19.12.2021, 12:23
Er versuchte, wirklich einen neutralen Gesichtsausdruck beizubehalten. Ein Lächeln hier, ein Schmunzeln da, war zu verkraften. Aber wenn er lauthals über diese Situation lachte, dann, so hatte er das Gefühl, würde der Captain ihm vermutlich an die Kehle springen. Übertragung von Ärger so nannte sich das wohl. Und genau aus diesem Grund wanderte Ryms Blick an die Decke, als er auf einmal zwischen dem Mädchen und dem Mann stand. Ganz ehrlich? Wenn sie noch so einiges zu klären hatten, dann sollten sie das einfach im Bett oder im Heu oder hier auf dem Boden tun. Das wäre auf jeden Fall angenehmer, als wütend auf einander zu sein. Das Gefühl der Wut oder des Ärgers war immer so ... unproduktiv und unschön. Aber was sollte er sich da einmischen? Er wusste ja nicht, was zwischen den beiden vorging auf dieser tieferen Ebene, die diese Gefühle überhaupt erst ansprach. Er war nur ein Zuschauer oder in diesem Fall das fünfte Rad an einem Wagen. Obwohl sie ihm beide immer mal wieder Aufmerksamkeit schenkten, fühlte er sich eher unscheinbar oder wie ein Sprachrohr. Etwas, was er zuletzt als jugendlicher Taschendieb in den Straßen seiner Stadt gewesen war. Ziemlich schnell kehrte er aus dem Schwank seiner Jugendzeiten wieder ins Hier und jetzt zurück, als Shanya aufstand und sich ankleidete. Auf ihre Frage, was er hier tat, ging er gar nicht wirklich ein. Denn wenn sie von allein noch nicht darauf gekommen war, dass er für sie einen guten Schutz vor der Wut des Commodore abgab, dann würde er ihr das nicht noch auf die Nase binden. Er war milde genug, eine verletzte Person nicht über Gebühr zu ärgern. Stattdessen ließ er den Blick zwischen dem jungen Mann und der kleinen Königin hin und her wandern, bevor er die Augen verdrehte. „Jaaaaaa, also da wir uns ja dann einig sind, dass wir im langsamsten Tempo der Welt zurück ins Bordell kriechen, sollten wir vielleicht langsam mal los. Ich würde gern noch vor Sonnenuntergang dort ankommen.“ Auf jeden Fall machte er sich nicht über verletzte Personen lustig.
In eisigem Schweigen begegnete Lucien dem Blick der Schwarzhaarigen. Er sah den Anflug von Trotz darin, registrierte ebenso, wie sie ihm für einen Moment noch standhielt und sich dann abwandte, um sich der Verletzung an ihrem Bein zu widmen. Er bemerkte, wie ihre Hände vor Erschöpfung zitterten, sah zu, wie sie sich mühsam ein wenig aufrichtete, um ihre Hose vorsichtig über den Verband zu ziehen und mit bebenden Fingern zu verschließen. Wie sie nach ihrem Krückstock griff und sich schwer darauf stützte. Wie sie die Augen schloss und tief Luft holte, um die Kraft für das zu schöpfen, was er ihr gerade aufzwang. Er sah all das und doch berührte es ihn in keinster Weise. Mitgefühl und Verständnis war etwas, das sie in diesem Moment nicht von ihm erwarten konnte. Die tiefgrünen Augen verdunkelten sich ein Stück weit. Düstere Wut lag darin, als er Shanayas Blick ein letztes Mal erwiderte. „Du hast keine Ahnung davon, was ich wirklich will, Shanaya“, stieß er mit einem leisen Grollen in der Stimme hervor. Worte, die eigentlich noch so viel weiter reichten, als über die Frage, wie er sie alle zurück zum Bordell kriegen wollte. Doch er wandte sich nur um, nickte dem Söldner aus der Bewegung heraus kurz zu und bedeutete ihm schweigend, darauf zu achten, dass sie es bis zur Tür schaffte. Selbst warten tat der Dunkelhaarige jedoch nicht. Er verließ die Schneiderei auf demselben Weg, wie sie auch gekommen waren, trat hinaus auf die staubige Seitengasse und ließ die Tür hinter sich zufallen. Zu ihm aufzuschließen würde mit Shanayas Geschwindigkeit ein paar Sekunden dauern. Nur ein paar Sekunden für sich allein. Lucien stieß die Luft aus, fuhr sich mit der Hand erschöpft über die Augen, schloss für einen Moment die Lider, um sich ganz auf das wütende Brodeln in seinem Inneren zu konzentrieren. Wut vor Sorge. Wut über ihren Starrsinn. Wut über ihre Ignoranz. Aber es ging ihr gut. Es ging ihr gut... Sie lebte noch. Sie war noch da. Mit gespreizten Fingern fuhr Lucien sich durch die Haare, machte einen Schritt weiter hinein in die Gasse und wandte sich dann wieder halb der Schneiderei zu, um auf seine beiden Begleiter zu warten. Immerhin. Er wartete.
Zairym antwortete nicht auf Shanaya Frage, die sowieso mehr rhetorisch über ihre Lippen gekommen war. Vielleicht auch, um sich nicht all zu sehr auf Lucien zu konzentrieren, dessen kalter Blick ihre innere Unruhe nur anfachte. Trotzdem hielt sie dem Blick des Dunkelhaarigen noch einen Moment Stand, hielt die Luft bei seinen Worten an und schluckte mit aller Kraft eine Antwort herunter. In einem anderen Moment hätte er sich sicher etwas Passendes anhören dürfen, jetzt allerdings… glaubte die Schwarzhaarige nicht die Kraft für einen Streit aufbringen zu können. Sie schwieg also, richtete den müden Blick zu dem Söldner herum, nahm nur im Augenwinkel war, wie Lucien die Schneiderei verließ. Die Worte des Mannes ließen die junge Frau ruhig eine Augenbraue heben, ehe sie zu einer Antwort ansetzte. „Du kannst auch schon ruhig vorgehen, wenn du es so eilig hast.“ Abschätzend ruhten die blauen Augen einen Moment auf Zairym, dann richtete sie sich in Richtung Tür. Sie war zu müde, um ihre Gedanken zu ordnen, um sich mit manchen Gedanken näher zu befassen. Sie wollte nur ihre Ruhe. Die Krücke fest umklammert stieß sie die Tür also auf, kämpfte sich auf die Gasse davor und spürte schon nach dieser kurzen Strecke, wie ihr Körper sich gegen die Anstrengung wehrte. Kein weiterer Blick galt ihrem Captain, Shanaya biss nur die Zähne fester aufeinander, kämpfte sich Schritt für Schritt vorwärts. Sie würde das auch allein schaffen. Sie brauchte niemanden, um zurecht zu kommen. Immerhin hatte sie es auch bis hierher allein geschafft. Zumindest redete sie sich das in diesem Moment ein, um sich darauf konzentrieren zu können, den Weg hinter sich zu bringen, ohne vor Erschöpfung noch einmal im Dreck zu landen.
Seine Worte blieben unkommentiert, bis auf die Tatsache, dass Shanaya sich weiter langsam wie eine Schnecke bereit machte hier zu verschwinden und der Commodore fast wortlos aus dem Laden verschwand. Rym schürzte für einen Augenblick die Lippen. In seinem Kopf entstand ein Bild von einem zweirädrigen Wagen, der auf einmal noch ein drittes bekommen hatte und nun über unebenen Boden ruckelte.
Als würde er es aufgeben, zwischen den beiden Rädern zu vermitteln, hob er die Hände und wedelte kurz damit herum. „In Ordnung, dann beachten wir einfach Zairym nicht, der versucht hat dafür zu sorgen, dass ihr euch nicht gegenseitig umbringt.“ Das Schließen der Tür, als Lucien den Raum endgültig verließ, war Zeichen genug und Rym nickte nur zustimmen. Als Shanaya dann aber ebenfalls auf ihn zu, nein, auf die Tür, zukam, nein, eher zukroch, zuckte eine seiner Augenbrauen in die Höhe und er zuckte fast, als täte es ihm wirklich leid, mit den Schultern. „Ich habs zwar eilig mich schöneren Dingen als eurem Gezänk zu widmen, aber ich erfülle immer meine Aufträge, kleine Königin,“ kurz überlegte er, „Es sei denn, du kannst mir mehr geben, als der Commodore?“ Zwar sagte er ihr das, aber kaum hatte er geendet, da stieß sie auch schon die Tür auf und war nach draußen verschwunden. Rolle, rolle, mein drittes Rad. Rym schüttelte belustigt den Kopf und folgte dem Mädchen, das mit stoisch, stolzer Haltung an Lucien vorbei ging und versuchte sich ihren Weg zurück zum Bordell zu bahnen. Mit einer Schnelligkeit...Rym seufzte, als er neben Lucien stehen blieb. Es juckte ihn in den Fingern, das Mädchen einfach hochzuheben, damit sie schneller wieder zurück kamen, aber er wollte sich ehrlich gesagt, nicht seine Sachen mit Blut einsauen. Das würde er nie wieder ganz rauskriegen. Sein Blick fiel auf den Captain, der, so hoffte der Braunhaarige, sich in den paar Minuten allein, etwas beruhigen konnte. „Es wäre vielleicht angebracht, sie in Brautmanier zu tragen, Commodore. Nur ein Vorschlag, damit wir nicht irgendwann Rückwärtslaufen, so schnell, wie wir voran kommen.“
Auch wenn sich nur wenige Augenblicke später die Tür zur Schneiderei knarrend hinter ihm öffnete, reichte die Zeit allein zumindest, um sich wieder einigermaßen in den Griff zu bekommen. Shanaya nicht mehr unmittelbar vor sich zu haben, half dabei durchaus, und als er nun den Blick hob, um ihr und Rym entgegenzusehen, nahm er mit kühlem Gleichmut hin, dass sie ihn beharrlich ignorierte. Er ließ die Schwarzhaarige an sich vorbei humpeln – nicht weniger verärgert über ihren störrischen Trotz, als gerade eben schon, aber zumindest ohne dass ein weiterer Wutanfall in ihm hochkochte – und wartete mit vor der Brust verschränkten Armen, bis der Söldner zu ihm aufgeschlossen hatte. Die Schwarzhaarige übernahm derweil die Spitze. In einer Geschwindigkeit, die es Lucien erlaubte, demonstrativ stehen zu bleiben, zu warten, Abstand zwischen sie zu bringen und schließlich in gemächlichem Tempo zu folgen, ohne sich Sorgen machen zu müssen, er könne sie aus den Augen verlieren. Erst dann löste er die Arme wieder und wandte sich in merklich beherrschterem Ton an seinen Begleiter. „Wenn du mit Brautmanier meinst, sie mir über die Schulter zu werfen und dort baumeln zu lassen, bis wir zuhause sind – sicher. Aber jetzt noch nicht.“ Die tiefgrünen Augen ruhten dabei unverwandt auf Shanayas Rücken. Seine Züge blieben ernst und angespannt, ohne jedes Lächeln. Er genoss es nicht, sie unter dieser Anstrengung leiden zu sehen. Er empfand auch keine Genugtuung dabei. Aber er war wütend genug, um sie an ihre Grenze treiben zu wollen. Wütend genug, um sie für die Sorge bestrafen zu wollen, die er sich ihretwegen hatte machen müssen. Früher oder später würde sich dieses Gefühl wieder legen, dann konnte er sie sich immer noch über die Schulter werfen und Rym kam doch noch rechtzeitig zum Abendessen. Vielleicht ließ er sie noch den Hügel hinauf krauchen und dann... Mal sehen. Er warf dem Söldner einen kurzen Seitenblick zu. „Du kannst schon vorgehen, wenn du willst. Wir haben sie ja nun gefunden, den Rest schaffe ich auch alleine.“
Dieses verdammte Fieber machte sie wahnsinnig. Der Schmerz (und das damit für sie viel zu niedrige Tempo) waren eine Sache… aber dieses Fieber zerrte an ihren letzten Kräften. Und davon konnte sie so viel herunter schlucken, wie sie wollte, es würde ein einfaches sein, ihr anzusehen, wie erschöpft sie war. Auch das wäre vermutlich kein Problem, wenn sie sich zwischendurch eine Pause gönnen würde, nur… mit diesen beiden… Anhängseln in ihrem Nacken war das etwas anderes. Zairyms Frage hatte sie unbeantwortet gelassen, sich nur darauf konzentriert, hier endlich weg zu kommen. Wenn sie sich schon keine Nacht vor dem Bordell drücken konnte, dann wollte sie einfach nur diesen Weg hinter sich bringen. Sie glaubte, die Blicke der beiden auf sich zu spüren, versuchte dieses nagende Gefühl jedoch irgendwie auszublenden. Sie hörte die Stimmen der beiden Männer, achtete jedoch nicht auf ihre Worte. Mit dem nächsten Gedanken war Shanaya stehen geblieben, versuchte einige Male tief durch zu atmen, um den müden Körper zu beruhigen. Ihr heller Blick wanderte suchend umher, bis sie erkannte, wonach sie gesucht hatte. Drei kleine Stände unter einem Vordach, was sie von ihrem Punkt aus sehen konnte, lag bei zumindest einem Stand genau das aus, was sie suchte. Ohne noch einen Moment zu zögern setzte die junge Frau sich wieder in Bewegung, biss dabei fest die Zähne aufeinander. Während ihre eine Hand sich an die Krücke klammerte, kramte die andere bereits in ihrer Tasche, bis sie zwei kühle Münzen an ihren Fingern spürte und diese hervor holte. Bei dem Stand, der jede Menge Obst und Gemüse ausgelegt hatte, warf sie dem Mann, der sie mit verschränkten Armen skeptisch anblickte, das Geld zu, ohne sich weiter um ihn zu kümmern. Einen Apfel steckte sie in ihre Tasche, einen weiteren behielt sie in der Hand und humpelte fest entschlossen weiter, um kurz danach stehen zu bleiben und sich an eine Wand zu lehnen. Zuerst nahm die junge Frau noch einen tiefen Atemzug, ehe sie ein Stück von dem Apfel abbiss. Die zwei Männer beachtete sie nicht. Sie sollten ruhig vor gehen.
Nun er war vielleicht nicht mehr so wütend, wie noch in der Nähstube, aber gänzlich verraucht war seine Wut auf die kleine Königin auch nicht. Rym wollte wirklich tapfer sein und sich einen Kommentar verkneifen, aber er merkte schon, wie er den Mund öffnete, um Luciens Worte zu kommentieren. Was sollte er auch sonst tun? Anders konnte er sich gerade ja nicht unterhalten. Doch statt etwas zu sagen, hob er eine Hand an den Mund und räusperte sich nur. Das war eine große Leistung für ihn, was niemand von den beiden hier anwesenden zu schätzen wissen würde. Sie kannten ihn immerhin nicht. Aber wieso sollte der Dunkelhaarige auch kommentieren, dass ihm die zukünftige Frau des Commodore leidtat? Oder ob Lucien noch einmal Unterricht darin benötigtige, wie man eine Frau richtig behandelte? Nein, er wollte die Wut des jungen Mannes nicht wieder entfachen, denn wahrscheinlich würde es schon reichen, die kleine Königin nur weiter zu beobachten. Statt also die zukünftige Braut zu bemitleiden, schüttelte Rym nur seinen Kopf auf Luciens nächste Worte, während er Shanaya dabei beobachtete, wie sie um die Ecke humpelte und...sich einen Apfel kaufte. „Nein, ich denke, ich bleibe lieber hier. Ich habe das Gefühl, dass unsere kleine Königin hier dich heute vermutlich doch noch dazu bringen wird, ihr den Hals umzudrehen.“ Abschätzend ließ er den Blick über das Mädchen wandern, dass demonstrativ ignorant darauf wartete, dass die beiden Männer sie überholten. Stattdessen blieb Rym stehen und verschränkte halbgrinsend wieder die Arme. „Ich hoffe, Essen ist jetzt nicht deine Ausrede dafür, eine Pause zu machen, weil du nicht mehr kannst?“, scherzte er fragend.
Lucien bemerkte durchaus, dass dem Söldner ein entsprechender Kommentar auf der Zunge lag, den er letztlich doch hinunter schluckte. Nur aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie der Ältere den Mund öffnete, ihn unverrichteter Dinge wieder schloss und das Ganze in einem Räuspern erstickte. Nur zu gern hätte der junge Captain ihn dazu angehalten, sich doch auszusprechen – er würde ihm schon nicht den Kopf abreißen – entschied sich dann allerdings dagegen. War vielleicht besser so. Auf Rym konzentrierte sich seine Wut zwar nicht, aber dass seine Zündschnur gerade ganz besonders kurz war, konnte Lucien schließlich nicht leugnen. Er zuckte also nur gleichgültig mit den Schultern, richtete seine Aufmerksamkeit wortlos auf Shanaya, die derweil einen Stand mit Obst und Gemüse ansteuerte, sich dort ein Paar Äpfel kaufte und an der nahegelegenen Wand schließlich eine Rast einlegte. Augenblicklich runzelte der 21-Jährige die Stirn, doch bevor er etwas sagen konnte, kam Rym ihm zuvor. Lucien blieb ebenfalls stehen, verschränkte die Arme wieder vor der Brust und sah Shanaya direkt in die himmelblauen Augen. „Na, nur keine Müdigkeit vorschützen. Dein Bein war ja schließlich gesund genug für einen Stadtspaziergang, dann schaffst du das Bisschen Weg bis zum Bordell ja auch noch.“ Nur kurz huschte sein Blick zu den Ständen, die die Schwarzhaarige hinter sich gelassen hatte. „Oder soll ich Rym vielleicht noch schnell für’s Abendessen einkaufen schicken? Dann kannst du dich doch ein bisschen ausruhen.“ Wobei in diesem letzten Satz ein unausgesprochenes und umso schneidenderes ‚was du natürlich nicht nötig hast‘ mitschwang.
Es wäre Shanaya am liebsten gewesen, wenn die beiden einfach voraus gingen. Ohne sich selbst abzuwerten, war sie in diesem Moment nicht mehr als ein aufhaltendes Anhängsel. Aber man tat ihr diesen Gefallen natürlich nicht, vorerst zumindest. Shanaya biss erneut von dem Apfel ab, richtete den Blick dann auf Zairym und kommentierte seine Worte mit einem leisen Brummen, antwortete dann mit ruhig Stimme, noch ohne Kälte darin. „Ich habe eine ganze Weile nichts gegessen… Da kommt mir das nur gelegen.“ Lucien war der Nächste, der das Wort ergriff und das, was er sagte, schnitt deutlich tiefer. Seine Worte verletzten auf eine Art, die der jungen Frau vollkommen unbekannt war. Und so wunderte es sie nicht, dass sie dem gegenüber eine kalte Mauer errichtete. „Ich komme auch allein sehr gut zurecht. Vielen Dank.“ Mehr erwiderte auf die Worte ihres Captains nicht. Ihre Stimme war nach wie vor ruhig, nur schwang jetzt eine deutliche Kälte darin mit. Ihr Herz schlug einige Takte schneller, dieses eine Wort betonte die Schwarzhaarige jedoch vollkommen bewusst. Sie war fast ihr ganzes Leben vollkommen allein zurecht gekommen. Und scheinbar würde sie sich auch allein durch den Rest ihres Lebens kämpfen müssen. Eine Tatsache, mit der sie sich früh abgefunden hatte. Die junge Frau biss noch einmal von ihrem Apfel ab, auch wenn ihr der Hunger gerade vergangen war. Ihr Blick ruhte abwartend auf Lucien.
Er hatte die perfekte Antwort auf ihre Worte parat. Er wollte sie sagen, wollte es so unbedingt, aber Lucien schien viel lieber Kleinholz aus dem Ego der kleinen Königin machen zu wollen, als sich Ryms wundervollen, pointierten Kommentar auf Shanayas Worte anzuhören. Nur mit Mühe unterdrückte der Dunkelhaarige ein Stöhnen, dafür aber nicht sein Augenrollen. Und das Mädchen machte es dann auch nicht viel besser, mit ihren kalten Worten. Entnervt warf der Mann die Hände in die Luft und war kurz davor sich wirklich auf den Weg zu machen und für das Abendessen einzukaufen, nur damit er den beiden Streithähnen entkommen konnte. DAS, und wirklich nur das, war der Grund, warum er sich von Menschen, die tiefere Gefühle in einem wecken konnten, fern hielt. Man fing an, sich zu sorgen, begann sich Gedanken um den anderen zu machen und wollte, dass dem anderen nichts geschah. Sein Herz zog sich zusammen und er wusste, was das zu bedeuten hatte. Menschen, die einem wichtig waren, brachten für gewöhnlich nur Schmerzen mit sich. Wieder verdrehte er die Augen, verscheuchte seine Gefühle und brachte gleichzeitig zum Ausdruck, was er von dem Streit der beiden hielt, da es ihn nicht mehr gänzlich amüsierte. Sein Blick fiel dabei aber eher auf Shanaya, da er trotz der harschen Worte, verstand, was Lucien sagen wollte. „Schätzchen, hättest du nicht deinen Stadtrundgang gemacht, hättest du sehr wohl essen können. Und das früher, als jetzt. Allein kommst du in diesem Falle nämlich nicht zu recht.“ Er sah zu seinem vorläufigen Captain. „Und auch wenn du sie für ihre bescheuerten Handlungen leiden lassen willst, Commodore, das Mädchen braucht einen Arzt. Eher früher als später.“ Er machte eine ausladende Handbewegung, als wolle er den Jüngeren auffordern, sich der Wildkatze zu nähren.
Die Kälte in ihrer Stimme prallte ungehört an ihm ab. Verletzte weder, noch berührte es ihn irgendwie. Auch wenn ein kleiner Teil in ihm wusste, zumindest ahnte, dass er sie getroffen hatte und das ihre Art war, sich zu schützen. Doch mit nur einem einzigen Wort traf die Schwarzhaarige genau den Nerv, der ihn innerhalb eines Herzschlags schlicht explodieren ließ und ihm jegliches Verständnis und jegliche Selbstbeherrschung nahm. Die tiefgrünen Augen verdunkelten sich vor unverhohlenem Zorn. Ohne darüber nachzudenken, was er sagte, was es bedeuten mochte, fuhr Lucien sie an: „Oh, ich weiß, Shanaya. Denn du wirst ja nicht müde, genau das immer wieder zu betonen! Und wehe den armen Idioten, die dich tatsächlich gern haben und ums Verrecken nicht wollen, dass dir etwas passiert. Denn was interessiert’s dich?!“ Ihm war durchaus klar, dass er ihr zumindest in diesem letzten Punkt Unrecht tat. Dass es sie durchaus interessieren würde – würde sie es nur begreifen. Aber das war nichts, was er in diesem Augenblick hätte kontrollieren können. Denn ihr ständiges ‚ich komme allein zurecht‘ trieb ihn schier in den Wahnsinn. Natürlich kam sie das! Niemand bezweifelte das – er am allerwenigsten. Aber sie begriff einfach nicht, dass es darum gar nicht ging!
Also war alles, was er tun konnte, sich abzuwenden. Sie nur einen Moment lang nicht anzusehen, bevor er etwas sagte oder tat, was er später bereute. Wäre Rym nicht da gewesen, um das Wort zu ergreifen, um einzugreifen in dem Versuch, zwischen ihnen zu schlichten – wer weiß, was der Dunkelhaarige dann getan hätte. So raufte er sich in dem Bemühen, die aufwallenden Emotionen in seiner Brust halbwegs zu kontrollieren nur die Haare, zwang sich, tief Luft zu holen. Der Söldner hatte Recht. So sehr Lucien auch das Bedürfnis trieb, sie aus lauter Wut weiter zu bestrafen, wusste er, dass er ihr damit nur schaden würde. Und das war trotz allem nicht das, was er wollte. Mühsam beherrscht rieb er sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel, schloss für einen Moment die Augen, dann warf er Rym einen kurzen Seitenblick zu und drehte sich wieder zu Shanaya um, sah sie nur einen Moment lang schweigend an, bevor er ihr mit einem Wink bedeutete, zu ihm zu kommen, damit er sie den Rest der Strecke tragen konnte und sie ihr verletztes Bein ausruhte. „Komm her“, forderte er sie auf. Sehr viel ruhiger, sehr viel weniger wütend als gerade eben noch. Das einzige Anzeichen dafür, dass er bereit war, nachzugeben, wenn sie das gleiche tat.
Nur einen kurzen Moment huschten die blauen Augen zu dem Söldner herum, viel Aufmerksamkeit schenkte Shanaya dem Mann jedoch nicht. Was er dachte und tat, war ihr, solange er nicht näher zu ihr kam, ziemlich egal. Lucien dagegen… aber nach wie vor machte keiner Anstalten, die einfach hier zu lassen. Der Weg zur nächsten Taverne war kürzer als der zum Bordell. Vielleicht wussten die beiden das. Der Gedanke verblasste jedoch einen Moment lang, als Lucien den Dolch, mit dem er zuvor zugestochen hatte, noch einmal herum drehte. Innerlich sackte Shanaya in sich zusammen, die Kälte blieb jedoch in den blauen Augen bestehen. Nur das verräterische Glitzern von Tränen milderte dieses Bild leicht ab. Ihr Captain wandte sich ab und die Schwarzhaarige biss sich auf die Unterlippe, versuchte die Tränen herunter zu schlucken. Zairyms Worte ließen sie dem Dunkelhaarigen nur einen weiteren Blick zu werfen. Was wusste er schon? Er kannte sie kein Bisschen, kannte nicht ihre Beweggründe. Eine Antwort blieb sie ihm dennoch schuldig. Sie hatte längst einen Haken hinter die Sache gemacht, den Apfel neben sich auf der Mauer abgelegt und nach ihrer Krücke gegriffen. Wenn sie nicht gingen, würde sie ihnen diesen Part eben abnehmen. Verletzt und unendlich müde. Zairyms Worte an Lucien nahm sie nur halbherzig wahr. Sie brauchte keinen Arzt, sie brauchte niemanden. Nur sich allein. Denn scheinbar konnte sie sich auch nur auf sich selbst verlassen.
Bestimmt, sofern ihr das möglich war, humpelte die Schwarzhaarige einen Schritt nach vorn, eigentlich bereit, keinem von beiden noch einen Blick zu zu werfen. Sie sollten sie in Ruhe lassen. Sie hatte sich nicht einmal die Tränen aus den Augen gewischt, wollte einfach nur hier weg. Als Lucien sich doch wieder herum wandte (Shanaya hatte gehofft, er würde jetzt einfach gehen), spannte sich die junge Frau automatisch an, hob den Blick zu dem Mann. Bereit für noch solch eine Ansprache. Einen zweiten Dolch in der Brust. Genau das lag in ihrem Blick, neben der Kühle und ungeweinten Tränen. Aber im Blick ihres Captains hatte sich etwas verändert. Etwas, von dem Shanaya nicht wusste, wie sie es zuordnen sollte. Beinahe wäre sie wieder einen Schritt zurück gewichen, es mischte sich jedoch nur Verwirrung auf die Züge der jungen Frau. Mit seinen Worten hob sich kaum merklich eine ihrer Augenbrauen und (für sie vollkommen ungewohnt) musterte sie verunsichert den Dunkelhaarigen. In ihrem Inneren lieferten sich Verstand und Herz einen wilden Kampf, mit dem Shanaya nur einige Herzschläge inne hielt, Lucien direkt anblickte. Es dauerte einige Momente, bis sich die Schwarzhaarige sich wieder regte, sich in Bewegung setzte. Zuerst nicht ersichtlich, ob sie nun einen anderen Weg ging, oder ob sie zu Lucien trat. Bis sie direkt vor dem Dunkelhaarigen stand, sich fast zögerlich gegen ihn lehnte und sich mit der freien Hand an seinem Hemd fest hielt.
Nachdenklich presste Rym die Lippen zusammen, hin und her gerissen, ob er gerade wirklich das richtige getan hatte. Oh, Lucien fuhr die kleine Königin nicht mehr an oder ließ seine Wut an ihr aus, aber auf der anderen Seite, hätte der Mann wirklich gern gewusst, wie es zwischen den beiden ausgegangen wäre, wenn er sich nicht schlichtend eingemischt hätte. Das er überhaupt als Schlichter fungierte, überraschte ihn schon. Oder vielleicht auch eher die Tatsache, dass er in dieser Rolle hatte helfen können. Zumindest einem der beiden Streithähne. Es kam kein Kommentar von Seiten der Wildkatze, außer der Tatsache, dass sie sich anscheinend doch ihren Weg allein bahnen wollte. Seine Worte waren dann wohl an ihr abgeperlt wie Wasser an einem Schiff, was ihn nur dazu brachte die Augen zu verdrehen und schließlich die Arme vor der Brust zu verschränken. Nicht allein wegen Shanaya, sondern weil er nun doch ungeduldig wurde und sich fragte, was genau er hier tat, wenn die Person, die Hilfe benötigte, sich so penetrant weigerte, die Hilfe anzunehmen. Sein Blick fiel auf Lucien, der seine Hand dem Mädchen entgegenstreckte und Rym schlug mit dem Zeigefinger auf seinen Ellenbogen, während er darauf wartete, dass die Navigatorin das Angebot annahm oder ausschlag. Als sie es endlich zu dem Captain geschafft hatte, klatschte Rym in die Hände, allein um diesen unglaublichen Moment zu würdigen. „Sehr schön. Da das also geklärt ist, können wir jetzt gehen? Ich bin mir sicher, wir haben alle noch etwas schöneres vor, als uns zu streiten, zu ignorieren oder uns überflüssig zu fühlen, richtig?“ Damit drehte er sich um und schlug den Weg in Richtung Bordell ein.
Hätte sie nicht innegehalten und sich auf seine Aufforderung hin nicht wieder zu ihnen umgedreht, hätte Lucien sie sich geholt. Er hätte jede ihrer Grenzen übertreten können und es hätte ihn nicht gekümmert, ob sie es wollte, oder nicht. Er war immer noch wütend genug, damit es ihm egal war, ob sie nach ihm schlug oder kratzte oder trat oder er ihr Vertrauen brach, wenn er sie sich tatsächlich über die Schultern warf und zurück ins Bordell zwang. Doch ein kleiner, deutlich sanfterer Teil ihn ihm hoffte, dass Shanaya ihm entgegen kam. Er bot ihr eine Wahl, weil er wusste, wie stolz sie war und weil er sie eben nicht verletzen wollte. Nicht wirklich. Egal, ob sie nun begriffen hatte, weshalb er überhaupt so wütend auf sie war, oder auch nicht. Also wartete Lucien – bis die Schwarzhaarige sich wieder in Bewegung setzte und schließlich deutlich wurde, dass sie zu ihm kam. Erst dann löste sich seine Anspannung, löste sich auch seine Wut ein wenig auf. Der Ausdruck in ihren Augen machte ihn weicher, versöhnlicher und er stieß mit einem ergebenen, aber milderen Seufzen die Luft aus, kaum dass sie ihn erreicht hatte. Die Wärme ihres Körpers drang durch seine Kleidung, als sie sich gegen ihn lehnte und mit einer Vorsicht, die im krassen Widerspruch zu seiner bisherigen Wut stand, legte er einen Arm unter ihre Knie und den anderen an ihren Rücken, um sie hochzuheben, ohne ihr dabei mehr als nötig wehzutun. Nur einen kurzen Moment lang begegnete er dabei ihrem Blick, dann sah er zu Rym und nickte auf die Krücke. „Kannst du die nehmen?“ Auf die restlichen Worte des Söldners ging er nicht weiter ein, auch wenn sie ihm ein flüchtiges Schmunzeln auf die Lippen lockten. Gut möglich, dass der Bärtige gar nicht ahnte, was seine Gegenwart bewirkt hatte. Doch Lucien war ihm durchaus dankbar.
Shanaya wusste nicht, ob sie glücklich mit ihrer Entscheidung war. Eine Antwort darauf konnte ihr vermutlich auch niemand geben. Aber sie hatte sich entschieden – auch wenn die Anspannung damit noch längst nicht von ihr abgefallen war. Der Gedanke, sich in irgendeiner Taverne unter einer Decke zusammen zu rollen, war noch immer unglaublich verlockend. Aber den Weg dorthin hätte sie auch erst einmal schaffen müssen. Nun stand sie da, gegen Lucien gelehnt. Unsicher über ihre Entscheidung, inzwischen einfach zu müde für jeglichen Widerstand. Wenn sie es genau nahm… blieb der jungen Frau nichts anderes übrig. Shanaya hob vollkommen bewusst nicht den Blick zum Gesicht ihres Captains, erst, als er sie hoch hob und den Blick kurz zu ihr senkte. Ein Augenblick, ehe ihr Kopf erschöpft gegen seine Schulter sank, während sich ihre Hand noch am Stoff seines Hemdes fest hielt. Ohne noch weiter über irgendeine Entscheidung nachzudenken, schloss die Schwarzhaarige die blauen Augen, versuchte jede Grübelei zu unterdrücken. Zairyms Worte nahm sie wahr, schnaufte jedoch nur leise als Antwort, die er vermutlich eh nicht vernehmen würde. Sie regte sich auch nicht groß, ließ die Augen geschlossen, atmete lautlos durch. „Danke.“ Nur ein Hauchen, ein Wispern. Vielleicht hörte Lucien es, vielleicht auch nicht. Shanayas Geist war zu erschöpft, um sich darüber Gedanken zu machen. Trotzdem konnte sie sich etwas entspannen, auch wenn die Verwirrung grob an ihren Nerven zehrte.
In eisigem Schweigen begegnete Lucien dem Blick der Schwarzhaarigen. Er sah den Anflug von Trotz darin, registrierte ebenso, wie sie ihm für einen Moment noch standhielt und sich dann abwandte, um sich der Verletzung an ihrem Bein zu widmen. Er bemerkte, wie ihre Hände vor Erschöpfung zitterten, sah zu, wie sie sich mühsam ein wenig aufrichtete, um ihre Hose vorsichtig über den Verband zu ziehen und mit bebenden Fingern zu verschließen. Wie sie nach ihrem Krückstock griff und sich schwer darauf stützte. Wie sie die Augen schloss und tief Luft holte, um die Kraft für das zu schöpfen, was er ihr gerade aufzwang. Er sah all das und doch berührte es ihn in keinster Weise. Mitgefühl und Verständnis war etwas, das sie in diesem Moment nicht von ihm erwarten konnte. Die tiefgrünen Augen verdunkelten sich ein Stück weit. Düstere Wut lag darin, als er Shanayas Blick ein letztes Mal erwiderte. „Du hast keine Ahnung davon, was ich wirklich will, Shanaya“, stieß er mit einem leisen Grollen in der Stimme hervor. Worte, die eigentlich noch so viel weiter reichten, als über die Frage, wie er sie alle zurück zum Bordell kriegen wollte. Doch er wandte sich nur um, nickte dem Söldner aus der Bewegung heraus kurz zu und bedeutete ihm schweigend, darauf zu achten, dass sie es bis zur Tür schaffte. Selbst warten tat der Dunkelhaarige jedoch nicht. Er verließ die Schneiderei auf demselben Weg, wie sie auch gekommen waren, trat hinaus auf die staubige Seitengasse und ließ die Tür hinter sich zufallen. Zu ihm aufzuschließen würde mit Shanayas Geschwindigkeit ein paar Sekunden dauern. Nur ein paar Sekunden für sich allein. Lucien stieß die Luft aus, fuhr sich mit der Hand erschöpft über die Augen, schloss für einen Moment die Lider, um sich ganz auf das wütende Brodeln in seinem Inneren zu konzentrieren. Wut vor Sorge. Wut über ihren Starrsinn. Wut über ihre Ignoranz. Aber es ging ihr gut. Es ging ihr gut... Sie lebte noch. Sie war noch da. Mit gespreizten Fingern fuhr Lucien sich durch die Haare, machte einen Schritt weiter hinein in die Gasse und wandte sich dann wieder halb der Schneiderei zu, um auf seine beiden Begleiter zu warten. Immerhin. Er wartete.
Zairym antwortete nicht auf Shanaya Frage, die sowieso mehr rhetorisch über ihre Lippen gekommen war. Vielleicht auch, um sich nicht all zu sehr auf Lucien zu konzentrieren, dessen kalter Blick ihre innere Unruhe nur anfachte. Trotzdem hielt sie dem Blick des Dunkelhaarigen noch einen Moment Stand, hielt die Luft bei seinen Worten an und schluckte mit aller Kraft eine Antwort herunter. In einem anderen Moment hätte er sich sicher etwas Passendes anhören dürfen, jetzt allerdings… glaubte die Schwarzhaarige nicht die Kraft für einen Streit aufbringen zu können. Sie schwieg also, richtete den müden Blick zu dem Söldner herum, nahm nur im Augenwinkel war, wie Lucien die Schneiderei verließ. Die Worte des Mannes ließen die junge Frau ruhig eine Augenbraue heben, ehe sie zu einer Antwort ansetzte. „Du kannst auch schon ruhig vorgehen, wenn du es so eilig hast.“ Abschätzend ruhten die blauen Augen einen Moment auf Zairym, dann richtete sie sich in Richtung Tür. Sie war zu müde, um ihre Gedanken zu ordnen, um sich mit manchen Gedanken näher zu befassen. Sie wollte nur ihre Ruhe. Die Krücke fest umklammert stieß sie die Tür also auf, kämpfte sich auf die Gasse davor und spürte schon nach dieser kurzen Strecke, wie ihr Körper sich gegen die Anstrengung wehrte. Kein weiterer Blick galt ihrem Captain, Shanaya biss nur die Zähne fester aufeinander, kämpfte sich Schritt für Schritt vorwärts. Sie würde das auch allein schaffen. Sie brauchte niemanden, um zurecht zu kommen. Immerhin hatte sie es auch bis hierher allein geschafft. Zumindest redete sie sich das in diesem Moment ein, um sich darauf konzentrieren zu können, den Weg hinter sich zu bringen, ohne vor Erschöpfung noch einmal im Dreck zu landen.
Seine Worte blieben unkommentiert, bis auf die Tatsache, dass Shanaya sich weiter langsam wie eine Schnecke bereit machte hier zu verschwinden und der Commodore fast wortlos aus dem Laden verschwand. Rym schürzte für einen Augenblick die Lippen. In seinem Kopf entstand ein Bild von einem zweirädrigen Wagen, der auf einmal noch ein drittes bekommen hatte und nun über unebenen Boden ruckelte.
Als würde er es aufgeben, zwischen den beiden Rädern zu vermitteln, hob er die Hände und wedelte kurz damit herum. „In Ordnung, dann beachten wir einfach Zairym nicht, der versucht hat dafür zu sorgen, dass ihr euch nicht gegenseitig umbringt.“ Das Schließen der Tür, als Lucien den Raum endgültig verließ, war Zeichen genug und Rym nickte nur zustimmen. Als Shanaya dann aber ebenfalls auf ihn zu, nein, auf die Tür, zukam, nein, eher zukroch, zuckte eine seiner Augenbrauen in die Höhe und er zuckte fast, als täte es ihm wirklich leid, mit den Schultern. „Ich habs zwar eilig mich schöneren Dingen als eurem Gezänk zu widmen, aber ich erfülle immer meine Aufträge, kleine Königin,“ kurz überlegte er, „Es sei denn, du kannst mir mehr geben, als der Commodore?“ Zwar sagte er ihr das, aber kaum hatte er geendet, da stieß sie auch schon die Tür auf und war nach draußen verschwunden. Rolle, rolle, mein drittes Rad. Rym schüttelte belustigt den Kopf und folgte dem Mädchen, das mit stoisch, stolzer Haltung an Lucien vorbei ging und versuchte sich ihren Weg zurück zum Bordell zu bahnen. Mit einer Schnelligkeit...Rym seufzte, als er neben Lucien stehen blieb. Es juckte ihn in den Fingern, das Mädchen einfach hochzuheben, damit sie schneller wieder zurück kamen, aber er wollte sich ehrlich gesagt, nicht seine Sachen mit Blut einsauen. Das würde er nie wieder ganz rauskriegen. Sein Blick fiel auf den Captain, der, so hoffte der Braunhaarige, sich in den paar Minuten allein, etwas beruhigen konnte. „Es wäre vielleicht angebracht, sie in Brautmanier zu tragen, Commodore. Nur ein Vorschlag, damit wir nicht irgendwann Rückwärtslaufen, so schnell, wie wir voran kommen.“
Auch wenn sich nur wenige Augenblicke später die Tür zur Schneiderei knarrend hinter ihm öffnete, reichte die Zeit allein zumindest, um sich wieder einigermaßen in den Griff zu bekommen. Shanaya nicht mehr unmittelbar vor sich zu haben, half dabei durchaus, und als er nun den Blick hob, um ihr und Rym entgegenzusehen, nahm er mit kühlem Gleichmut hin, dass sie ihn beharrlich ignorierte. Er ließ die Schwarzhaarige an sich vorbei humpeln – nicht weniger verärgert über ihren störrischen Trotz, als gerade eben schon, aber zumindest ohne dass ein weiterer Wutanfall in ihm hochkochte – und wartete mit vor der Brust verschränkten Armen, bis der Söldner zu ihm aufgeschlossen hatte. Die Schwarzhaarige übernahm derweil die Spitze. In einer Geschwindigkeit, die es Lucien erlaubte, demonstrativ stehen zu bleiben, zu warten, Abstand zwischen sie zu bringen und schließlich in gemächlichem Tempo zu folgen, ohne sich Sorgen machen zu müssen, er könne sie aus den Augen verlieren. Erst dann löste er die Arme wieder und wandte sich in merklich beherrschterem Ton an seinen Begleiter. „Wenn du mit Brautmanier meinst, sie mir über die Schulter zu werfen und dort baumeln zu lassen, bis wir zuhause sind – sicher. Aber jetzt noch nicht.“ Die tiefgrünen Augen ruhten dabei unverwandt auf Shanayas Rücken. Seine Züge blieben ernst und angespannt, ohne jedes Lächeln. Er genoss es nicht, sie unter dieser Anstrengung leiden zu sehen. Er empfand auch keine Genugtuung dabei. Aber er war wütend genug, um sie an ihre Grenze treiben zu wollen. Wütend genug, um sie für die Sorge bestrafen zu wollen, die er sich ihretwegen hatte machen müssen. Früher oder später würde sich dieses Gefühl wieder legen, dann konnte er sie sich immer noch über die Schulter werfen und Rym kam doch noch rechtzeitig zum Abendessen. Vielleicht ließ er sie noch den Hügel hinauf krauchen und dann... Mal sehen. Er warf dem Söldner einen kurzen Seitenblick zu. „Du kannst schon vorgehen, wenn du willst. Wir haben sie ja nun gefunden, den Rest schaffe ich auch alleine.“
Dieses verdammte Fieber machte sie wahnsinnig. Der Schmerz (und das damit für sie viel zu niedrige Tempo) waren eine Sache… aber dieses Fieber zerrte an ihren letzten Kräften. Und davon konnte sie so viel herunter schlucken, wie sie wollte, es würde ein einfaches sein, ihr anzusehen, wie erschöpft sie war. Auch das wäre vermutlich kein Problem, wenn sie sich zwischendurch eine Pause gönnen würde, nur… mit diesen beiden… Anhängseln in ihrem Nacken war das etwas anderes. Zairyms Frage hatte sie unbeantwortet gelassen, sich nur darauf konzentriert, hier endlich weg zu kommen. Wenn sie sich schon keine Nacht vor dem Bordell drücken konnte, dann wollte sie einfach nur diesen Weg hinter sich bringen. Sie glaubte, die Blicke der beiden auf sich zu spüren, versuchte dieses nagende Gefühl jedoch irgendwie auszublenden. Sie hörte die Stimmen der beiden Männer, achtete jedoch nicht auf ihre Worte. Mit dem nächsten Gedanken war Shanaya stehen geblieben, versuchte einige Male tief durch zu atmen, um den müden Körper zu beruhigen. Ihr heller Blick wanderte suchend umher, bis sie erkannte, wonach sie gesucht hatte. Drei kleine Stände unter einem Vordach, was sie von ihrem Punkt aus sehen konnte, lag bei zumindest einem Stand genau das aus, was sie suchte. Ohne noch einen Moment zu zögern setzte die junge Frau sich wieder in Bewegung, biss dabei fest die Zähne aufeinander. Während ihre eine Hand sich an die Krücke klammerte, kramte die andere bereits in ihrer Tasche, bis sie zwei kühle Münzen an ihren Fingern spürte und diese hervor holte. Bei dem Stand, der jede Menge Obst und Gemüse ausgelegt hatte, warf sie dem Mann, der sie mit verschränkten Armen skeptisch anblickte, das Geld zu, ohne sich weiter um ihn zu kümmern. Einen Apfel steckte sie in ihre Tasche, einen weiteren behielt sie in der Hand und humpelte fest entschlossen weiter, um kurz danach stehen zu bleiben und sich an eine Wand zu lehnen. Zuerst nahm die junge Frau noch einen tiefen Atemzug, ehe sie ein Stück von dem Apfel abbiss. Die zwei Männer beachtete sie nicht. Sie sollten ruhig vor gehen.
Nun er war vielleicht nicht mehr so wütend, wie noch in der Nähstube, aber gänzlich verraucht war seine Wut auf die kleine Königin auch nicht. Rym wollte wirklich tapfer sein und sich einen Kommentar verkneifen, aber er merkte schon, wie er den Mund öffnete, um Luciens Worte zu kommentieren. Was sollte er auch sonst tun? Anders konnte er sich gerade ja nicht unterhalten. Doch statt etwas zu sagen, hob er eine Hand an den Mund und räusperte sich nur. Das war eine große Leistung für ihn, was niemand von den beiden hier anwesenden zu schätzen wissen würde. Sie kannten ihn immerhin nicht. Aber wieso sollte der Dunkelhaarige auch kommentieren, dass ihm die zukünftige Frau des Commodore leidtat? Oder ob Lucien noch einmal Unterricht darin benötigtige, wie man eine Frau richtig behandelte? Nein, er wollte die Wut des jungen Mannes nicht wieder entfachen, denn wahrscheinlich würde es schon reichen, die kleine Königin nur weiter zu beobachten. Statt also die zukünftige Braut zu bemitleiden, schüttelte Rym nur seinen Kopf auf Luciens nächste Worte, während er Shanaya dabei beobachtete, wie sie um die Ecke humpelte und...sich einen Apfel kaufte. „Nein, ich denke, ich bleibe lieber hier. Ich habe das Gefühl, dass unsere kleine Königin hier dich heute vermutlich doch noch dazu bringen wird, ihr den Hals umzudrehen.“ Abschätzend ließ er den Blick über das Mädchen wandern, dass demonstrativ ignorant darauf wartete, dass die beiden Männer sie überholten. Stattdessen blieb Rym stehen und verschränkte halbgrinsend wieder die Arme. „Ich hoffe, Essen ist jetzt nicht deine Ausrede dafür, eine Pause zu machen, weil du nicht mehr kannst?“, scherzte er fragend.
Lucien bemerkte durchaus, dass dem Söldner ein entsprechender Kommentar auf der Zunge lag, den er letztlich doch hinunter schluckte. Nur aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie der Ältere den Mund öffnete, ihn unverrichteter Dinge wieder schloss und das Ganze in einem Räuspern erstickte. Nur zu gern hätte der junge Captain ihn dazu angehalten, sich doch auszusprechen – er würde ihm schon nicht den Kopf abreißen – entschied sich dann allerdings dagegen. War vielleicht besser so. Auf Rym konzentrierte sich seine Wut zwar nicht, aber dass seine Zündschnur gerade ganz besonders kurz war, konnte Lucien schließlich nicht leugnen. Er zuckte also nur gleichgültig mit den Schultern, richtete seine Aufmerksamkeit wortlos auf Shanaya, die derweil einen Stand mit Obst und Gemüse ansteuerte, sich dort ein Paar Äpfel kaufte und an der nahegelegenen Wand schließlich eine Rast einlegte. Augenblicklich runzelte der 21-Jährige die Stirn, doch bevor er etwas sagen konnte, kam Rym ihm zuvor. Lucien blieb ebenfalls stehen, verschränkte die Arme wieder vor der Brust und sah Shanaya direkt in die himmelblauen Augen. „Na, nur keine Müdigkeit vorschützen. Dein Bein war ja schließlich gesund genug für einen Stadtspaziergang, dann schaffst du das Bisschen Weg bis zum Bordell ja auch noch.“ Nur kurz huschte sein Blick zu den Ständen, die die Schwarzhaarige hinter sich gelassen hatte. „Oder soll ich Rym vielleicht noch schnell für’s Abendessen einkaufen schicken? Dann kannst du dich doch ein bisschen ausruhen.“ Wobei in diesem letzten Satz ein unausgesprochenes und umso schneidenderes ‚was du natürlich nicht nötig hast‘ mitschwang.
Es wäre Shanaya am liebsten gewesen, wenn die beiden einfach voraus gingen. Ohne sich selbst abzuwerten, war sie in diesem Moment nicht mehr als ein aufhaltendes Anhängsel. Aber man tat ihr diesen Gefallen natürlich nicht, vorerst zumindest. Shanaya biss erneut von dem Apfel ab, richtete den Blick dann auf Zairym und kommentierte seine Worte mit einem leisen Brummen, antwortete dann mit ruhig Stimme, noch ohne Kälte darin. „Ich habe eine ganze Weile nichts gegessen… Da kommt mir das nur gelegen.“ Lucien war der Nächste, der das Wort ergriff und das, was er sagte, schnitt deutlich tiefer. Seine Worte verletzten auf eine Art, die der jungen Frau vollkommen unbekannt war. Und so wunderte es sie nicht, dass sie dem gegenüber eine kalte Mauer errichtete. „Ich komme auch allein sehr gut zurecht. Vielen Dank.“ Mehr erwiderte auf die Worte ihres Captains nicht. Ihre Stimme war nach wie vor ruhig, nur schwang jetzt eine deutliche Kälte darin mit. Ihr Herz schlug einige Takte schneller, dieses eine Wort betonte die Schwarzhaarige jedoch vollkommen bewusst. Sie war fast ihr ganzes Leben vollkommen allein zurecht gekommen. Und scheinbar würde sie sich auch allein durch den Rest ihres Lebens kämpfen müssen. Eine Tatsache, mit der sie sich früh abgefunden hatte. Die junge Frau biss noch einmal von ihrem Apfel ab, auch wenn ihr der Hunger gerade vergangen war. Ihr Blick ruhte abwartend auf Lucien.
Er hatte die perfekte Antwort auf ihre Worte parat. Er wollte sie sagen, wollte es so unbedingt, aber Lucien schien viel lieber Kleinholz aus dem Ego der kleinen Königin machen zu wollen, als sich Ryms wundervollen, pointierten Kommentar auf Shanayas Worte anzuhören. Nur mit Mühe unterdrückte der Dunkelhaarige ein Stöhnen, dafür aber nicht sein Augenrollen. Und das Mädchen machte es dann auch nicht viel besser, mit ihren kalten Worten. Entnervt warf der Mann die Hände in die Luft und war kurz davor sich wirklich auf den Weg zu machen und für das Abendessen einzukaufen, nur damit er den beiden Streithähnen entkommen konnte. DAS, und wirklich nur das, war der Grund, warum er sich von Menschen, die tiefere Gefühle in einem wecken konnten, fern hielt. Man fing an, sich zu sorgen, begann sich Gedanken um den anderen zu machen und wollte, dass dem anderen nichts geschah. Sein Herz zog sich zusammen und er wusste, was das zu bedeuten hatte. Menschen, die einem wichtig waren, brachten für gewöhnlich nur Schmerzen mit sich. Wieder verdrehte er die Augen, verscheuchte seine Gefühle und brachte gleichzeitig zum Ausdruck, was er von dem Streit der beiden hielt, da es ihn nicht mehr gänzlich amüsierte. Sein Blick fiel dabei aber eher auf Shanaya, da er trotz der harschen Worte, verstand, was Lucien sagen wollte. „Schätzchen, hättest du nicht deinen Stadtrundgang gemacht, hättest du sehr wohl essen können. Und das früher, als jetzt. Allein kommst du in diesem Falle nämlich nicht zu recht.“ Er sah zu seinem vorläufigen Captain. „Und auch wenn du sie für ihre bescheuerten Handlungen leiden lassen willst, Commodore, das Mädchen braucht einen Arzt. Eher früher als später.“ Er machte eine ausladende Handbewegung, als wolle er den Jüngeren auffordern, sich der Wildkatze zu nähren.
Die Kälte in ihrer Stimme prallte ungehört an ihm ab. Verletzte weder, noch berührte es ihn irgendwie. Auch wenn ein kleiner Teil in ihm wusste, zumindest ahnte, dass er sie getroffen hatte und das ihre Art war, sich zu schützen. Doch mit nur einem einzigen Wort traf die Schwarzhaarige genau den Nerv, der ihn innerhalb eines Herzschlags schlicht explodieren ließ und ihm jegliches Verständnis und jegliche Selbstbeherrschung nahm. Die tiefgrünen Augen verdunkelten sich vor unverhohlenem Zorn. Ohne darüber nachzudenken, was er sagte, was es bedeuten mochte, fuhr Lucien sie an: „Oh, ich weiß, Shanaya. Denn du wirst ja nicht müde, genau das immer wieder zu betonen! Und wehe den armen Idioten, die dich tatsächlich gern haben und ums Verrecken nicht wollen, dass dir etwas passiert. Denn was interessiert’s dich?!“ Ihm war durchaus klar, dass er ihr zumindest in diesem letzten Punkt Unrecht tat. Dass es sie durchaus interessieren würde – würde sie es nur begreifen. Aber das war nichts, was er in diesem Augenblick hätte kontrollieren können. Denn ihr ständiges ‚ich komme allein zurecht‘ trieb ihn schier in den Wahnsinn. Natürlich kam sie das! Niemand bezweifelte das – er am allerwenigsten. Aber sie begriff einfach nicht, dass es darum gar nicht ging!
Also war alles, was er tun konnte, sich abzuwenden. Sie nur einen Moment lang nicht anzusehen, bevor er etwas sagte oder tat, was er später bereute. Wäre Rym nicht da gewesen, um das Wort zu ergreifen, um einzugreifen in dem Versuch, zwischen ihnen zu schlichten – wer weiß, was der Dunkelhaarige dann getan hätte. So raufte er sich in dem Bemühen, die aufwallenden Emotionen in seiner Brust halbwegs zu kontrollieren nur die Haare, zwang sich, tief Luft zu holen. Der Söldner hatte Recht. So sehr Lucien auch das Bedürfnis trieb, sie aus lauter Wut weiter zu bestrafen, wusste er, dass er ihr damit nur schaden würde. Und das war trotz allem nicht das, was er wollte. Mühsam beherrscht rieb er sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel, schloss für einen Moment die Augen, dann warf er Rym einen kurzen Seitenblick zu und drehte sich wieder zu Shanaya um, sah sie nur einen Moment lang schweigend an, bevor er ihr mit einem Wink bedeutete, zu ihm zu kommen, damit er sie den Rest der Strecke tragen konnte und sie ihr verletztes Bein ausruhte. „Komm her“, forderte er sie auf. Sehr viel ruhiger, sehr viel weniger wütend als gerade eben noch. Das einzige Anzeichen dafür, dass er bereit war, nachzugeben, wenn sie das gleiche tat.
Nur einen kurzen Moment huschten die blauen Augen zu dem Söldner herum, viel Aufmerksamkeit schenkte Shanaya dem Mann jedoch nicht. Was er dachte und tat, war ihr, solange er nicht näher zu ihr kam, ziemlich egal. Lucien dagegen… aber nach wie vor machte keiner Anstalten, die einfach hier zu lassen. Der Weg zur nächsten Taverne war kürzer als der zum Bordell. Vielleicht wussten die beiden das. Der Gedanke verblasste jedoch einen Moment lang, als Lucien den Dolch, mit dem er zuvor zugestochen hatte, noch einmal herum drehte. Innerlich sackte Shanaya in sich zusammen, die Kälte blieb jedoch in den blauen Augen bestehen. Nur das verräterische Glitzern von Tränen milderte dieses Bild leicht ab. Ihr Captain wandte sich ab und die Schwarzhaarige biss sich auf die Unterlippe, versuchte die Tränen herunter zu schlucken. Zairyms Worte ließen sie dem Dunkelhaarigen nur einen weiteren Blick zu werfen. Was wusste er schon? Er kannte sie kein Bisschen, kannte nicht ihre Beweggründe. Eine Antwort blieb sie ihm dennoch schuldig. Sie hatte längst einen Haken hinter die Sache gemacht, den Apfel neben sich auf der Mauer abgelegt und nach ihrer Krücke gegriffen. Wenn sie nicht gingen, würde sie ihnen diesen Part eben abnehmen. Verletzt und unendlich müde. Zairyms Worte an Lucien nahm sie nur halbherzig wahr. Sie brauchte keinen Arzt, sie brauchte niemanden. Nur sich allein. Denn scheinbar konnte sie sich auch nur auf sich selbst verlassen.
Bestimmt, sofern ihr das möglich war, humpelte die Schwarzhaarige einen Schritt nach vorn, eigentlich bereit, keinem von beiden noch einen Blick zu zu werfen. Sie sollten sie in Ruhe lassen. Sie hatte sich nicht einmal die Tränen aus den Augen gewischt, wollte einfach nur hier weg. Als Lucien sich doch wieder herum wandte (Shanaya hatte gehofft, er würde jetzt einfach gehen), spannte sich die junge Frau automatisch an, hob den Blick zu dem Mann. Bereit für noch solch eine Ansprache. Einen zweiten Dolch in der Brust. Genau das lag in ihrem Blick, neben der Kühle und ungeweinten Tränen. Aber im Blick ihres Captains hatte sich etwas verändert. Etwas, von dem Shanaya nicht wusste, wie sie es zuordnen sollte. Beinahe wäre sie wieder einen Schritt zurück gewichen, es mischte sich jedoch nur Verwirrung auf die Züge der jungen Frau. Mit seinen Worten hob sich kaum merklich eine ihrer Augenbrauen und (für sie vollkommen ungewohnt) musterte sie verunsichert den Dunkelhaarigen. In ihrem Inneren lieferten sich Verstand und Herz einen wilden Kampf, mit dem Shanaya nur einige Herzschläge inne hielt, Lucien direkt anblickte. Es dauerte einige Momente, bis sich die Schwarzhaarige sich wieder regte, sich in Bewegung setzte. Zuerst nicht ersichtlich, ob sie nun einen anderen Weg ging, oder ob sie zu Lucien trat. Bis sie direkt vor dem Dunkelhaarigen stand, sich fast zögerlich gegen ihn lehnte und sich mit der freien Hand an seinem Hemd fest hielt.
Nachdenklich presste Rym die Lippen zusammen, hin und her gerissen, ob er gerade wirklich das richtige getan hatte. Oh, Lucien fuhr die kleine Königin nicht mehr an oder ließ seine Wut an ihr aus, aber auf der anderen Seite, hätte der Mann wirklich gern gewusst, wie es zwischen den beiden ausgegangen wäre, wenn er sich nicht schlichtend eingemischt hätte. Das er überhaupt als Schlichter fungierte, überraschte ihn schon. Oder vielleicht auch eher die Tatsache, dass er in dieser Rolle hatte helfen können. Zumindest einem der beiden Streithähne. Es kam kein Kommentar von Seiten der Wildkatze, außer der Tatsache, dass sie sich anscheinend doch ihren Weg allein bahnen wollte. Seine Worte waren dann wohl an ihr abgeperlt wie Wasser an einem Schiff, was ihn nur dazu brachte die Augen zu verdrehen und schließlich die Arme vor der Brust zu verschränken. Nicht allein wegen Shanaya, sondern weil er nun doch ungeduldig wurde und sich fragte, was genau er hier tat, wenn die Person, die Hilfe benötigte, sich so penetrant weigerte, die Hilfe anzunehmen. Sein Blick fiel auf Lucien, der seine Hand dem Mädchen entgegenstreckte und Rym schlug mit dem Zeigefinger auf seinen Ellenbogen, während er darauf wartete, dass die Navigatorin das Angebot annahm oder ausschlag. Als sie es endlich zu dem Captain geschafft hatte, klatschte Rym in die Hände, allein um diesen unglaublichen Moment zu würdigen. „Sehr schön. Da das also geklärt ist, können wir jetzt gehen? Ich bin mir sicher, wir haben alle noch etwas schöneres vor, als uns zu streiten, zu ignorieren oder uns überflüssig zu fühlen, richtig?“ Damit drehte er sich um und schlug den Weg in Richtung Bordell ein.
Hätte sie nicht innegehalten und sich auf seine Aufforderung hin nicht wieder zu ihnen umgedreht, hätte Lucien sie sich geholt. Er hätte jede ihrer Grenzen übertreten können und es hätte ihn nicht gekümmert, ob sie es wollte, oder nicht. Er war immer noch wütend genug, damit es ihm egal war, ob sie nach ihm schlug oder kratzte oder trat oder er ihr Vertrauen brach, wenn er sie sich tatsächlich über die Schultern warf und zurück ins Bordell zwang. Doch ein kleiner, deutlich sanfterer Teil ihn ihm hoffte, dass Shanaya ihm entgegen kam. Er bot ihr eine Wahl, weil er wusste, wie stolz sie war und weil er sie eben nicht verletzen wollte. Nicht wirklich. Egal, ob sie nun begriffen hatte, weshalb er überhaupt so wütend auf sie war, oder auch nicht. Also wartete Lucien – bis die Schwarzhaarige sich wieder in Bewegung setzte und schließlich deutlich wurde, dass sie zu ihm kam. Erst dann löste sich seine Anspannung, löste sich auch seine Wut ein wenig auf. Der Ausdruck in ihren Augen machte ihn weicher, versöhnlicher und er stieß mit einem ergebenen, aber milderen Seufzen die Luft aus, kaum dass sie ihn erreicht hatte. Die Wärme ihres Körpers drang durch seine Kleidung, als sie sich gegen ihn lehnte und mit einer Vorsicht, die im krassen Widerspruch zu seiner bisherigen Wut stand, legte er einen Arm unter ihre Knie und den anderen an ihren Rücken, um sie hochzuheben, ohne ihr dabei mehr als nötig wehzutun. Nur einen kurzen Moment lang begegnete er dabei ihrem Blick, dann sah er zu Rym und nickte auf die Krücke. „Kannst du die nehmen?“ Auf die restlichen Worte des Söldners ging er nicht weiter ein, auch wenn sie ihm ein flüchtiges Schmunzeln auf die Lippen lockten. Gut möglich, dass der Bärtige gar nicht ahnte, was seine Gegenwart bewirkt hatte. Doch Lucien war ihm durchaus dankbar.
Shanaya wusste nicht, ob sie glücklich mit ihrer Entscheidung war. Eine Antwort darauf konnte ihr vermutlich auch niemand geben. Aber sie hatte sich entschieden – auch wenn die Anspannung damit noch längst nicht von ihr abgefallen war. Der Gedanke, sich in irgendeiner Taverne unter einer Decke zusammen zu rollen, war noch immer unglaublich verlockend. Aber den Weg dorthin hätte sie auch erst einmal schaffen müssen. Nun stand sie da, gegen Lucien gelehnt. Unsicher über ihre Entscheidung, inzwischen einfach zu müde für jeglichen Widerstand. Wenn sie es genau nahm… blieb der jungen Frau nichts anderes übrig. Shanaya hob vollkommen bewusst nicht den Blick zum Gesicht ihres Captains, erst, als er sie hoch hob und den Blick kurz zu ihr senkte. Ein Augenblick, ehe ihr Kopf erschöpft gegen seine Schulter sank, während sich ihre Hand noch am Stoff seines Hemdes fest hielt. Ohne noch weiter über irgendeine Entscheidung nachzudenken, schloss die Schwarzhaarige die blauen Augen, versuchte jede Grübelei zu unterdrücken. Zairyms Worte nahm sie wahr, schnaufte jedoch nur leise als Antwort, die er vermutlich eh nicht vernehmen würde. Sie regte sich auch nicht groß, ließ die Augen geschlossen, atmete lautlos durch. „Danke.“ Nur ein Hauchen, ein Wispern. Vielleicht hörte Lucien es, vielleicht auch nicht. Shanayas Geist war zu erschöpft, um sich darüber Gedanken zu machen. Trotzdem konnte sie sich etwas entspannen, auch wenn die Verwirrung grob an ihren Nerven zehrte.