01.09.2021, 17:01
Durch den Pistolenschuss nicht mehr völlig eingenommen von dem, was auf seinem eigenen Schiff passierte, richtete sich Luciens Aufmerksamkeit auf das, was auf dem Deck des kleineren Zweimasters vor sich ging. Dort schienen sich die wenigen verbliebenen Crewmitglieder nicht völlig einig zu sein, wie sie mit den Piraten umgehen sollten – darauf zumindest deutete der ärgerliche Wortwechsel zwischen mehreren Parteien hin, der insgesamt kaum mehr als einige Herzschläge dauerte.
Dann tat sich einer der Männer hervor, trat an die Reling und rief als zweiter heute und innerhalb weniger Minuten den Wunsch nach Verhandlungen aus. Lucien seufzte ungeduldig und wünschte sich für einen kurzen Augenblick, die Seemänner dort drüben hätten auf denjenigen gehört, der unbedingt hatte kämpfen wollen. Das wäre um ein Vielfaches schneller gegangen, als sich nun ihre Bitten anzuhören. Den Nächsten, der ihn um Parley bat, sollte er vielleicht besser erschießen. Nur, um die Sache abzukürzen.
Dennoch entspannte sich der junge Captain ein gutes Stück weit und wandte sich seiner Schwester zu.
„Kannst du unseren Gast hier übernehmen? Dann höre ich mir an, was sie zu sagen haben.“
Seine Bitte war eher rhetorischer Natur, denn er zweifelte nicht daran, dass Talin zustimmen würde. Die grünen Augen huschten also noch fast im gleichen Augenblick zu dem Mann weiter, der am Steuer stand, während Lucien sich bereits dem Niedergang zum Hauptdeck zuwandte, an dem auch Skadi stand.
„Greo, mach dich bereit, uns hier raus zu bringen, sobald ich es dir sage. Und Shanaya kriegt ihr Steuer nicht zurück, bis mir jemand bestätigt, dass sie ihren Arm noch benutzen kann.“
Der zweite Teil seiner Anweisung richtete sich an niemand bestimmten, galt aber vor allem Greo, Rym und Shanaya. Der Dunkelhaarige vertraute darauf, dass irgendjemand sie davon abhielt, gegen jede Vernunft ihrer Aufgabe nachzukommen, hielt sich aber nicht damit auf, auf ein bestätigendes Nicken zu warten. Stattdessen setzte er sich in Bewegung und erreichte mit wenigen schnellen Schritten die Treppe, die vom Achterdeck nach unten führte.
Skadi wies er mit einer knappen Geste an, ihm zu berichten, wie es über ihnen aussah, hielt auf seinem Weg jedoch nicht inne. Erst, als Rayon ihn auf halber Strecke abfing, stoppte der junge Captain. Doch während er den Worten der Jägerin nur mit konzentriertem Ernst auf den Zügen gelauscht hatte und sein Verstand stillschweigend aus kurzsichtigen Überlegungen einen festen Entschluss machte, reagierte er auf Rayons Anliegen mit einem ärgerlicheren Stirnrunzeln.
„Danke dir, Skadi“, wandte er sich zunächst an die junge Frau, nickte ihr kurz zu, bevor sich die grünen Augen auf den Smutje richteten. „Wenn einer dieser Männer noch einmal auf mein Schiff und meine Crew schießt, ist mir ziemlich egal, wie wehrlos und verängstigt sie sind“, stellte er mit kühlem Gleichmut klar, verzog die Lippen im nächsten Moment jedoch zu einem süffisanten Lächeln. „Aber keine Sorge, sie bekommen ihre Chance. Schnapp dir Ceallagh und holt den Anker wieder hoch. Das Beiboot dauert zu lange. Und ich brauche ein paar Leute an den Segeln.“
Er versetzte dem Älteren einen geradezu aufmunternden Klaps auf den Oberarm, schob sich im nächsten Augenblick an ihm vorbei und setzte seinen Weg mit großen Schritten fort. Wurde Zeit, dass sie hier wieder verschwanden – und Rayon musste in diesem Moment wohl einfach auf die Nächstenliebe seines Captains vertrauen. Oder zumindest auf seine Bereitschaft, sich an seine eigene Carta zu halten.
Als Lucien die Reling neben Tarón erreichte, wischte er sich nur beiläufig das Blut von der Stirn, das nach wie vor aus der höllisch brennenden Platzwunde über seinem Auge sickerte. Ein schwacher, undefinierbar schmerzender Druck bildete sich derweil bei jedem Atemzug in seiner Brust, den er jedoch geflissentlich ignorierte, als er die Hände auf das Geländer legte und den Blick zum Deck des anderen Schiffes wandern ließ. Ohne Umschweife wandte er sich an Tarón, dämpfte dabei die Stimme leicht, bevor er schließlich auch den Kopf zu ihm umwandte.
„Hat er schon gesagt, was sie wollen?“
Da er nicht das gesamte Gespräch zwischen beiden Männern mit angehört hatte, hielt er es für sinnvoller, sich auf den aktuellen Stand bringen zu lassen und sich erst hinterher einzumischen.