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At the bottom of the glass
Crewmitglied der Sphinx
für Gold gesucht
dabei seit Jun 2019
#1
At the bottom of the glass
bespielt von    Rúnar Rúnarsson   Tarón Valur
01.07.1822
Drei der Lebewesen in Rúnars Umgebung hatten bemerkt, dass etwas mit ihm nicht stimmte.

Nummer eins war sein Sonnensittich Harald Schönhaar. Dass dieser es bemerkt hatte, wusste Rúnar, weil der Sittich um einiges kuscheliger und anhänglicher war -- er setzte sich öfter auf seine Schulter oder schlief mit in seiner Hängematte, anstatt dass er die Umgebung erkundete oder sich einen Schlafplatz suchte, der als kleine Höhle fungierte und sicher nicht so unbequem war, wie zwischen einem Kieferknochen und einem Schlüsselbein eingequetscht zu sein.

Nummer zwei war Jón gewesen. Wie auch nicht. Er kannte ihn seit seiner Geburt -- wenn Rúnars Mimik und Gestik nur ein klein wenig anders war als sonst, dann erkannte Jón das sofort. Außerdem hatte Jón ein Talent dafür, auch Leuten die er nicht kannte, anzusehen, wie sie sich fühlten. Er hatte dann bei Jón unkontrolliert seine wirren Gedanken und Gefühle ausgekotzt und jetzt konnte er sie zumindest besser in Worte fassen.

Nummer drei war Tarón gewesen, der ihn beiseite genommen hatte und ihn dazu überredet hatte, mal etwas rauszukommen. Obwohl es nicht viel Überredungskunst gebraucht hatte -- dafür war Rúnar in den letzten Tagen zu apathisch gewesen. 

Sicher hätten andere es auch bemerkt. Dann war es ihnen entweder egal (was Rúnar auch nicht störte -- er war nicht der Typ Mensch, der von sich aus mit seinen Problemen zu anderen kam), oder Tarón war ihnen einfach zuvorgekommen. Das störte ihn auch nicht. Im Gegenteil. Trotzdem zog er unwillkürlich die Schultern hoch, als das Lachen, die lauten Unterhaltungen und die Musik schon durch die Fenster der Taverne drangen auf die sie gerade zugingen.


Wie so meist hatte Taróns Instinkt ihn nicht betrogen – denn Rúnar war seiner spontanen Einladung fast schon so überraschend bereitwillig gefolgt, dass dies als Bestätigung für den Falken ausreichte. Irgendwas lag dem Drachenzähmer auf dem Herzen. Irgendetwas, das er in sich hineinfraß. Und Tarón würde herausfinden was es war. 
Zum einen war das wohl nun sein Job – Quartiermeister! Ha! Wer hätte das gedacht? 
Zum anderen interessierte es ihn tatsächlich. Zum einen, da er immer gerne wusste was um ihn herum geschah, wie die Leute tickten, mit denen er segelte und jedes Puzzelstück wie einen Preis annahm, das half sein Bild von einer Person zu vervollständigen. Zum anderen war Rúnar ihm sympathisch. Und er vermutete hinter der Fassade des blassen Burschen mehr, als Rúnar allgemein durchblicken ließ. 
Nun – vielleicht würde er bald herausfinden was an seiner Vermutung dran war. 
Ein Party-Tier war er wohl nicht. Tarón registrierte die Reaktion auf den heiteren Lärm, dem sie sich näherten. 
‚Aber nun ist es zu spät, Rúnar. Kein Schneckenhaus – heute haben wir beide Spaß!‘ 
Das oder er würde zumindest erfahren wo ihn der Seeigel gestochen hatte. Mit einem Grinsen ließ er dem anderen die Hand auf die Schulter fallen.
„Dann wollen wir mal sehen, was die Leute auf Ritu so zu bieten haben!“ 
und schließlich schob er Rúnar auffordernd durch die Tür der Taverne, die sie mit einem Schwall rauchiger Luft und bellenden Gelächters begrüßte. Ein kurzer Blick durch den großzügigen Raum verriet, dass es hier auch nicht viel anders aussah wie in allen Tavernen der Welt. Allerdings hatte Tarón durchaus schon üblere Etablissements gesehen. Die Stimmung schien gut, die Leute noch nicht so betrunken, dass sie fürchten mussten in irgendeine Kneipenschlägerei zu geraten (zumindest nicht gleich). Und in einer Ecke des Raumes, entfernt von den Musikern, fand sich sogar noch ein Tisch, an dem sie in relativer Ungestörtheit reden konnten, ohne sich anschreien zu müssen. Auf diesen Tisch ließ Tarón nun die zwei Bierkrüge sinken, die er ihnen organisiert hatte und schob einen davon in Richtung des Blondhaarigen und sich selbst auf den durchgesessenen Holzstuhl Rúnar gegenüber. Nach einem tiefen Schluck aus dem Humpen und einem genüsslichen Durchatmen wanderten die blauen Falkenaugen forschend über seinen Gegenüber. 
„Der erste Schluck ist der beste! Meinst du nicht?“ 
Die Antwort darauf würde jedoch eine nebensächliche Floskel sein – im Gegensatz zu der auf die nächste Frage. 
„Also Rùni – was ist los?“ 
Kam er direkt und ohne Umschweife zum Punkt und Kern dieser ganzen Veranstaltung.


"Kein Schneckenhaus", murmelte er. Mehr um sich selbst einzureden, dass er sich nicht so anstellen sollte. Auch, wenn er sich jetzt schon überfordert fühlte. Aber das gehörte eigentlich in dieselbe Kategorie wie keine Angst zu haben. Er war ja nicht generell unsozial – nur ... nur was? Was war er eigentlich? Was war mit ihm los? 

Er zuckte kurz zusammen, als Tarón seine Hand auf Rúnars Schulter fallen ließ, aber im nächsten Moment schob er ihn schon durch die Tür zur Taverne. Für einen Moment fühlte sich Rúnar wie in einer anderen Welt. Seit Wochen hatte er nicht mehr so viele Leute und so viel Unbeschwertheit auf einem Haufen gesehen. Er konnte nicht sagen, ob ihn die Stimmung ansteckte oder seine eigene noch mehr drückte. Vielleicht beides gleichzeitig? Ging das überhaupt? 

Rúnar war froh, dass Tarón ihnen einen Tisch gesucht hatte, der etwas mehr am Rande des Trubels stattfand. Es war ruhiger, aber man konnte trotzdem das Treiben beobachten. So wie Rúnar es am liebsten hatte, wenn irgendwo viele Menschen waren. 

Tarón setzte einen Bierkrug vor ihm ab. Rúnar war kaum nach Alkohol, aber ein Bier würde er heute Abend nicht verschmähen. Würde bestimmt auch die Spannung in seinem Kopf und Körper lösen. (Zur Gewohnheit machen sollte er das aber besser nicht.) 

Zu ersten Schlucken hatte er keine Meinung, aber sogar er hatte genug gesunden Menschenverstand um zu bemerken, dass es eine Floskel war, also nickte und lächelte er ganz einfach. Und dann kam die Frage, auf die er gewartet hatte. Was mit ihm los war. Er sah Tarón an, aber konnte seinem Blick nicht länger als nur für einen Moment standhalten -- sah stattdessen in sein Bier, spielte an dem Henkel des Krugs herum. 

"Ich ...", brachte er hervor. "Ich weiß es nicht." Er zuckte mit den Schultern. "Alles?" Wo sollte er anfangen? Eigentlich hatte er mit Jón schon darüber gesprochen, eigentlich wusste er, was los war, eigentlich wusste er auch wo er anfangen konnte. Aber er brauchte noch einen Moment, um sich zu sortieren und nutze als Übergang: "Ich kann ins Detail gehen, aber erstens weiß ich nicht, ob du dir mein Geheule wirklich anhören willst und zweitens, du hast vergessen anzustoßen." Jetzt sah er Tarón an, lächelte schalkhaft, nahm seinen Krug und hob ihn dem anderen Mann entgegen.


Die Analyse – immer im Hintergrund laufend und so viel wie möglich um ihn herum beobachtend – zeigte weiterhin Wolkenstimmung bei seinem blonden Freund. Aber Rúnar drückte sich nicht, wenn ihm offenbar auch nicht ganz wohl in seiner Haut war. Das verriet spätestens das nervöse Spielen seiner Hände mit dem Bierkrug und sein abgewandter Blick. Tarón wartete geduldig auf seine Worte und nach einer Weile kamen sie…und Rúnar überraschte ihn erneut. Nicht sein „alles“ – so undefiniert und finster das auch klang. Manchmal kam einem die Welt eben so vor… es waren die letzten Worte, die ihn tatsächlich etwas überrumpelten. 

Einen Moment sah er Rúnar nur an, ließ seine Überraschung langsam aus seinen Augen schmelzen und in ein anerkennendes breites Grinsen übergehen. Mit einem Achselzucken hob auch er den Krug und deutete eine Verbeugung an. „Verzeiht einem alten Piraten, mein Herr – ich fürchte meine Manieren sind vor Jahren irgendwo zwischen Chikarn und Lilanja über Board gegangen. Cheers! Auf dein Geheule – denn ja: ich will es hören.“ 
stieß er mit ihm an.


Rúnars Lächeln ging von einem schalkhaften zu einem reinen, ehrlichen Grinsen über, gleich dem von Tarón. "Cheers", sagte er und nahm einen großen Zug. Das Bier war extrem herb -- im Gegensatz zu dem wässrigen Zeug, das sie in Andalónia hatten. (Dafür verstand sich Rúnars Heimat allerdings bestens darauf, Wein und Spirituosen herzustellen.) "Dir sei verziehen", fügte er hinzu, noch immer grinsend. "Gib mir noch ein paar Jahre, dann habe ich meine auch verloren." Er räusperte sich und es blieb nur noch eine ausdruckslose Spur eines Lächelns übrig. "Da wären wir eigentlich auch schon beim Thema." Es war ihm wieder (oder immer noch) unangenehm, Tarón direkt anzusehen, also nahm er nochmal einen Schluck von seinem Bier und starrte wieder hinein, als er es wieder vor sich abstellte. "Es fängt eigentlich damit an, dass ich das Gefühl bekomme, dass ich mein Leben, so wie es gerade ist, nicht bewältigen kann. Oder -- was heißt anfangen. Das ist eigentlich der Kern der Sache. Ich war ein halbes Jahr lang komplett allein, bevor ich auf die Sphinx-Crew gestoßen bin. Und ich wollte eigentlich nach Hause -- mein normales Leben wieder haben. Soweit es ging. Ist etwas kompliziert." Er winkte mit einer Geste ab, aber sprach trotzdem weiter. "Mein Leben war eh nicht mehr normal. Ich bin auf der Suche nach meinem Vater gewesen, bin aber immer wieder zurück nach Hause gesegelt, also hatte alles sein ... sein Muster. Irgendwie. Und dann habe ich Schiffsbruch erlitten und bin auf Niobe gestrandet. Und dann war ich eben ab da dieses halbe Jahr lang allein unterwegs. Und dann bin ich eben auf die Crew gestoßen. Wollte nur eine Mitfahrgelegenheit und dann ... hab ich mich aus irgendeinem Grund zu Hause gefühlt? Nachdem ich so lang allein war, verstehst du?" Jetzt sah er Tarón für einen Moment an. "Und dann hab ich irgendwie vergessen, dass ich eigentlich wieder zurück nach Andalónia, nach Neistavík wollte. Und während ich mich aber schon so zu Hause fühle und--" Er kam sich seltsam vor, es auszusprechen, aber er war zu sehr im Fluss um es groß in Frage zu stellen. "--an euch allen hänge, wächst mir alles über den Kopf? Und mit 'alles' meine ich, was ständig alles passiert. Was diese Art von Leben mit sich führt." Eine kurze Pause. "Ich glaube, ich habe mir bisher noch nie wirklich eingestanden, dass ich mich für dieses Leben entschieden habe und eigentlich kein anderes mehr möchte. Und jetzt aber langsam bemerke, dass ich nicht dafür geschaffen bin." Ein Funken Wut sprang in Rúnars Brust auf und man konnte es in seiner Tonlage hören. "Und ich hasse es, weil es genau das ist, was man von mir erwartet. Der zarte, blasse Aristokrat, dessen schwacher Geist das Leben als Pirat nicht verkraftet." Er griff so energetisch nach seinem Krug, dass fast etwas ausschwappte, nahm einen Schluck und setzte den Krug genau so energetisch wieder ab.

„Daran habe ich keinen Zweifel – dafür werden wir schon sorgen.“ Quittierte er Rúnars eigene scherzhafte Bemerkung über das über Board gehen seiner Manieren augenzwinkernd und gefolgt von einem weiteren Schluck des Bieres, das kühl und verdammt wohltuend seine Kehle hinabrann, als Rúnar nun zur Beantwortung seiner eigentlichen Frage überwechselte. Erneut hörte der Falke zu, während Rúnar die Augen nicht auf ihn halten konnte. In seinem Hinterkopf klickten die Puzzelteile leise an ihre Plätze. 
Tarón hielt Rúnars Blick ruhig stand, als dieser ihn dann doch wieder ansah und er blieb auch dann noch ruhig und entfernte sich nicht von den hellen Augen seines Gegenübers, als die Wut über ihn selbst in Rúnars Bewegungen rutschte. „Hm…“ der Laut glich einem ruhigen nachdenklichen Brummen, das er mit einem weiteren Schluck Bier zum Abbruch brachte, während er seine Worte sortierte. Dann stellte auch er den Krug wieder ab – allerdings nicht mit der Inbrunst seines jüngeren Gegenübers.
Die Fragen zu Details seiner Historie schob Tarón vorerst in die Ecke und fügte sie als schwarze Teile in das Gesamtbild ein. Später – es würde sich Gelegenheit ergeben Rúnar danach zu fragen. Vorerst zum Wesentlichen: „Und was genau bringt dich zu der Annahme, dass du hierfür nicht geschaffen bist? Das scheint der Knackpunkt zu sein – denn ich glaube was du willst steht weniger in Frage. Du hast es selbst gesagt: du hast dich bereits entschieden – es war dir nur nicht klar.“ 
Er legte den Kopf ein wenig schief, lächelte sein typisches Lächeln, in dem sowohl Wissen als auch eine jungenhafte Schläue und gutmütiger Schalk mitschwang. 
„Also war es doch das Erste: Der Drachenzähmer erkennt seinen Wert wahrlich schwer und vertraut sich selbst nicht. Was bereitet dir daran solche Bauchschmerzen, dass du es als so gravierend siehst dich selbst darüber zu zerfleischen? Oder gibt es doch noch etwas anderes? Etwas, das dich zurück nach Andalónia zieht und Schuld an dir nagen lässt?“ Nicht abgeschlossene Dinge. Menschen, die an Stränden auf eine Rückkehr warten, die nicht erfolgte. Damit zumindest kannte Tarón sich aus. 
Sein Kopf legte sich auf die andere Seite und er stützte die Wange mit der linken Hand ab während er ihn einen Moment lang betrachtete. 
„Hmmm…“ 
Die Augen zusammenkneifend schob er sich plötzlich über den Tisch auf Rúnar zu. Musterte ihn durch die schmalen Schlitze, zu denen er die Augen verengt hatte, auch noch, als sein Gesicht knapp vor dem des anderen zum Halten kam. Plötzlich war Taróns Hand an Rúnars Wange und der Blick des Falken wechselte von dem rauen Handrücken zu dem glatten Gesicht des Burschen und wieder zurück. 
Mit einem kurzen Zucken des Mundes und einem weiteren leisen „Hm“ ließ er sich wieder auf seinen Stuhl zurückfallen und verschränkte die Arme vor der Brust – alles, ohne den Blick von Rúnar abzuwenden. 
„Also ich mag mich irren...aber ich glaube du bist schon etwas brauner im Gesicht geworden. Nurnoch der zarte Aristokrat, fürchte ich. Wir haben dich bereits verdorben.“ 
Diesmal zuckten Brauen und Mund amüsiert, als er wieder nach dem Krug griff, trank und seine Augen Rúnar dabei entgegenblitzen. 
Oh – er nahm ihn schon ernst. Tatsächlich glaubte er sogar ihn zu verstehen. Doch Tarón war der Meinung, dass man sich seinen Humor stets bewahren sollte – ohne den seinen wäre er wahrscheinlich schon längst selbst am Grund des Meeresbodens geendet. Dort oder am Grund der Flasche. 
Zugleich war er jedoch auch über zehn Jahre älter als der andere – und auch wenn er sich immer etwas Junges behalten hatte, grub die Zeit nicht nur im Gesicht, sondern auch in der Erfahrung eines Mannes. 
Und vielleicht war da auch noch ein anderer Punkt. Vielleicht wollte sich Tarón nicht mit der Möglichkeit anfreunden, dass Rúnar beschließen könnte dieses neue Leben – für das er sich nach eigener Aussage entscheiden wollte – mir nichts dir nichts aufgeben könnte. Aus Angst – vor sich selbst und der Unfähigkeit, die er im Bezug auf sich selbst immer zu fürchten schien. Tarón zumindest war sich recht sicher, dass Rúnar es bereuen würde dem Ruf der Freiheit zu entsagen und in sein früheres Leben zurückzukehren, das ihn zu der perfiden Überzeugung gebracht hatte Erwartungen anderer hinterherjagen zu müssen und sich zeitgleich doch nie würdig fühlen zu dürfen. „Weißt du…mit dem Meer und der Piraterie ist es wie mit der Liebe. Manchmal sucht man es sich nicht aus. Die Wahl ist getroffen, ehe man weiß, dass es eine Wahl gibt, hm? Glaubt man mitunter dem nicht gewachsen zu sein? Wenn man nicht grade James ist: wahrscheinlich, ja. Oh und das bezieht sich auf Frauen…von Schiffen und dem Meer hat James keinen feuchten Schimmer. Vielleicht war das ein schlechtes Beispiel…Wie auch immer: trotzdem zieht das Herz einen hinaus. Und es lohnt sich seinem Herzen zu folgen…“ 
Tut es das, Tarón?

Seines hatte ihn dazu gebracht Isala zurückzulassen und ihn dafür an andere Strände gespült. 
Die Erinnerung nagte an seinem Hinterkopf wie eine Ratte und flutete ihn mit Bildern von Blut und Sand. 
Für einen Moment glaubte er ihre Hand auf seiner Wange zu spüren – zart und zitternd, wie ein Schmetterlingsflügel, ehe sie leblos fiel. Beiläufig strich er sich durch das Gesicht und wischte Aylahs Berührung fort. 
„Trotz der zugegeben chaotischen Lebensplanung und der ständigen Gefahr gehörig den Arsch aufgerissen zu bekommen: Wir sind frei.“ 
Dem letzten Satz wohnte eine Inbrunst inne, die man so selten bei ihm erlebte. Das war es, worauf alles hinauslief. Zumindest für ihn. Wie viele Menschen konnten das schon ernsthaft von sich behaupten? Dann schmunzelte er wieder. 
„Und tja, was soll ich sagen: Ich fühl mich mit dem Sauhaufen auch ganz wohl.“ 
Mehr Bier, bevor er noch gefühlsduseliger wurde…er genehmigte sich noch einen Schluck und stellte fest, dass sich der Humpen bereits seinem Ende zuneigte. 
„Aber schmackhaft reden muss ich dir die Sache eigentlich nicht. Du sagst du hast dich dafür entschieden? Gut. Dann erklär mir nach meiner kleinen theatralischen Ausschweifung, warum du nicht dafür gemacht bist.“


Rúnar wusste gar nicht, warum es ihm so schwerfiel, seine Gefühle zu offenbaren -- vielleicht, weil Tarón wie jemand wirkte, der seine eigenen immer komplett unter Kontrolle hatte und ein, wenn auch minimaler, Gefühlsausbruch wie dieser, befremdlich oder pathetisch auf ihn wirkte. Aber wahrscheinlich eher nicht -- sonst hätte er Rúnar ja nun nicht anhören wollen. Dieser Gedanke machte es Rúnar leichter, Tarón wieder direkt anzusehen. 

Tausende Gedanken, die hauptsächlich damit zu tun haben, was Rúnar selbst für ein Versager war, gingen durch seinen Kopf, als Tarón erst nur einen nachdenklichen Laut von sich gab, dann etwas von seinem Bier trank und dann erstmal nichts sagte. Rúnar nahm die Musik und die Gespräche der anderen Gäste für einen Moment deutlich wahr -- aber dann begann Tarón wieder zu sprechen. 

Rúnar nickte -- Tarón hatte genau verstanden, was er hatte sagen wollen. Wie machte er das, dass er auf Anhieb genau die richtigen Worte fand? Er hatte aus Rúnars (relativ) wirrem Gerede deutlicher herausfiltern können, was Rúnar gemeint hatte, als Rúnar selbst, der es nun schon zum zweiten Mal binnen kürzester Zeit jemandem erzählt hatte. 

Rúnar zog einen Mundwinkel nach oben. Ein kläglicher Versuch Taróns Lächeln zu erwidern. Dann gab Tarón wieder diesen nachdenklichen Laut von sich -- Rúnar atmete gerade ein, um ihm zu antworten, da beugte sich Tarón über den Tisch -- Rúnar zuckte reflexartig zurück -- dennoch war Taróns Gesicht so nah vor seinem eigenen, dass er glaubte, den Atem des anderen auf seiner Haut zu spüren. Er hatte seine Hand auf Rúnars Wange gelegt und bevor dieser sich ordentlich fragen konnte, was das sollte, hatte Tarón die Hand wieder zurückgezogen und sich wieder zurück auf seinen Platz gesetzt. Die darauffolgende Aussage des anderen Mannes erklärte dann die Geste. Rúnars eigene Hand ging zu der Stelle an seiner Wange an der Taróns gewesen war. Er wusste nichts gutes oder wortgewandtes darauf zu sagen -- außerdem war er im Moment vermutlich eher errötet als gebräunt -- und ein seltsames, untypisches Lachen entfuhr ihm. "E-heh." 

Was war denn das, bitte? Er war doch sonst nicht so verlegen. So scharfsinnig, dass er förmlich noch die Berührung von Taróns Hand auf seinem Gesicht spürte. Außer wenn ...

Nein. Nein, nein, nein. Der war viel zu alt. Außerdem kannte Rúnar ihn gar nicht richtig. Aber -- Tarón war zuvorkommend, er war lustig, er verurteilte Rúnar nicht für seine Art oder Persönlichkeit, hatte keine Erwartungen an ihn -- und er schien Rúnar wirklich zu mögen. Aber doch nicht so. Vielleicht war er nur angetrunken? Aber doch nicht mit seiner Statur, doch nicht von einem Krug Bier. Und jetzt warf er ihm einen Blick zu. Aber das musste nichts heißen -- aber vielleicht doch -- aber nein -- aber ja -- aber nein -- aber -- aber --  

Rúnar schob die Gedanken beiseite, zog die Augenbrauen zusammen und lachte noch einmal normal auf, wie: Hah, ich weiß selbst nicht, was das gerade eben war. Dabei fiel es ihm schwer, seine miteinander ringenden Gedanken wirklich ganz auszublenden. Wieso hatte ihn sein Kopf ausgerechnet jetzt mit der Nase in diese Spekulationen stoßen müssen? Oh, du willst etwas von deiner Gedankenbrühe abgeben, damit es dir etwas besser geht? Hier hast du einen neue, wir wollen ja nicht, dass du auf dem Trockenen sitzt -- oder, Rúnar? Oder? Oder? Oder?!

Und jetzt begann Tarón auch noch etwas von Liebe zu reden. Man sucht sich nichts aus, die Wahl ist eh schon getroffen -- verdammt, las Tarón etwa gerade seine Gedanken? (Und das war der Punkt, oder nicht? Er schien einfach zu merken, was in Rúnars Kopf vor sich ging -- und das war eigentlich etwas Gutes. Nur, hoffte Rúnar, würde er es jetzt gerade nicht allzu deutlich bemerken.) Immerhin hatte Rúnar es, wie er bemerkte, die ganze Zeit über geschafft denselben Gesichtsausdruck zu bewahren: ein neutrales, fast nichtssagendes Lächeln. Dieses veränderte sich nun allerdings, erst zu einem Lächeln mit zusammengekniffenen Lippen, dann zu dem Lächeln, das er davor schon die ganze Zeit gehabt hatte -- das er hatte, wenn er sich gut fühlte.

"Dass es mich aus einem bestimmten Grund zurückzieht, das ist es nicht", begann er. "Ich bin ja erstmal weggegangen, weil es mich weggezogen hat. Weil ich nach meinem Vater suche -- ich bin nicht sicher, wem ich das schon gesagt habe und wem nicht, also entschuldige, falls ..." Er substituierte die Worte, indem er kurz die Handfläche nach oben öffnete -- dann wanderten seine Finger wieder zurück an den Henkel des Krugs. "Und dann sollte ich mich eigentlich fragen, warum ich das mache, denn wenn ich ihn finde, dann wird genau passieren, dass wir nach Hause gehen und ich wieder unglücklich werde, weil Dinge von mir erwartet werden, die ich nicht erfüllen will oder kann." Eigentlich musste er sich nicht fragen, warum er das machte: Er hatte seinen Vater das letzte Mal im Streit gesehen und damit konnte er nicht leben. Und es war ohnehin höchst unwahrscheinlich, dass er ihn so schnell wiederfand. Wobei das Finden nicht das größte Problem war. Sich Svavar zu stellen, das war das viel größere. "Andererseits: Es ist dumm zu denken, dass wir da weiter machen würden, wo wir aufgehört hatten. Und ja -- also nein, ich will nicht in mein altes Leben zurück. Ich will bei euch bleiben, ich will auf der Sphinx bleiben."

So. Da war es. Er hatte es direkt ausgesprochen. Diesen Teil der Gedankenbrühe hatte er jetzt wenigstens ausgelöffelt, nachdem er bislang unterschwellig in seinem Kopf herumgeschwappt war. Er nahm einen Schluck von seinem Bier, das im Gegensatz zu Taróns bislang nur halb ausgetrunken war. Der Schaum war schon lange verschwunden und der Inhalt des Krugs stand darin wie seine Gedankenbrühe in seinem Kopf: dunkel, leicht benebelnd, bitter aber gleichzeitig auch ein wenig süßlich. Er stütze seinen Kopf in seine eine Hand, spielte mit der anderen noch immer am Krughenkel. "Das Schlimme an alldem ist, glaube ich, dass ich -- ja, schon dass ich davor schon kein Vertrauen in mich selbst hatte. Aber alles seitdem, hat es eigentlich nur schlimmer gemacht -- glaube ich. Und ich meine nicht, dass ich meiner Erziehung und meinem Aussehen nach nicht reinpasse." Er legte selbst nochmal kurz seine Hand an seine Wange, um es zu verdeutlichen. "Ich meine, dass die ganze Scheiße, die wir immer wieder durchmachen, dass ich das auf die Dauer nicht verkrafte. Es zehrt an meiner Kraft und meinen Nerven, jedes Mal, wenn etwas passiert -- Kopfgeldjäger, Epogryphen, selbst der verdammte Nebel wollte uns wohl umbringen. Und dann zwinge ich mich, mich meiner Angst zu stellen, in der Hoffnung, dass es irgendwann besser wird -- aber das wird es nicht." Und er griff sich an die Brust, sah Tarón an. "Ich will frei sein. Aber irgendwas in mir wehrt sich dagegen." Seine Hand war noch immer an seiner Brust, aber dann ließ er sie sinken und sagte, leiser: "Entschuldige. Vermutlich sollte ich meine Karriere vom Piratenschiff aufs Theater verlegen."
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At the bottom of the glass - von Rúnar Rúnarsson - 29.01.2022, 22:42

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