Mund legen, dass ich dich als ‚Gesindel‘ tituliert habe? War ich so unfreundlich zu dir?“
Seine Stimme klang tatsächlich ein bisschen betroffen, doch das Amüsement zuckte weiterhin in seinen Mundwinkeln. Vielleicht unterschätzte er sie – ganz bestimmt sogar – aber er war berauscht genug, sich seiner Einschätzungen noch sicherer zu sein als sowieso schon. Soula war zierlich, wirkte behütet und unschuldig. Und ihr tief ins Gesicht gezogener Mantel sagte dem Lockenkopf im Grunde, dass sie durchaus wusste, dass sie für Gesindel ein leicht gefundenes Fressen war.
„Wenn du in deinem Mantel keine Drachenschuppen, Dolche oder Tollkirschen versteckt hast, bist du sehr, sehr weit entfernt von dem, was ich ‚auffällig unauffällig‘ nenne.“
Alex machte kein Geheimnis daraus, dass er ihr so etwas nicht zutraute. Dass es ein Fehler sein konnte, pah, die Möglichkeit bestand in seiner Welt gar nicht.
„Gruselig? Wovor willst du dich denn fürchten? Dass dich ein Waschbär ausraubt?“
Oder gar vergewaltigt, wenn man von den etlichen weiteren Risiken ausging, die ihr ihr Geschlecht einbrachte. Natürlich trieben sich dort auch Räuber und Banditen herum, aber die Natur konnte dafür nichts. Auf ihre Vermutung hin, wog er kurz überlegend den Kopf, stimmte ihr aber sichtlich zu.
„Das erste feucht-fröhliche Zusammenkommen ist meist das Beste. Aber die Ruhe, nachdem man über Wochen auf engstem Raum mit einem Haufen schwitziger Männer verbracht hat, ist auch nicht zu unterschätzen.“
Ein wenig fühlte sich Soula angesprochen, da sie ebenfalls die Nächte für Einbrüche bevorzugte und versuchte dabei ‚auffällig unauffällig‘ zu sein. Und auch bei dem Versuch, nicht zu sehr aufzufallen, war sie ‚auffällig unauffällig‘. In dem Sinne gab es sogar zwei Gründe, die auf Soula zutreffen würden, auch wenn Alex beide eigentlich nicht kennen sollte. Verriet sie sich erneut? Dachte er so weit mit? Bei seinen nächsten Worten musste sie dann aber doch wieder lachen.
„Nein, das wollte ich dir nicht in den Mund legen“, berichtigte sie und lächelte. „Und du bist alles andere als unfreundlich.“ Ihre Stimme war sanft und sie war erneut dankbar dafür, dass er sie zum Bordell brachte.
Schmunzelnd zuckte Soula mit den Schultern. Einen Dolch hatte sie tatsächlich zur Verteidigung dabei. Ohne fühlte sie sich nicht mehr wohl, nicht sicher.
„Das ist gut. Auffallen möchte ich nämlich wirklich nicht.“ Es war tatsächlich gut, dass Alex ihr das Gefühl gab, als wäre sie irgendwie normal und als wäre alles in Ordnung, so wie sie sich verhielt. Genau so wollte sie auch rüberkommen.
„Diebe, Räuber, Gesindel“, meinte sie und sah zu ihm rüber.
„Die leben nicht nur in Städten, manche bevorzugen Landstraßen und Waldgebiete.“ Dass sie eigentlich zu einer der genannten Gruppen gehörte, war mal so dahingestellt.
„Menschen können Schatten sein und auch Tiere sind manchmal nicht das, was du glaubst zu sehen.“ Soula hatte von unterschiedlichen Gestalten gehört, auch wenn Tiere nicht ihr Fachgebiet waren und sie das nicht weiter vertieft hatte. Deswegen war ihr Wissen dazu vermutlich auch nur ein Vorurteil oder oberflächlich. Beides war möglich.
Ein wenig verzog Soula das Gesicht, als Alex von ‚einem Haufen schwitziger Männer‘ sprach. Ja, sie war anderes gewohnt und es graute ihr bereits davor. Sie war sich nicht sicher, ob sie sich daran gewöhnen konnte und mit Sicherheit war sie überaus froh darüber, wenn sie wieder festen Boden unter den Füßen spüren konnte, auch wenn sie den noch nicht mal verlassen hatte.
Von der Sorge, die unter ihrer Kapuze durch ihr Köpfchen rumorte, bekam der Lockenkopf nichts mit. Soula hatte ihm an diesem Abend keinen Grund gegeben, etwas anderes in ihr zu vermuten als ein Mädchen, dass sich alsbald in einer ziemlich fremden Situation wiederfinden würde. Eine, die sie sich womöglich anders vorgestellt hatte. Ob sie dann noch immer bei ihrer Entschlossenheit bleiben würde, würde sich dann herausstellen. Dass sie gar nicht so unschuldig war, wie sie daherkam – vielleicht lag es am Alkohol. Vielleicht wusste sie aber auch einfach wirklich, was sie tat, um ihn genau das tun zu lassen, was er tat – sie unterschätzen. Nicht, dass er ihr nicht zutraute, mit dem zurechtzukommen, was sie in Angriff genommen hatte. Aber letztlich würde er es der Zukunft überlassen und sich überraschen lassen. Immerhin war es nicht sein Problem. Als Soula ihm schließlich beinahe schon seine Freundlichkeit entgegensäuselte, lachte er und tat es mit dem Bewusstsein ab, dass sie beide nicht mehr die Nüchternsten waren.
Als sie schließlich fortfuhr, spähte Alex ein wenig wachsamer zu ihr hinüber. Für ein gutbetuchtes Kind klang sie auf einmal sehr gut informiert über die Verhaltensweisen des Gesindels. Er war dennoch zu berauscht, um sich diesem komischen Gefühl länger hinzugeben und schmunzelte bloß, während sie ihm etwas über die Welt erzählen wollte.
„Interessant.“, meinte er dann langsam, als hätte sie ihm gerade wirklich etwas Neues erzählt.
„Vielleicht sollte ich dich das nächste Mal mit auf die Jagd nehmen?“ Dann konnte sie beweisen, wie viel sie wirklich wusste. Seine Mundwinkel zuckten amüsiert. Er hatte es gar nicht darauf angelegt, dass sie den Wink verstand. Vermutlich würde sie es nicht einmal über’s Herz bringen, den Abzug zu betätigen.
Für einen Moment länger, als es nötig gewesen wäre, lag ihr Blick auf dem Dunkelhaarigen, als er ihr fast das Gefühl gab, als hätte sie ihm etwas Neues berichtet. Jemand wie er würde wissen, wie es in der Natur war und welche Gestalten sich dort herumtrieben. Jedem jungen Recken, der ein bisschen mitdachte, würde sie dieses Wissen zuschreiben. Bei seinen nächsten Worten sah sie wieder in die Dunkelheit und schüttelte sachte den Kopf, vermutlich eher nur für sich selbst.
„Ich war noch nie auf der Jagd“, behauptete sie.
Allerdings war es immer Ansichtssache, was man als ‚Jagd‘ bezeichnete. Soula war schon einige Male auf der Jagd nach wertvollen Besitztümern gewesen. Bestimmt meinte Alex so etwas aber nicht.
„Ich bezweifle sehr stark, dass ich dafür gemacht bin.“ Das war ihre Meinung, vielleicht änderte sich das irgendwann, vielleicht war sie doch für die Jagd gemacht. Man würde es sehen. Das Bordell erreichten sie in wenigen Schritten und sie warf Alex erneut einen Blick zu.
„Danke, dass du mich begleitet hast“, meinte sie ehrlich. „Ich wünsche dir eine angenehme Nacht.“ Egal, ob er die nun schlafend oder wachend verbringen würde. Dann huschte sie in die recht belebte Stube und suchte direkt das Zimmer auf, das sie mit Loki teilte.
ENDE