02.11.2021, 14:34
„Alles gut. Ich weiß selbst noch nicht genau, was geht und was nicht.“
Er grinste seinem Freund ein wenig mitgenommen zu und ließ die Schultern kurz kreisen. In seinem Nacken krachte es leise, woraufhin er sich dazu entschied, sich doch besser einfach wieder zurückzulehnen. Wenn er länger saß, verliefen sich die schmerzenden Muskeln und der schwache Druck der Schwellung in seinem Gesicht. Umso schlimmer rächte es sich dann allerdings wieder, wenn er aufstehen und sich bewegen musste.
„Weil du hier besser auf mich aufpassen kannst als da draußen?“, fragte er mit einem interessierten Seitenblick gen Rayon und seufzte theatralisch. „Du musst dir keine Sorgen machen, wirklich nicht. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, zwei, nein, drei Tage hintereinander in ungünstige Situationen zu geraten? Selbst für mich wäre das ein neuer Rekord. Und glaub‘ mir – für heute werde ich sowieso lieber einen Bogen um zwielichtige Menschen machen.“
Er wusste die Fürsorge seines Freundes allerdings hörbar zu schätzen. Ein Piratenschiff war ein Ort, an dem man sich schnell alleine fühlen konnte. Die Sphinx bewies immer wieder, dass sie anders war – und das lag nicht zuletzt an den Leuten, die die Crew zu dem machten, was sie war. Der Lockenkopf hielt viel von Nächstenliebe und gegenseitiger Fürsorge. Ein eingespieltes Team konnte mehr erreichen als ein Haufen zusammengewürfelter Egoisten, die nur auf ihren eigenen Vorteil aus waren. Man konnte Vorteile ausspielen, Risiken eingehen und diejenigen schützen, die über sich selbst hinausgewachsen waren, bevor sie draufgingen. Die Dankbarkeit, die er dem Dunkelhäutigen allein seiner Anwesenheit wegen empfand, lag deutlich in der Stimme des Jüngeren. Und Rayon wusste wohl, dass seine sanfte Seite in Liams Gegenwart niemals fehl am Platz war. Er durfte sein, wie er war. Ihm gegenüber musste niemand seinen starken, unberechenbaren Mann stehen.
„Solange die anderen nicht wissen, dass du dich allein mit dem furchterregenden Aussehen zufrieden gibst, ist doch alles paletti.“, grinste er zurück. „Ich für meinen Teil würde auch lieber Reißaus nehmen, statt am eigenen Körper zu erfahren, wie ernst du es meinst. “
Als Rayon fortfuhr, wurde das Lächeln auf Liams Lippen wärmer. Es war offensichtlich, dass der Dunkelhäutige in dieser Situation die richtigen Worte gefunden hatte. Er fand es überflüssig, dieses Kompliment in diesem Moment zurückzugeben. Auch, wenn Liam eher der bescheidene Typ war, der Komplimente generell zu relativieren versuchte, konnte er sie inzwischen hin und wieder einfach annehmen. Dass es nicht immer das gewünschte Ziel brachte, ein guter Mensch zu sein, war eine andere Sache. Aber letztlich mussten sie alle mit sich leben und Liam für seinen Teil war lieber mit sich selbst im Reinen als ein mächtiges Arschloch zu sein.
„Du hast es erfasst. Genau das war unser sehr einfacher, spontaner Plan.“, nickte er mit gespieltem Stolz und hörbarem Lachen in der Stimme. „Naja…“, fuhr er dann fort, wog den Kopf schuldbewusst zur Seite und zuckte angedeutet mit der Schulter. „Was soll ich sagen – Manche Dinge lernt man nie. Andere will man einfach nicht lernen. Außerdem muss man ja nicht alles gut finden, was die anderen tun, oder, mein lieber Rayon?“
Er war sich sicher, dass es dem Älteren diesbezüglich genauso ging wie ihm. Dieses Mal war es immerhin wieder einmal gut gegangen und Liam wusste mit hundertprozentiger Sicherheit: Er würde das nächste Mal nicht anders handeln.
Welches Wespennest er schließlich anstach, bemerkte er gar nicht. Er hatte nur einer Frage zuvorkommen wollen, die er Rayon durchaus zugemutet hätte. Als er Luciens und Skadis Anwesenheit erwähnt hatte, war sein Blick von seinem Freund aus in den Innenhof gewandert und folgte drei jungen, leichtbekleideten Frauen, die vom Haupthaus aus ins Badehaus schlenderten. Dass Rayon schließlich explizit Skadi herausnahm, fiel ihm gar nicht so bewusst auf. Sein Kopf schob es automatisch darauf, dass Frauen eher seltener Kundschaft in den Untergrundkämpfen waren. Er schnaubte mit einer Mischung aus freudloser Belustigung und Frust ohne aufzusehen.
„Vier Jahre als Mann bei der Marine gehen nicht spurlos an einem vorbei. Und wenn man nicht überzeugend ist, fliegt man auf.“
Sie hatte also gar keine andere Wahl gehabt, als zwangsläufig irgendwann Freude daran zu empfinden. Liams Augen wurden etwas schmaler, während die drei Gestalten hinter einem der Zierbäume verschwanden und er damit nicht mehr so tun konnte, als würde er sie beobachten. Skadi war bemerkenswert. Undurchsichtig, unberechenbar, jähzornig. Verletzlich. Stolz. Liam hatte ihr Problem noch immer nicht wirklich begriffen, aber verstanden, dass es nichts brachte, danach zu fragen, wenn er es nicht schlimmer machen wollte.
„Was ist mit dir, Rayon? Irgendwelche Pläne für den Tag? Aufträge von den Captains?“