11.08.2021, 11:52
Die Gelassenheit, mit der der Fremde auf Luciens Geste reagierte, lockte trotz ihrer beunruhigenden Situation ein halbes Lächeln auf die Züge des jungen Captains. Er hatte nicht nach dem Degen gegriffen, weil er auf einen Kampf aus war. Aber es war ein unmissverständliches Zeichen, dass er würde, wenn er musste und dabei nicht lange zögerte. Zumindest, wenn die frisch geschmiedete Klinge innerhalb des Nebels nicht zu sehr gelitten hatte und nicht bereits völlig durchgerostet war.
Also ließ er die Hand auf dem Knauf der Waffe, als er antwortete. Ruhig und – im Gegensatz zu seiner Gestik – mit einem Unterton, der Offenheit und Zustimmung ausdrückte. Ein paar Hände mehr konnten nicht schaden. Gerade jetzt. Und Lucien war einerseits pragmatisch, andererseits spontan genug, um diesen Vorteil über jedes Misstrauen zu stellen.
„Ich habe schon schlauere Menschen dümmere Dinge tun sehen“,
versicherte er dem Älteren, wandte sich dann James zu und nickte flüchtig, um ihm für den Statusbericht zu danken. Bevor der junge Captain jedoch eine weitere Frage stellen konnte, die dem Fremden gegolten hätte, mischte sich eine weitere Stimme in das Gespräch ein. Shanaya. Unwillkürlich runzelte Lucien die Stirn und warf ihr von der Seite her einen kurzen Blick zu. Ein Anflug von Ärger stieg in ihm auf, der das Lächeln von seinen Lippen fegte.
Hätte er vor wenigen Sekunden die Entrüstung auf ihren Zügen gesehen, als er Rym anwies, sie zu behandeln, dann hätte er vielleicht geahnt, was kommen würde. So jedoch zeigten sich die Überraschung und das Missfallen über ihre Einmischung deutlich in seiner Mimik. Bis sie sich von dem Schiff ablenken ließ, das nun so viel näher vor ihnen im Wasser trieb, als es sollte.
Für einen kurzen Moment huschten die tiefgrünen Augen zu Rym weiter, der sich an die Fersen der Navigatorin heftete und Lucien sparte sich einen entsprechenden Kommentar. Er hatte gerade deutlich wichtigere Dinge, auf die er sich konzentrieren musste, als sich mit dem verbohrten Starrsinn seiner Navigatorin herumzuschlagen. Denn in eben diesem Moment gesellte sich auch seine Schwester wieder aufs Achterdeck. Einerseits hoffentlich, um die versprochenen Tücher an alle zu verteilen, andererseits, um ihn ebenfalls zu einem raschen Aufbruch zu drängen.
„Eins nach dem anderen“, erwiderte Lucien bestimmt – sowohl auf ihr, als auch auf James‘ Drängen hin. Aus dem Augenwinkel sah er bereits eine vertraute Gestalt die Treppe zum Achterdeck hinauf kommen. Genau diejenige, die er in diesem Moment brauchte. Und er war froh, sie halbwegs an einem Stück zu sehen. „Wir wissen nicht, ob der Nebel dieses Schiff bewegt hat. Das eine hat mit dem anderen vielleicht gar nichts zu tun. Aber so oder so müssen wir durch ihn durch, also kümmern wir uns zu erst um die Verletzten. Hast du die Tücher, Talin?“
Er hatte seinen Satz kaum beendet, als der unmissverständliche Knall eines Schusses über das Wasser donnerte. Lucien zuckte für einen Sekundenbruchteil zusammen, riss dabei den Kopf herum. Noch fast im gleichen Moment drehte er sich rein instinktiv so, dass sich sein Körper zwischen Talin und das feindliche Schiff schob, streifte mit der Linken flüchtig ihre Taille in dem nie beendeten Impuls, sie aus der Schussbahn zu ziehen - ohne überhaupt zu wissen, von wo der Schuss gekommen war.
Doch zumindest diese Frage klärte sich schnell auf. Einer der Matrosen auf dem Handelsschiff hatte die noch immer qualmende Mündung seiner Pistole auf die Sphinx gerichtet, dabei allerdings keinen nennenswerten Schaden angerichtet. Zumindest nicht, soweit Lucien das von seiner Position aus beurteilen konnte. Und es ertönte kein weiterer Schuss, obwohl irgendjemand an Deck des anderen Schiffes irgendetwas von schießen brüllte. Man mochte es kaum glauben, aber... Trevor hatte die panischen Seemänner tatsächlich zum Zögern gebracht.
Lucien überwandt seine Überraschung schnell. Die Hand noch immer flüchtig an Talins Taille, wandte er sich kurzerhand an die nächstbeste, vernunftbegabte Person an Deck, die er dazu in der Lage sah, zu deeskalieren. Zumal er einen ersten Versuch bereits gestartet hatte. Von dem Rest seines Befehls mochte sich dann jeder angesprochen fühlen, der eine Waffe besaß, die noch schießen konnte.
„Tarón! Bring sie zur Vernunft, wenn du kannst. Ansonsten wird jeder erschossen, der seine Waffe auf die Sphinx richtet!“