26.10.2021, 19:43
Seine Fehleinschätzung nahm Liam definitiv mit Humor – sie war ohnehin alsbald vergessen, als Trevor ihm etwas offenbarte, was ihm vermutlich längst hätte klar sein sollen. Wäre er aufmerksamer gewesen. Oder hätte er sich viel aus den Familienverhältnissen anderer – insbesondere der Adligen – gemacht. Und trotzdem erschloss sich ihm nun einiges, worüber er vorher einfach gar nicht nachgedacht hatte. Vermutlich hatte Gregory häufiger irgendetwas erwähnt gehabt, was ihn ebenfalls zu diesem Schluss hätte kommen lassen. Er hatte es bloß nie hinterfragt. Trevor und Gregory schienen allerdings damit ein gutes Beispiel dafür zu sein, dass nicht jeder, der blaues Blut hatte, zwangsläufig in teurer Kleidung irgendwo um Macht ringen musste. Manche jagten auch ihren Träumen nach und taten, was sie glücklich machte, statt eine Rolle zu erfüllen, in die sie nicht hineinwachsen wollten.
„Hmm.“, überlegte er hörbar, wie er dem Jüngeren weiter helfen konnte, eine Antwort – oder zumindest eine hilfreiche Vermutung – zu finden, die ihn weiterbrachte. „Was war sonst ihre Aufgabe? Was haben sie sonst getan? Sind sie viel herumgekommen?“
Vielleicht half ihnen das, gewisse Inseln oder gar Welten auszuschließen? Sie waren an einem Ort, den sie zuvor scheinbar noch nie besucht hatten. Das grenzte das mögliche Suchgebiet immerhin etwas ein. Wobei sie – vermutlich – nicht sesshaft waren. Und Liam wusste, wie schwer es war, einen Reisenden zu finden – schier unmöglich. Aber genau das schien tatsächlich Trevors Ziel zu sein. Liam überraschte die Inbrunst und Überzeugung, mit der Trevor ihm antwortete. Nicht, weil Trevor irgendwie dafür bekannt gewesen wäre, eher rational und kontrolliert zu sein, im Gegenteil. Sondern weil er dieser Sache so sicher war, dass Liam sich in seiner Haut fast schon schuldig fühlte. Er schluckte, sein Blick sank kurz zu Boden, ehe ihm der Jüngere eine Frage stellte, so selbstverständlich, dass es die Schuld noch einen Zentimeter tiefer in ihn trieb.
„Naja…“, war das erste, was er herausbrachte. Nicht abwertend, eher unschlüssig, ausweichend. „Ich habe meinen Vater gut acht Jahre nicht gesehen. Von seinen Abenteuern erfahre ich meist aus seinen Büchern. Wenn ich eines in die Hände bekomme, jedenfalls. Ich bin es also… gewohnt, wenn du so willst.“
Liam lächelte, zufrieden tatsächlich, obwohl im erst dadurch, dass er es aussprach, bewusst wurde, wie lange er Noah schon nicht mehr gesehen hatte. Aber sie folgten beide ihren Herzen und reisten dorthin, wo es sie hinzog. Ob sich ihre Wege irgendwann wieder kreuzen würden, würde lediglich die Zeit irgendwann zeigen.
„Ah, gar nicht wahr. Meine Großmutter hält uns soweit auf dem Laufenden, wenn wir längere Zeit an einem Ort sind. Lange genug jedenfalls, um einen Brief zu schreiben und eine Antwort vom anderen Ende der ersten Welt zu erhalten.“
Trevor konnte sich vermutlich selbst ausmalen, wie oft das – zumindest bei Liam – der Fall war.