01.02.2022, 17:10
Sie musste wirklich lernen, ihre wandernde Augenbraue besser in den Griff zu bekommen. Er sollte ihre absolute Skepsis über seine Worte nicht sehen. Freunde? Keine Erwartungen? Keine Verpflichtungen? Nicht mehr als nur Sex? Oh nein, er sollte ihre Skepsis über seine Worte wirklich nicht sehen, er sollte sie ruhig spüren. Talin sprang auf und begann, auf und ab zu laufen, um ihren Frust über seine Sturheit irgendwie Luft zu machen. Aufgebracht fuhr sie sich mit beiden Händen durchs Haar – selbst das sonst so beruhigende Klingen der Glöckchen beeinflusste sie nicht. Schließlich blieb sie vor ihrem verwundeten Bruder stehen und stemmte ihre Hände in die Hüften, bevor sie mit blitzenden Augen auf ihn hinunter sah. „Ich würde so weit gehen und sie als eine Freundin bezeichnen ja. Und du weißt, dass mir nur wirklich eine Person in allen Sieben Welten wichtig ist.“ Eine kurze Handbewegung in der Luft, um ihm zu zeigen, dass sie zwar ihn meinte, ihm aber im Moment damit sicher nicht schmeicheln wollte. Stattdessen ließ sie die gleiche Hand vorschnellen und pieckste ihn in die linke Schulter. „Aber - und das ist ein wirklich große Aber – ich muss dir wirklich sagen: Du bist ein Arschloch, Lucien!“ Sie stieß fast schon empört die Luft aus. „Es ist nur Sex? Keine Erwartungen und keine Verpflichtungen? Nur...Freunde? Hast du das Shanaya denn erzählt? Weiß sie, dass sie sich keine Hoffnungen zu machen braucht und dass sie am Ende nur ein Schulter klopfen abbekommt? Dieses Mädchen ist bis über beide Ohren in dich verliebt! Und egal wie stark sie tut, sie wird es nicht so sehen können, wie du!“ Sie schnappte nach Luft, atmete tief ein und schloss für einen Moment die Augen. Als sie diese wieder öffnete, konnte sie ihn ein wenig ruhiger ansehen, aber nicht wieder vor ihm in die Hocke gehen, soweit war sie noch nicht.
„Sie ist gerade einmal so alt wie ich, Lucien und sie kommt mir in manchen Dingen unglaublich blauäugig vor. Ich weiß nicht, wie gut sie es verkraften wird, egal was sie dir sagt, wenn du sie weiter so behandelst. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass du das auch weißt. Nimmst du das dennoch alles in Kauf?“
Womit auch immer er gerechnet hatte – dass er sie mit seinen Worten so aufbrachte, war es jedenfalls nicht gewesen. Irgendwie war ihm schon klar, dass sie sich nicht beschwichtigen lassen wollte. Dass sie ihm vielleicht nicht einmal glaubte. Doch als Talin aufsprang, zuckte Lucien tatsächlich verblüfft zusammen. Blinzelnd sah er ihr nach, wie sie sich abwandte, sich die goldenen Locken raufte und im Zimmer auf und ab zu marschieren begann.
Er schüttelte den Kopf, vertrieb seine Überraschung. Seine Schwester blieb vor ihm stehen, wie eine kleine, wütende Naturgewalt, rief seine Aufmerksamkeit zur Ordnung – bevor nun seinerseits eine Braue in die Höhe wanderte. Dass ihre ersten Worte nicht als Kompliment gedacht waren, wurde spätestens nach ihrem Luftholen deutlich. Er war also ein Arschloch. In Ordnung, gut möglich. Das war nicht unbedingt eine Einschätzung, die er nicht akzeptieren konnte. Viel mehr überraschte ihn allerdings, dass er sich offenbar geirrt hatte, was Talins Beweggründe anging. Die Gründe dafür, weshalb sie ihn zu seiner Liebelei mit Shanaya ausfragte. Denn das, was sie ihm entgegen schleuderte, klang ganz und gar nicht mehr danach, als fürchtete sie, durch ihn eine Freundin zu verlieren.
„Du machst dir Sorgen um sie, nicht um dich, oder?“ Er überging diesen einen, kleinen Satz, dass die junge Navigatorin in ihn verliebt sei. Er ignorierte auch die kleinen, feinen Andeutungen, die ihm bei diesen Worten unwillkürlich aus dem Gedächtnis aufstiegen. Denn was ihn in diesem Moment am meisten wunderte, war, dass Talin Shanaya vor ihm beschützte. Dass sie ihm vorwarf, er würde ihr früher oder später das Herz brechen. Dass sie es ihm vorwarf. Und das war mindestens genauso neu, wie die Tatsache, dass er ein Mädchen wirklich mochte. „Oder glaubst du, wenn ich ihr das Herz breche, richtet sich ihre Wut gegen dich?“
In ihr brodelte es, obwohl sie schon so viel von ihrem Ärger hinaus gelassen hatte. Es brauchte wahrscheinlich nur ein falsches Wort von Lucien und sie würde gleich wieder explodieren. Was er dann allerdings sagte, ließ Talin in ihrer Aufgebrachtheit inne halten und ihn verdutzt anstarren. Sie machte sich Sorgen? Ja, ja natürlich machte sie das, eigentlich sogar fast ständig. Aber sie machte sich Sorgen um Shanaya? Sie mochte das Mädchen, tat sie wirklich, aber eigentlich hätte sie niemals gedacht, man könne ihr unterstellen, sich um die Dunkelhaarige zu sorgen. Wenn sie es genau nahm, sorgte sie sich um niemanden, außer um Lucien und sich selbst. Aber Shanaya? „Mach dich nicht lächerlich.“ Kurz davor wieder die Hände in die Luft zu werfen, nahm sie ihre Wanderung wieder auf und knabberte an ihrem Daumennagel, während sie über Luciens Worte nachdachte. Schließlich blieb sie vor ihrem Bruder stehen und sah ihn fast ein wenig verzweifelt an. „Glaubst du wirklich? Glaubst du, ich machte mir Sorgen um sie? Ich bin eigentlich nur frustriert. Weder du noch sie können sich eingestehen, dass ihr mehr füreinander empfindet. Ich meine, ich weiß, dass du sie nicht liebst – denke ich – aber sie bedeutet dir mehr, als du selbst zugibst.“ Sie schnaubte kurz und wurde dann ruhiger. „Ich denke, was mich beschäftigt ist, dass ich es dann ausbaden muss, wenn sie feststellt, dass du sie nicht liebst oder ihr nicht so viel geben kannst, wie sie gerne möchte. Und es wird auch dich belasten. Ist das jetzt Sorge um sie oder nicht doch eher um dich?“ Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar.
Irgendwie amüsierte ihn ihre Reaktion nun doch mehr, als sie sollte. Ob sie wusste, wie niedlich sie aussah, während sie darüber grübelte, ob in seinen Worten vielleicht ein Hauch Wahrheit steckte? ‚Mach dich nicht lächerlich‘ – Ja, wer gestand sich da die tieferen Gefühle nicht ein, die er ganz offensichtlich hegte? Offensichtlich nahmen sich die Geschwister in diesem Punkt rein gar nichts, wenn es um Shanaya ging. Auch wenn er ehrlich gesagt nicht wusste, was Talin noch von ihm hören wollte. Dass er die Schwarzhaarige durchaus mochte, hatte er zugegeben. Dass er sie nicht liebte, stand außer Frage. Was sollte es dazwischen nun noch geben?
Doch er schwieg mit einem sachten Lächeln auf den Lippen, beobachtete die Blonde noch ein paar Sekunden dabei, wie sie vor ihm auf und ab marschierte und versuchte, ihre Sorgen in Worte zu fassen. Als sie schließlich endlich vor ihm stehen blieb, seufzte Lucien leise und erhob sich, sodass er unmittelbar vor ihr stand, legte ihr vorsichtig beide Hände an die Wangen und begegnete ihrem Blick, hielt ihn fest, damit sie ihm das, was er sagte, auch wirklich glaubte. „Talin“, begann er – sanft, aber bestimmt. „Ob nun um ihretwillen, oder auch ein bisschen um deinetwillen – für mich hört es sich so an, als möchtest du sie beschützen. Und das ehrt dich. Aber sie weiß, worauf sie sich einlässt. Sie wusste es von Anfang an. Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass das zwischen uns nichts Ernstes ist. Hör auf, dir einzureden, dass mehr dahinter steckt.“ In einer unendlich zärtlichen, unendlich vertrauten Geste streichelte er mit dem Daumen über ihre Wange und lächelte schuldbewusst. „Ich gebe zu, dass ich nicht bedacht habe, wie es für dich ausgehen könnte. Dass ich einen Fehler gemacht habe, als das mit Shanaya anfing, weil sie deine Freundin ist. Aber wenn du willst, dann rede ich mit ihr.
Dann ist es ihre Entscheidung, ob sie sich weiterhin darauf einlässt, oder nicht. Was meinst du?“
Sie war hin und her gerissen, ob sie noch einmal auf und ab lief oder sich vor Lucien hinhockte, um ruhiger mit ihm zu reden. Aber ihr Bruder nahm ihr die Entscheidung ab, als er aufstand und seine Hände an ihrer Wange legte. Für nicht einmal eine Sekunde verkrampfte Talins Körper sich, bis sie sich schließlich entspannte und zur Ruhe kam. Sie konnte nicht den Kopf wenden, um seine Worte nicht zu hören, da er sie festhielt. Stattdessen sah sie die Wahrheit – seine Wahrheit – in seinen Augen. Für ihn stand fest, dass er für Shanaya nichts weiter empfand als mögen. Er verstand nicht, dass es für sie hingegen sehr wohl ein feinere Ebene von Mögen gab. Denn letztlich mochte er sie mehr als die anderen Frauen an Board der Sphinx. Sie wollte mit ihm darüber streiten, aber wenn er es jetzt immer noch nicht verstanden hatte, wie sollte sie mit ihren Worten zu ihm durchdringen?
Talin seufzte und schloss für einen Augenblick die Augen, genoss die Berührung, bevor sie leicht nickte. Es fiel ihr unglaublich schwer, aber sie würde seine Worte akzeptieren können... hoffte sie. „Du redest wirklich mit ihr? Kein leeres Versprechen, du sagst es ihr?“ Selbst sie hörte in diesem Moment eine Spur Besorgnis in ihrer Stimme, also biss sie sich kurz auf die Unterlippe, fuhr dann aber fort. „Ich meine, so wie ich sie einschätze, wird sie sich denken, dass die Gefahr nicht besteht, aber dann weiß ich, dass es selbstverschuldet ist und du nur ein kleines Arschloch bist.“ Sie hob eine Hand und zeigte ihm einen Abstand zwischen Daumen und Zeigefinger, bevor sie sanft über seine Wunde streichelte. „Ich werde vermutlich trotzdem weiterhin der Meinung sein, dass du sie mehr magst als andere, auch wenn es meinetwegen keine Liebelei ist.“
Er sah seiner kleinen Schwester an, dass sie nicht überzeugt war. Sie ergab sich mit einem leisen Seufzen, schloss dabei die Augen und nickte. Doch Lucien kannte sie zu gut, um es nicht besser zu wissen. Was auch immer sie zwischen ihm und Shanaya vermutete, sie glaubte fest daran, dass es stimmte. Dass sowohl er als auch die junge Navigatorin nur zu stur waren, sich ihre Gefühle füreinander einzugestehen. Gefühle, die es nicht gab.
Doch er beließ es für diesen Moment dabei. Verzichtete darauf, weiter gegen sie anzureden. Zumindest fast. „Ich verspreche dir, dass ich mit ihr rede, wenn sich die Gelegenheit ergibt“, lenkte er ein. Dass er der Schwarzhaarigen ihren Ausflug in die Stadt nach wie vor nicht verziehen hatte, verschwieg er. Seine Sorge um sie würde Talin nur wiederum als Beleg dafür nutzen, dass Shanaya ihm mehr bedeutete, als er zugab. „Aber wie gesagt: Das ist nichts, was sie nicht längst weiß. Und vermutlich wird sie mir nur das antworten, was du bereits vermutest, nämlich dass diesbezüglich keine Gefahr besteht.“ Ein sachtes Lächeln huschte auf seine Lippen. Halb sanft, halb amüsiert. Nur einen Herzschlag lang erlaubte er sich, ihre Berührung zu genießen, sie nur anzusehen, bevor er sanfter und eindringlicher als gerade eben noch fortfuhr: „Aber dann versprich du mir, nicht in jeder Geste und jeder Kleinigkeit einen Beweis dafür zu suchen, dass du Recht haben könntest, einverstanden?“
Ihr Blick war auf seine Wunde gerichtet, aber das hieß nicht, dass sie ihm nicht zuhörte. Ihr fiel auch auf, dass er ein eher halbherziges Versprechen gab, mit Shanaya zu reden. Aber sie gab sich damit zufrieden. Sie würde ihn später einmal danach fragen, wenn er nicht von sich aus auf sie zukam, um ihr über das Gespräch mit der Schwarzhaarigen zu berichten. Von diesen Gedanken lenkten sie schließlich seine nächsten Worte ab.
Talin öffnete für einen Moment den Mund, um seinen Wunsch sofort abzuschlagen. Sie interpretierte doch wirklich nicht in jedes kleine bisschen etwas hinein... unverrichteter Dinge schloss sie den Mund wieder, ließ ihre Hand sinken und wandte halb beleidigt, halb unzufrieden den Kopf von Lucien weg. Er hatte nicht unrecht damit, so ein Versprechen von ihr zu fordern, aber gerade deswegen konnte sie doch sauer sein. Sie schielte zu ihrem Bruder hoch und ließ schließlich doch ergeben die Schultern sinken. „In Ordnung, in Ordnung. Du hast ja recht. Ich verspreche dir, dass ich nicht in jede Kleinigkeit etwas hinein interpretieren werde. Oder zumindest werde ich es nicht laut aussprechen. Ich versuche es. Bist du damit zufrieden?“
Ein Fünkchen Belustigung blitzte in den tiefgrünen Augen auf, kaum dass Talin seinem Blick auswich. Auf eine Art und Weise, wie es nur kleine, ertappte Schwestern konnten. Denn ja, sie suchte nun einmal nach Anzeichen, die ihre Theorie untermalten, das konnte sie nicht leugnen. Ob sie nun da waren, oder nicht. Doch er verkniff sich das Lachen, das in ihm aufsteigen wollte, schmunzelte nur über ihre Reaktion und nickte sacht. „Ich werde mich damit zufrieden geben“, antwortete er mit einem Hauch allerdings nur gespielter Resignation in der Stimme, zog Talin ein Stück näher zu sich, um ihr einen sachten Kuss auf die Stirn zu geben.
Schließlich seufzte er leise, ließ Talin damit sanft los und schob die grüblerischen Gedanken zur Seite, die dieses Gespräch trotz allem hinterlassen hatte, damit das Lächeln auf seine Lippen zurückkehrte. Noch einmal strich er seiner Schwester mit einer sanften Geste das Haar hinter ihr Ohr und neigte schließlich den Kopf. „Also... Ich denke, ich lasse den Tag in der Werft heute mal ausfallen. Was meinst du: Hast du Lust auf Theater? Oder hast du schon was Besseres vor?“