08.12.2021, 16:54
Lucien erhielt gerade noch so die Gelegenheit für ein skeptisches Stirnrunzeln auf Talins Worte hin. Dass sie verletzt gewesen war, wusste er. Allerdings nicht, wie schlimm. Genau wie er neigte sie dazu, das Ausmaß einer Wunde ihm gegenüber herunter zu spielen. Nur ihr Verhalten verriet ihm, dass ein bisschen mehr dahinter steckte, als nur 'ein Kratzer'.
Doch Ceallagh lenkte ihn ab, ließ ihn den Blick zu seinem ehemaligen Kindheitsfreund wenden. Der Blonde erhob sich schwankend, entschuldigte sich mit ein paar knappen Worten und Lucien blieb nichts anderes übrig, als es hinzunehmen. Er konnte ihn kaum zwingen, hier zu bleiben, wenn er sich damit unwohl fühlte. Und der Dunkelhaarige ahnte auch, wem er diese Wendung zu verdanken hatte...
Also nickte er Ceallagh bloß verständnisvoll zu, verzog die Lippen zu einem sarkastischen Schmunzeln. „Und seht besser beide zu, dass ihr mir die Nacht überlebt“, schickte er dem Älteren noch hinterher, bevor dieser die Tür zur Kajüte hinter sich zuzog. Dann warf Lucien seiner kleinen Schwester einen strafenden Blick zu. Sie wusste ganz genau, dass sie das verbockt hatte und ihr zerknirschter Ton sagte ihm, dass sie beide der gleichen Ansicht waren. Auch, wenn sie das nicht gern zugeben wollte.
Doch er wäre auch nicht er, wenn er ihr das länger als ein paar Sekunden hätte übel nehmen können. Also seufzte er fast sofort im Anschluss, schüttelte nur mit einem Lächeln den Kopf. „Na los, ich helf' dir mit deiner Verletzung.“ Zumindest das musste sie nun über sich ergehen lassen. Nach dieser Nacht musste er sich selbst davon überzeugen, dass es ihr einigermaßen gut ging, dass er sich keine Sorgen mehr machen musste. Dass er sie nicht wieder verlieren würde.
...
So oder so verlief die Nacht darauf beschissen. Immer wieder erwachte der Dunkelhaarige, weil es keine Position zu geben schien, in der er schmerzfrei liegen konnte. Die Wunde an seiner Seite hatte zu nässen begonnen, sodass Talin mehrfach seinen Verband hatte wechseln müssen und sie beide nicht wirklich zur Ruhe kamen. Erst in den frühen Morgenstunden fand er zwei, drei Stunden schlaf, bevor es ihn viel zu früh wieder aus dem Bett trieb.
Er hatte Hunger. Einen gewaltigen Hunger. Sodass er sich bei Rayon ein kräftiges Frühstück abholte und nun, einigermaßen satt, mit einer Hand voll frischer, weicher Feigen an Deck trat. Das Meer war ruhig, sie machten gute Fahrt. Weit und breit kein fremdes Schiff in Sicht. Eine kleine Atempause, um wieder zu Kräften zu kommen. Und begonnene Gespräche zu beenden.
Die tiefgrünen Augen huschten über das Deck, suchten nach dem unvertraut-vertrauten Blondschopf, den er Unterdeck schon nicht ausfindig gemacht hatte. Bis er die hünenhafte Gestalt mit einem Eimer Wasser an der Reling entdeckte. Lucien biss von einer Feige ab und setzte sich in Bewegung, kam bis auf drei Schritt weit heran, um sich gegen ein am Mast vertäutes Fass zu lehnen. „Sehr gut, du lebst noch“, begrüßte er ihn zufrieden und verzog nur kurz das Gesicht, als sich die Wunde an seiner Seite unter einer unbedachten Bewegung spannte. „Wie sieht's mit Enrique aus?“, hängte er kurzerhand hinten an.
Der Mief unter Deck war unerträglich geworden, je länger sich Ceallagh in der Hängematte vom Rücken auf die Seite wälzte. Irgendwann hatte es ihn unter den Schmerzenslauten der anderen auf den Boden getrieben. Dann auf eine der Bänke. Bis er mit Sack und Pack an Deck gegangen war. Nicht nur um die Übelkeit abzuschütteln, die sich wohlig warm und sauer in seinem Magen ausbreitete. Sondern vielmehr um zumindest unter freiem Himmel und kühler Abendluft ein paar Stunden Schlaf zu finden. Irgendwann war der Hüne aufgeschreckt. Schweiß gebadet und mit pochendem Herzen. Dem flauen Gefühl im Magen, das nicht von den Schmerzen, sondern den Bildern seines Traumes herrührte. Unbegründete Gedanken, redete er sich ein und wischte sich mit der Rechten über die müden Züge. Ein Hirngespinst deiner Fantasie. So hoffte er. Weil ihm nichts anderes übrig blieb, als darauf zu vertrauen, dass seine Entscheidungen von damals die einzig richtigen gewesen waren.
Mit einer Scheibe Brot zwischen den Lippen und einem Eimer war Ceallagh eine Stunde später zurück an Deck gekommen und hatte sich an die Reling verzogen. Das Pochen in seiner Schulter war noch immer nicht abgeklungen. Zog mit jeder Bewegung an seinen Muskeln und trieb ihm erneut eine ungesunde Blässe in die Miene. Zumindest hatte das Fieber nachgelassen, das ihn die halbe Nacht wach gehalten hatte - so vermutete er. Versenkte den Lappen in seiner Linken im kühlen Wasser, ehe er versuchte ihn etwas ungelenk mit der anderen auszuwringen. Bereits jetzt hasste er die Schlinge um seinen Hals, die ihn dazu zwang den Eimer auf eine der Kisten zu platzieren, um sich nicht zu weit hinab beugen zu müssen. Das Symbol seiner eingeschränkten Bewegungsfreiheit, das unbequem im Nacken zog und an den feinen Härchen rieb. Doch es würden Tage, wenn nicht sogar Wochen dauern, bis er gänzlich genesen war. Dessen war er sich bewusst. Seufzte darüber nur schwer und klatschte sich brummend das wohltuende Stück Stoff auf die Seite.
Sein Hemd hatte seit gestern irgendwo in der Nähe seiner Hängematte Platz gefunden. War nicht mehr wirklich zu etwas zu gebrauchen, seit dieses dunkelhaarige Mädchen es mit voller Enthusiasmus in Einzelteile zerschnitten hatte. Und ganz sicher würde sich Ceallagh keines der alten Fetzen überstreifen, die irgendwo im Restelager vor sich hingammelten. Eher holte er sich einen fetten Sonnenbrand, der sich bestimmt gut mit der Hitze in seinem Körper vertrug.
Unbemerkt hatte sich unter dem Plätschern des vollgesogenen Lappens eine weitere Person an Deck gesellt. Nur kurz wandte Ceallagh den Kopf herum. Bereute seine unbedachte Handlung sofort, als sich ein Stechen durch seine Schulter zog. Mit zusammengepressten Lippen wandte er sich wieder herum, versenkte den Lappen in seiner Rechten etwas zu energisch im Eimer.
“Hast du etwa daran gezweifelt? Oder fandest du es auch denkbar, dass de Guzman mich doch noch des Nachts abmurkst?“ Ein schiefes Grinsen lag auf Ceallaghs Lippen. Setzte sich sogar in einem feinen Unterton in seiner Stimme ab.
Ein kurzes Schmunzeln huschte über seine Lippen, als Ceallagh auf eine unbedachte Bewegung hin die Lippen zusammenpresste und den Lappen zurück in seinen Eimer verbannte. Es war nicht direkt Schadenfreude, die ihn schmunzeln ließ. Der Blonde wirkte zwar ein bisschen kräftiger, als gestern Nacht noch, aber seine Haut wirkte noch immer fahler, als sie sollte und unter seinen Augen lagen dunkle Schatten. Allerdings erinnerten ihn die ungelenken Bewegungen und der offensichtliche Frust auf dem Gesicht seines alten Freundes schwer an einen alten Mann, der sich von seiner Arthrose schwer beleidigt fühlte. Und das ließ ihn ein bisschen schmunzeln.
„Absolut nicht“, erwiderte Lucien schließlich gelassen und schob sich die zweite Hälfte seiner Feige in den Mund. Es dauerte ein paar Herzschläge, bis er so weit aufgekaut hatte, um wieder zu sprechen, dann hob er die freie Hand an die Lippen und wischte sich mit dem Daumen ein Stück Fruchtfleisch aus dem Mundwinkel. „Ehrlich gesagt war ich mir ziemlich sicher, dass Enrique nach gestern niemanden mehr hätte umbringen können. Selbst wenn er gewollt hätte. Er sah zeitweise beschissener aus, als du und ich zusammen.“
Und das sollte schon etwas heißen. Lucien hatte noch immer ein vages schlechtes Gewissen, nicht darauf bestanden zu haben, dass Ceallagh die Nacht auf dem Sofa in der Kajüte verbrachte. Ob ihm das jedoch wirklich besser bekommen wäre, als eine Hängematte unten im Mannschaftsdeck, wusste der Dunkelhaarige letzten Endes auch nicht zu sagen. Wie gesagt, viel Schlaf hatte auch er nicht gefunden. „Ich wollte mich übrigens für Talins Verhalten gestern bei dir entschuldigen. Ich hab nicht erwartet, dass sie derart feindselig reagiert.“
Beschissen war womöglich noch der umschmeichelndste Ausdruck für das, was der ehemalige Offizier am gestrigen Abend gewesen war. Zerfleddert wurde der Optik eher gerecht, wie Ceallagh fand. Doch er schnaubte nur amüsiert über die Wortwahl. Konzentrierte sich auf den Lappen auf dem Boden des Eimers vor sich, um dem Schmerz zu entkommen, der sich noch immer durch seine Schulter bis in den letzten Winkel seines Rückens bohrte. Lieber hätte er sich windelweich prügeln lassen, als mit Metall im Körper vom Ort des Geschehens zu flüchten. Diesen Schmerz kannte er weitaus besser, als das hier. "Ich kann es verstehen.", räumte der Hayes ein, kurz nachdem Lucien einen Schritt näher getreten war und sich für etwas entschuldigte, das absolut nicht sein Verschulden gewesen war. Aber es ehrte ihn, dass er die Notwendigkeit sah sich für das Verhalten seiner Schwester zu entschuldigen, wenngleich es für Ceallagh selbst absolut unnötig schien. "Fremder Kerl in der Kajüte, gerade noch den Kopfgeldjägern entkommen... sie wird nicht die letzte sein, bei der die Nerven blank gelegen haben. Also danke ich ihr eher, dass es bei giftigen Blicken geblieben ist." Fast wirkte es so, als mischte sich ein warmer Unterton in seine Stimme. Doch kaum dass der Plätschern von Wasser die Stille unterbrach, war es genauso verschwunden, wie das sanfte Lächeln auf seinen Lippen.
Ceallaghs verständnisvolle Antwort lockte ein sachtes Lächeln auf die Lippen des 21-Jährigen, auch wenn er in diesem Moment den Blick senkte, um seine Reaktion vor dem Älteren zu verbergen. Nicht jeder hätte Talins Verhalten so hingenommen, wie der Blonde es tat. Lucien war sich nicht einmal sicher, ob er so gelassen geblieben wäre. Vielleicht – für einen Freund wie Ceallagh. Doch wer wusste das schon? Schließlich hatte er nie eine der Hayes-Schwestern kennengelernt und war demnach auch nie in der Situation gewesen, verzeihen zu müssen.
„Vielleicht hätte ich ihr einfach früher schon mal von dir erzählen sollen“, erwiderte Lucien leichthin und überbrückte die Entfernung zu ein paar an der Bordwand vertäuten Frachtkisten, auf denen er die drei übrig gebliebenen Feigen ablegen konnte. Eine davon pickte er sich heraus, wandte sich wieder Ceallagh zu und lehnte sich rücklings gegen die provisorische Obstablage. Das Thema ‚gestriger Abend‘ schien damit für ihn beendet zu sein, denn nun maß er den Älteren mit einem eher fragend-interessierten Blick, dehnte das Schweigen zwischen ihnen einen Moment lang aus, bis er wusste, wie er seine Frage stellen wollte. Dann: „Hattest du Zeit, dir zu überlegen, wie es jetzt für dich weitergehen soll?“
Lucien biss wieder in die kleine, violette Frucht in seiner Hand, wirkte dabei geradezu gelassen. Nur neugierig. Und doch mischte sich bei seinen Worten ein ungewöhnlich reservierter Ausdruck in die tiefgrünen Augen. Natürlich würde es ihn nicht wundern, wenn Ceallagh gestern Abend an nichts anderes mehr hatte denken können, als ans Schlafen und ans Ausruhen. Doch vielleicht, nur vielleicht, hatte er in der erschöpften Ruhe dieser Nacht auch einmal einen Gedanken daran verschwendet, ob er eine Zeit lang würde bleiben wollen. Oder nicht.
Es verwunderte Ceallagh keineswegs, das Lucien über seine Zeit auf der Nautilus geschwiegen hatte. Nicht einmal wirklich, dass damit sein eigener Name in Vergessenheit geraten war. So wie er Talin einschätzte - und erst Recht das Temperament, das hinter ihrer schmalen Brust klopfte - hätte sie es nicht dabei belassen. Bei einfachen Erzählungen. Wäre so oft auf das Thema zu sprechen gekommen, bis Luciens Verhalten allein ihr genug darüber verriet, was hinter den Wänden des Schiffes vor sich gegangen war. “Für die nächsten Tage werde ich wohl hierbleiben müssen.“ Entgegnete der Blondschopf ohne aufzusehen und verquirrlte das Wasser im Eimer mit dem Lappen. “Alles danach… mache ich davon abhängig, ob ich für euch oder ihr für mich zur Gefahr werdet.“ Obwohl der Unterton seiner Worte belustigt klingt, wirkt seine Miene davon gänzlich unberührt, als die grün-blauen Augen an Luciens Stiefeln empor klettern und irgendwo knapp vor dem dunklen Haaransatz zum Stehen kommen.
Ruhig und gelassen ruhten die tiefgrünen Augen auf dem Blonden, der den Kopf gesenkt hielt. Sich mit Wasser und Lappen beschäftigte. Selbst, als er schließlich aufsah und sich ihre Blicke begegneten, lag nur ein neugieriges Lächeln auf seinen Zügen. Doch so ruhig sah es in Lucien mitnichten aus. Ceallaghs Antwort verwirrte und verunsicherte ihn maßlos – ‚müssen‘... warum klang das so frustriert, so unwillig? Als hielten sie ihn auf. Als belasteten sie ihn. Als wolle er definitiv nicht hier sein. Oder bildete er sich das nur ein? Mischten sich Selbstzweifel und bitterer Zynismus ein?
Einen Moment lang hielt Lucien dem Blick des Älteren noch stand. Dann knickte er ein und sah hinab auf die sauberen Planken der Sphinx. Tarnte die kleinjungenhafte Unsicherheit damit, indem er nach einer weiteren Feige angelte, die schräg hinter ihm auf der Kiste lag und begriff dabei, warum ihn Ceallaghs Unwillen so traf. Weil er sich wünschte, der Blonde würde bleiben. Freiwillig. Um der alten Zeiten willen, die vielleicht nur für einen kleinen, zwölfjährigen Jungen wirklich wichtig gewesen waren – nicht aber für den Sechzehnjährigen, der ihm da durch geholfen hatte.
„Nun ja“, begann er schließlich und auch in seiner Stimme lag ein amüsiertes Schmunzeln, dass über alles andere hinwegzutäuschen suchte. „Den Gerüchten nach sucht die gesamte Königliche Marine nach einem Schiff mit roten Segeln, dass einen Gefangenentransporter versenkt und an die hundert Gefangene befreit hat. Und jüngst, um nicht zu sagen ‚gerade eben erst‘ habe ich erfahren, dass einige meiner Mannschaftsmitglieder steckbrieflich gesucht werden. Wenn dir das nicht gefährlich genug ist, weiß ich nicht, was Schlimmeres passieren soll.“ Unwillkürlich hob Lucien den Blick, sah von unten her zu Ceallagh auf, um seine Reaktion nicht zu verpassen, während sich doch ein echtes Schmunzeln auf seine Lippen stahl.
Lucien wandte sich ab und Ceallagh hatte für den Hauch einer Sekunde das Gefühl, dass dem Jüngeren seine Antwort nicht vollends zusagte. Er machte es nicht an dem Lächeln fest, das absolut undurchdringlich war oder an der Beiläufigkeit wie er sich bewegte. Sondern vielmehr daran, dass alles daran so nebensächlich wirkte. So gleichgültig. War er jetzt also derjenige, der gehofft hatte zumindest ein wenig gewollt zu sein? Ein Schnauben, gepaart mit einem Lächeln schob sich über seine Miene. Mehr über sich selbst amüsiert, als die gesamte Situation. Er benahm sich manchmal noch immer lächerlich narzisstisch. "Dass ihr gesucht werdet bedeutet gleichsam, dass ihr keine Wurzeln schlagen werdet, was mir nur entgegen kommt." Ein letztes Mal fuhr sich der Hüne mit dem Lappen über die Wunde. "Aber wenn mich nur einer deiner Leute an meinen Onkel verkauft..." Er zuckte mit der unverletzten Schulter und ließ den Lappen zum Boden des Eimers hinab gleiten. "Werde ich mich nicht von dir abhalten lassen zu tun, was ich tun muss." Kapitän hin oder her. Ceallagh hatte seine Prinzipien. Mied eigentlich gewaltvolle Konfrontationen und liebte es im Dunkeln die Fäden zu ziehen und Seiten gegeneinander aufzuhetzen. Doch in diesem Fall würde er nicht lange Zögern eine Handfeuerwaffe zu ergreifen und kurzen Prozess zu machen. "Mh... wenn ich jetzt so darüber nachdenke... könnte dieser Haufen vielleicht in naher Zukunft einen erfahrenen Schmuggler gut gebrauchen." Das Lächeln auf seinen Lippen hatte just etwas verbotenes. Etwas schelmisches.
Ein Anflug von Hoffnung keimte in ihm auf. Der Blonde sah nicht auf, zeigte sein Gesicht nicht, das Lucien womöglich verraten hätte, was er über den Verlauf ihres Gesprächs dachte. Doch zumindest seine Worte ließen eine ganz andere Botschaft erahnen, als gerade eben noch. Vielleicht... nur vielleicht, konnte er sich also doch vorstellen...?
Es war nur ein erstes, vorsichtiges Hoffen, aus der unbewussten Furcht heraus geboren, sich zu irren oder gar belogen und zuletzt verraten zu werden. Erstaunlich, dass er sich dem Blonden gegenüber auch nach all den Jahren, nach all dem, was er erlebt hatte, noch immer wie ein kleiner Junge fühlte. Etwas, das möglicherweise nie ganz verschwinden würde.
Lucien neigte den Kopf, um seine Gedanken abzuschütteln. In den tiefgrünen Augen blitzte en geradezu verschlagener Schalk auf. „Wenn dich nur einer von ihnen verrät, bin ich ganz gewiss der Letzte, der dich von irgendetwas abhält“, versicherte er mit einem Lächeln in der ansonsten geradezu kühlen Stimme und biss gelassen in die Feige, die er in der Hand hielt. Seine Loyalität der Crew gegenüber mochte bindend sein – doch er erwartete auch das Gleiche im Gegenzug. Bei einem Verrat fehlten ihm jegliche Skrupel, die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen und daraus würde er genauso wenig ein Geheimnis machen, wie Ceallagh in diesem Moment. Sie waren sich also einig. Blieb eigentlich nur noch... „Klingt für mich jedenfalls danach, als würdest du mit dem Gedanken spielen, doch eine Weile zu bleiben.“ Er konnte sich ein kleines Grinsen nicht verkneifen. „Ich habe immernoch die alten Kontakte meines Vaters und ich bin mir fast sicher, ein paar eurer Partner würden lieber Geschäfte mit dir machen, als mit deinem Onkel. Warum tun wir uns also nicht einfach zusammen und sehen, wohin uns das führt?“
Lucien hatte angebissen. Und setzte damit Ceallagh ein Grinsen auf die Miene, das dem seinen in nichts nachstand. “Sicherlich nicht nur ein paar. Wenn man bedenkt, wie viele seiner Aufträge ich vor meinem Verschwinden sabotiert habe.“ Es waren zu viele, um sie mit zwei Händen zu zählen. Und zu schwerwiegend, um daran zu glauben, dass die Geschäfte nicht längst eingestellt worden waren und sein Onkel vor Herzrasen fast ins Gras gebissen hätte. “Wenn wir schon davon anfangen… an was hattest du gedacht?“ Mit einem Fuß schob er den Eimer zur Seite. Beobachtete Lucien eine Weile aufmerksam bis er seine unverletzte Hand hob und Lucien entgegen hielt. Wortlos bedeutend, dass er nun doch eine der Feigen nehmen würde, die er ihm zuvor angeboten hatte – oder auch nicht.
In die tiefgrünen Augen trat ein Ausdruck freudiger Erwartung. Eine kribbelnde Anspannung kletterte in seinem Inneren empor, die sein Herz ein klein wenig schneller schlagen ließ. Der Geruch nach Risiko und Abenteuer lag in der Luft. Nach zwielichtigen Geschäften, skrupellosen Handelspartnern und irgendwelchen krummen Deals. Sprich, nach einer Freizeitbeschäftigung ganz nach seinem Geschmack. Und wer, wenn nicht Ceallagh und er, waren bestens für solche Dinge geeignet?
Ein Schmunzeln huschte über seine Lippen. „Nun ja... Ich habe ein Schiff, du die richtigen Beziehungen. Und wir haben die Freiheit, jede verdammte Insel zwischen hier und der Siebten Welt anzusteuern. Wenn wir es richtig anstellen, lässt sich mit so ziemlich allem, was man verkaufen kann, auch gutes Geld verdienen.“ Er schob sich den Rest seiner Feige in den Mund und begegnete Ceallaghs Blick, der seinen Eimer beiseite schob und schließlich die Hand ausstreckte. Lucien grinste, schnappte sich eine der drei übrigen Feigen und warf sie dem Blonden in die ausgestreckte Hand. „Wir brauchen vielleicht ein paar alte Freunde und ein paar Gefallen, um wieder Fuß zu Fassen, aber ich bin mir sicher, da finden wir jemanden. Vorausgesetzt...“ Er ließ den Satz einen Augenblick in der Luft hängen und maß Ceallagh mit einem aufmerksamen Blick. „Dir ist klar, dass das in unseren Kreisen die Runde machen wird und zwangsläufig auch an die Ohren deines Onkels dringen könnte.“
Beinahe hätte er seine Linke ausgestreckt. Zügelte sich jedoch und fing, wenn auch etwas unelegant, die fliegende Feige mit der Rechten. "Das ist mir durchaus bewusst." Geräuschvoll sanken seine Zähne in das weiche Fleisch der Frucht. Er hatte sich die letzten Stunden mit allem befasst - eigentlich seitdem er auf der Kopfgeldinsel gestrandet war. Was er tun würde. Heute. Morgen. Die nächsten Monate. Viel hatte sich seit seiner Ankunft auf der Sphinx nicht verschoben. Der Plan war nach wie vor derselbe. Das einzige Geheimnis zu bewahren, das ihm wichtiger war als sein eigenes Leben. "Solange dir klar ist, dass durch meine bloße Anwesenheit auch an euch eine Zielscheiben hängt." Nicht umsonst hatte er es ihm erzählt. Mochte sein, dass Lucien das entspannter sah, als er selbst, doch wollte er nicht dafür verantwortlich gemacht werden, Ärger auf den Kahn gebracht zu haben. "... bin ich absolut fein damit. Soll er mich doch jagen... solange es ihn von anderen Dingen fernhält." Ein Grinsen überzog seine Lippen. Raubtierhaft, als könne er es kaum erwarten. Wie ein junger Mann im Flausenalter, dessen Falle gerade platziert worden war und nur auf sein Opfer wartete. "Habt ihr denn schon einen Plan wo ihr als nächstes hinsegeln wollt?"
Ein Lächeln stahl sich auf die Lippen des Captains. Ein Lächeln von der Sorte, wie man es bei jungen Männern sah, die drauf und dran waren, auf alle Konsequenzen zu scheißen, um etwas möglichst Blödes zu tun. Etwas, das andere für unvernünftig oder fahrlässig halten würden. Und ja, vielleicht war es das. Und vielleicht war es auch selbstsüchtig, Schiff und Crew in diese Sache hineinzuziehen. Andererseits: „Eine Zielscheibe klebt uns schon längst an unserem Arsch. Mehrere, wenn man es genau nimmt. Was macht da schon eine mehr oder weniger? Ich denke, wir können damit leben. Außerdem...“ Er griff sich die eine der beiden verbliebenen Feigen, hob sie bereits an die Lippen, als er noch einmal innehielt. „... suchen wir doch alle nach einem Weg, noch den ein oder anderen Achter nebenher zu verdienen.“
Und damit biss er zuletzt doch noch in seine Feige, wischte sich aus der Bewegung heraus mit dem Handrücken den Saft aus dem Mundwinkel, bevor wieder ein Schmunzeln über seine Lippen huschte. Er schluckte den Bissen hinunter. „Oh, das könnte dir gefallen“, begann er, und ließ dabei offen, ob er diesen Satz ironisch meinte, oder vollkommen ernst. „Und sollte uns entgegen kommen. Wir setzen Kurs nach Norden und machen auf einer kleinen Insel zwischen Birlan und Tarlenn Halt, um unsere Vorräte aufzufüllen – wozu wir auf der letzten Insel ja leider keine Gelegenheit hatten.“ Der Umstände wegen. „Und danach ist unsere nächste Station die südöstliche Küste von Calbota. Kennst du dort jemanden, der uns weiterhelfen könnte?“, hängte er schmunzelnd hintendran.
Genussvoll zupfte sich Ceallagh mit einem weiteren Biss einen Teil der verbliebenen Feige ab, während er Lucien bei seinen Ausführungen lauschte. So betrachtet ergab es Sinn, sich wenig über die zusätzliche Last Gedanken zu machen, die seine Anwesenheit an Board mit sich brachte. Sie glich viel mehr einem winzigen Tropfen auf heißem Stein und machte, wie es der Schiffskoch wohl sagen würde, den Kohl auch nicht fetter. Allerdings fragte er sich, womit sich dieser Trevor sein Zusatzbrot verdiente. Der Kerl wirkte nicht gerade überambitioniert. Eher wie jemand, der sein Geld für skurrile Dinge auf den Kopf klopfte, als sich über die Vermehrung seines Vermögens Gedanken zu machen.
“Ach… wirklich?“ Ceallagh hatte den Blick vom Meer wieder auf seinen Freund aus Jugendtagen gerichtet. Erkannte in dessen Miene aber weder ausreichend Ernsthaftigkeit noch Ironie. Blieb also abzuwarten, in welche Richtung dieses „gefallen“ kippen würde.
Und kaum dass der Kapitän es ausgesprochen hatte, verließ sein heftiges Schnauben seine Nasenflügel. Calbota. Von allen Insel, die sie hätten ansteuern können, war es ausgerechnet seine Heimatinsel. “Kennen?“ Kurz fragte er sich, ob er Lucien jemals davon erzählt hatte, woher er kam. Erinnern konnte er sich mit Nichten daran. Was genauso wenig bedeutete, als würde er sich einbilden, es doch getan zu haben. “Das ist ein Heimspiel für mich. Sehr wahrscheinlich kenne ich zu viele Leute, um nicht die Aufmerksamkeit gewisser… Menschen auf mich zu ziehen“ Und dabei sprach er nicht zwingend von seinem Onkel. Denn neben ihm gab es mehr als eine Hand voll Männer, die ihm das Fell über die Ohren ziehen wollte. Geschäftsleute, Glücksspieler sowie betrogene Ehemänner. “Ich würde sagen… sobald wir angelegt haben, machen wir einen kleinen Abstecher zum Schwarzmarkt.“ Ein breites Grinsen zierte seine Lippen, während er den letzten Bissen der Feige zwischen seinen Zähnen zermahlte.