28.11.2021, 13:51
Rayon warf dem Künstler einen halb ertappten, halb entschuldigenden Blick zu. Seine Worte spiegelten zwar nicht die ganze Wahrheit wieder, trafen zumindest seine Sorgen um den Mann neben ihm aber sehr präzise. Solche Gefühle waren schlichtweg nicht zu vermeiden, wenn man wie er als älterer Bruder - und später auch als Vaterfigur - aufgewachsen war. Sie trieb ihn um, bei allem, was er tat, zumindest, wenn er Menschen um sich herum hatte, die ihm etwas bedeuteten. Und das war beinahe immer der Fall, schließlich suchte er sich sein Umfeld entsprechend aus. Nur in der verhältnismäßig kurzen Phase seines Lebens, nachdem er seine Heimat verlassen und bevor er auf der Sirène angeheuert hatte, war er auf sich allein gestellt gewesen und hatte keine Verpflichtungen, tatsächlich oder selbst auferlegt, anderen gegenüber gehabt. Das war ungewohnt gewesen. Und irgendwie einsam.
"Ich weiß, dass du auf dich aufpassen kannst, Liam", sagte er schließlich aufrichtig und grinste den Künstler an. "Dass ich mich besser fühle, wenn ich dir im Zweifelsfall zur Seite stehen kann, ändert daran nichts."
Die Dankbarkeit in Liams Stimme entging ihm derweil nicht, und sie wärmte sein Herz wie es kaum etwas anderes vermochte. Der Künstler gehörte nicht zu der Sorte Mensch, die sich hinter einer Mauer aus geheuchelter Härte verstecken musste. Er war zwar mutig und ging Risiken ein, aber Rayon hatte nie das Gefühl, dass er das tat, nur um anderen zu beweisen, wie stark und dominant er war. Und nur diese... Echtheit erlaubte es Menschen überhaupt, eine tiefere Bindung zueinander aufzubauen, wie es sie im Piratenhandwerk vermutlich nur selten gab. Bei Gregory und Trevor hatte Rayon dieses Gefühl bereits gehabt, und bei Liam hatte er es auch.
Der Schiffskoch lachte laut bei Liams nächsten Worten und streckte theatralisch die Brust heraus.
"Arrr, das will ich dir auch geraten haben", rief er etwas lauter als nötig, wobei sein schelmisches Grinsen die imposante Erscheinung, die er dabei abgab, nicht nur ein wenig manipulierte.
Er kehrte jedoch schnell wieder zu seiner entspannten Haltung zurück, als Liam weiter auf die kürzlichen Ereignisse einging. Der Dunkelhäutige nickte mit aufrichtiger Anerkennung im Blick, als der Künstler bestätigte, dass sie diese Situation zumindest nicht völlig unbewusst herbeigeführt hatten. Auf der Straße - gerade den zwielichtigeren der Welt - war ein wacher und findiger Verstand mindestens ebenso viel wert wie körperliche Kraft. Vermutlich sogar deutlich mehr. Und an Kreativität mangelte es dem Mann neben ihm sicherlich nicht.
"Das ist wahr", erwiderte Rayon auf die eher rhetorische Frage seines Gegenübers und runzelte dabei leicht die Stirn. "Aber wenn gewisse Leute gewisse Dinge partout nicht lernen wollen, müssen sie sich nicht wundern, wenn sie sich eines Tages zu ihrem eigenen Wohl an den Hauptmast gefesselt wiederfinden."
Das Lächeln auf seinen Lippen verriet, dass es sich dabei um eine gänzlich leere Drohung handelte, doch die subtile Ernsthaftigkeit in seiner Stimme deutete gleichzeitig darauf hin, dass er allzu abenteuerlichen Unternehmungen in der Tat skeptisch gegenüberstand. Prompt meldete sich die Stimme in seinem Kopf, der nur allzu bewusst war, dass Rayon an Liams Stelle vermutlich ganz ähnlich gehandelt hätte. Immerhin war es um das Wohlergehen anderer gegangen.
"Ach, was rede ich. Dann müsste ich mich vermutlich selbst gleich mit anbinden."
Er warf Liam ein weiteres warmes Lächeln zu und signalisierte ihm damit, dass er die Entscheidungen des Künstlers in dieser Hinsicht nicht weiter in Frage stellen würde. Ohnehin galt sein Interesse nun einem ganz anderen Thema, und umso ärgerlicher war es, dass Liam seinen Wink mit dem Zaunpfahl anscheinend entweder völlig übersah oder absichtlich ignorierte. Er kommentierte seine Anspielung auf Skadi zwar kurz - und bemerkenswert sachlich -, wechselte daraufhin jedoch prompt wieder das Thema. Rayon würde also einen anderen Weg finden müssen, um seinen Freund vorsichtig zur Rede zu stellen.
"Nein, es scheint, als gäbe es für einen alten Seemann auf Landgang heute nichts weiter zu tun", antwortete er mit gespielter Entrüstung, zuckte mit den Schultern und streckte die Arme in die Luft. "Insofern habe ich den ganzen Tag Zeit, um dich vom Lesen abzuhalten", sagte er vergnügt und musterte den Künstler erneut eindringlich, während er seine nächsten Worte wählte. "Es sei denn, du hast noch andere, wichtigere Verabredungen...?"