22.01.2022, 15:09
Die Piraten standen nun nah genug bei Jón, sodass er sie nur noch schemenhaft wahrnahm. Ihre Gesichter schienen sich kaum zu bewegen, also nahm er an, dass sie ihn ansahen. Er hob den Ausschnitt seines Hemdes an, das er sich über die Nase gezogen hatte, und fischte nach seiner Brille, die an einer feingliedrigen Kette um seinen Hals hing -- setzte sie auf, gab kurz ein verlegenes Lächeln uns sagte: "So. Besser." Trotz nun vollständiger Sehkraft fiel es ihm schwer ihre mit Tüchern bedeckten Gesichtszüge zu lesen. Jón selbst zog sich auch wieder seinen Kragen über die Nase.
Auf dem Weg hinüber zu ihm machten sich zwei der Piraten -- große, hellhaarige Männer -- zielstrebig auf unter das Deck. Jón sah den beiden für einen Augenblick hinterher -- nicht unauffällig, aber auch nicht zu aufdringlich. Der eine spielte mit einem Glas, es fiel ihm runter und Jón zuckte kurz zusammen -- aber der Mann fing es noch rechtzeitig auf. Hoffentlich stolperten die beiden über Vasario. Und fanden Jóns Bücher -- und seine Schätze -- dann konnte er sie mitnehmen, falls sie ihn auch mitnahmen. Andererseits -- wenn sie seine Sachen fanden, so gehörten sie dann wohl ihnen.
Er trauerte mehr seiner kleinen Schatzkiste hinterher, als seinen Wechselbriefen. Und die waren wirklich viel wert. Aber seine Sammelgegenstände, die waren unersetzbar. Muscheln, Federn, Steine, eine Spielfigur und ein Korken -- alles, was er auf seiner Reise bisher gesammelt hatte.
Jón bemerkte, dass der, der sich ihm als Tarón vorgestellt hatte, ihn musterte -- es wirkte aber mehr wie ein aufmerksamer Blick als ein drohender und Jón gab ihm ein kleines, neutrales Nicken. Die vor Tarón stehende, blonde Frau wirkte ebenfalls entspannt -- neugieriger, als ihr Kamerad -- und begann, die Reling entlangzugehen. Wie zwei Katzen, diese beiden -- im Gegensatz zu den beiden Männern, die wie Apportierhunde begeistert vorausgerannt waren.
Es war schwierig eine offensichtliche Hierarchie unter der Truppe festzustellen, aber so wie der grünäugige junge Mann nun sprach und wie sie alle als Gruppe angeordnet waren, schloss Jón, dass der Grünäugige viel zu sagen hatte. Und bis auf Tarón war er auch der einzige, der direkt mit Jón kommunizierte. Jón nickte auch ihm auf seine Antwort hin zu. Bevor er zu Wort kam, schaltete sich ein weiterer Begleiter ein -- Tätowierungen lugten unter seinen beiden Ärmeln hervor. Er sagte, an den grünäugigen Verhandler gewandt, dass die Crew keine Probleme machen würde. Ja, das würde Jón wohl hoffen -- allerdings wirkte auch dieser Pirat nicht angespannt, geschweige denn auf Krawall gebürstet. Das wäre auch unnötig -- es waren sowieso alle im Eimer und die die es nur kurzfristig und nicht endgültig waren, mit denen würden sich die Piraten auf blöd die Chance vertun, sich eine längerfristige Hilfe zuzulegen.
Ein weiterer Mann, mit auffällig vielen Narben an den Armen, trat hervor. Auch er sah Jón einen Moment an und als die beiden sich den Matrosen hinter Jón zuwandten, änderte sich ihre Haltung, wurde entschlossener -- aus Höflichkeit dem Verhandler gegenüber drehte Jón sich nicht zu ihnen um, aber richtet Teil seiner Aufmerksamkeit nach hinten.
"Das trifft sich gut", antwortete er dem Verhandler, "denn Verschwinden ist auch unsere Priorität und eine Mitfahrgelegenheit werden wir nicht ausschlagen. Ich spreche natürlich nicht für alle Matrosen -- ich bin nicht ihr Kapitän -- aber wer nicht mitkommen möchte, darf sich hier sein Seemansgrab gerne selbst schaufeln." Diese Einstellung musste er wohl nicht weiter erläutern. Nur ein vollkommener Idiot würde freiwillig zurückbleiben. Sterben würden sie dann sowieso und falls die Piraten sie letztendlich umbrachten, hatten sie es wenigstens versucht. „Was wir euch bieten können ist das, was von unserer Ware übrig geblieben ist." Sollten sie sich doch ruhig nehmen was sie wollten. Nicht Jóns Zirkus, nicht Jóns Affen. "Was ich euch bieten kann sind zwei anpackende Hände mehr. Mit den Epogryphen und mit dem Schiff."
Er hatte den Männern hinter sich nicht mehr zugehört, aber das Klackern von Eisen auf dem Deck ließ ihn einen Moment nach hinten sehen. Ein paar der Handelsschiff-Matrosen sahen ihn an -- manche nicht, aber es sah auf einen kurzen Blick so aus als legten wirklich alle ihre Waffen nieder. Jón hob die Hände, kniff kurz die Lippen zusammen. "Ich habe keine Waffen bei mir."
Den letzten Satz von dem Vernarbten hinter sich bekam Jón dann mit. Sein Hals begann, sich zuzuschnüren, doch bevor das ganz geschehen konnte, brachte er hervor, was seine Moralvorstellung ihm eigentlich schwer erlaubte: "Ein Diplomat namens Vasario de Vega ist noch an Deck, ich weiß nicht wo genau." Jón sollte so viel weniger Skrupel haben, Vasario zu verraten. Dieser Mann würde nur unnötig Ärger machen. "Und bevor ich des Verrats bezichtigt werde: Wenn ihr Vasario findet, werdet ihr schnell merken, dass nicht ich das Kameradenschwein bin."
{ Handelsschiff | Lucien und Tarón }