11.07.2021, 14:25
Rayon war froh, dass Trevor die Prozedur ohne Proteste über sich ergehen ließ, und mindestens ebenso erleichtert, dass die Maßnahme auch bei ihm zu wirken schien, zumindest für den Moment. Die Frage des Kindskopfes überhörte er dennoch geflissentlich, hatten sie doch in diesem Moment wahrlich Wichtigeres zu tun, als über modische Fragen zu diskutieren. Wie zur Bestätigung dieses Gedankens erklang über ihnen das Kreischen der Vögel, das der Schiffskoch bisher nur auf stark gedämpfte Weise unter Deck wahrgenommen hatte. Es jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken und ließ ihn schlagartig in Richtung Himmel blicken. Ein Unterfangen, das in Anbetracht der Sichtverhältnisse selbstverständlich zum Scheitern verurteilt war. Das Krähennest..., schoss es ihm plötzlich durch den Kopf. Welche arme Seele auch immer dort oben war, würde mit großer Sicherheit als Vorspeise der Angreifer enden, falls sie den Nebel hinter sich lassen würden.
Trevors Eifer holte ihn zurück in die Gegenwart und weckte den Impuls in ihm, den Blondschopf aufzuhalten, damit er keine Dummheiten anstellen konnte. Einzig das Bewusstsein, dass er gerade schlichtweg keine Zeit hatte, den Babysitter zu spielen, hielt ihn zurück (und die Tatsache, dass er ohnehin keine Hand frei hatte). Eine Entscheidung, die sich als goldrichtig herausstellte, denn aus den Augenwinkeln glaubte der Dunkelhäutige zu erkennen, dass Trevor sich in Richtung Niedergang bewegte. Gregory würde sich freuen, seinen Bruder zu sehen - und konnte an seiner statt auf ihn aufpassen.
Er wollte sich gerade wieder Liam und Talin zuwenden, als ihm auffiel, dass sich etwas verändert hatte. Er brauchte einen Moment, um festzustellen, dass er plötzlich wieder weiter als ein paar Fuß sehen konnte. Der Nebel schien sich aufzulösen oder sich zu verziehen, und das in einem solchen Tempo, dass es nicht lange dauerte, bis die Sicht wieder völlig klar war.
"Was zum...", murmelte Rayon, der das aufkommende Gefühl der Erleichterung in seiner Brust direkt im Keim erstickte. Das plötzliche Verschwinden des Nebels war ebenso unnatürlich wie der Nebel selbst. Was, wenn es sich dabei nur wieder um den Vorboten des nächsten Unheils handelte? Und was war eigentlich mit den Vögeln? Der Dunkelhäutige nutzte die Gelegenheit jedoch zumindest, um sich einen Überblick zu verschaffen und ließ seinen Blick über das Deck der Sphinx schweifen. Das Achterdeck war geradezu überfüllt. Lucien stand dort, gemeinsam mit Shanaya, Greo und Zairym, und just in diesem Moment gesellte sich James zu ihnen, einen Mann im Schlepptau, dessen Anblick Rayon gänzlich unbekannt war. Ein blinder Passagier? Unwahrscheinlich. Vermutlich jemand, den sie aus dem Meer gefischt hatten, doch das musste heißen... Sein Blick schoss hinüber zur anderen Seite des Decks und fand dort Tarón, Josiah und Soula, ebenso wie Rúnar, der auf den Planken saß, gegen die Reling gelehnt und augenscheinlich deutlich durchnässter als der Rest von ihnen. Selbst in seinem geistigen Zustand - so durcheinander, wie er angesichts der Umstände war - konnte er ohne Probleme schlussfolgern, dass der junge Mann derjenige gewesen sein musste, der über Bord gegangen war. Anscheinend war es dem Rest der Crew gelungen, ihn aus dem Meer zu fischen, was angesichts der Sichtverhältnisse, die noch vor Kurzem um sie herum geherrscht hatten, ein kleines Wunder war.
Er wollte sich gerade nach dem Rest der Crew umsehen, als Trevor wieder zu ihnen stieß, einen Haufen Gläser und Flaschen in den Händen. Der Schiffskoch runzelte die Stirn und wollte ihn gerade nach dem Sinn dieser Beschaffung fragen, doch seine Aufmerksamkeit wurde erneut abgelenkt, diesmal vom lauten Ruf einer ihm unbekannten Stimme: "PIRATEN!" Rayon schoss herum - und seine Augen weiteten sich, als er das Handelsschiff erblickte, wegen dem sie überhaupt erst in diesen unheimlichen Nebel geraten waren. Es lag dort, direkt vor ihnen... VIEL zu nah vor ihnen. Seine Navigationskünste waren sicherlich nicht die besten, aber selbst er wusste, dass es eigentlich unmöglich war, dass so wenig Meer zwischen ihnen lag. Und noch etwas schien unmöglich - das Schiff war auf ein anderes Schiff aufgelaufen. Hier, mitten auf dem Meer. Wie konnte das sein? Rayon fluchte laut. Nichts hier ging mit rechten Dingen vor sich. Gar nichts. Sie mussten so schnell wie möglich verschwinden.
Vom Achterdeck wehte das nun deutlich vernehmbare Angebot Zairyms herüber, das Feuer auf die Besatzung des Händlerschiffes zu eröffnen. Rayon biss sich auf die Zähne und bereitete sich darauf vor, die Schüssel in seinen Händen fallenzulassen, das Achterdeck zu erstürmen und ihn umgehend von Bord zu werfen, doch glücklicherweise bewies Lucien einmal mehr, dass er ein vernünftiger Captain war. Ein schneller Blick zu Liam zeigte ihm, dass auch er ähnliche Gedanken zu haben schien. Die Zeichen dafür waren zwar subtil, aber doch eindeutig.
"Ich stimme zu", meinte er, als der Künstler sich an Talin wandte. "Dieses Schiff kann überhaupt nicht so viel Beute geladen haben, dass es sich lohnen würde, noch einen Augenblick länger an diesem verfluchten Ort zu verweilen."
Der Koch nickte als Reaktion auf Talins Anweisung und blickte nun endlich hinüber zum Krähennest, vor dem Isala stand.
"Komm, Trevor, wir kümmern uns um die Dame. Würde mich wundern, wenn sie den Vogelangriff unbeschadet überstanden hat", sagte er mit besorgter Miene und nickte in Richtung der Braunhaarigen. "Du musst mir übrigens noch erklären, was du mit diesen Gläsern vorhast..."
Ohne auf eine Antwort zu warten, überbrückte er die Distanz zu Isala, die zwar mitgenommen aussah, aber nicht lebensgefährlich verletzt zu sein schien. Auffällig war jedoch das Blut, das durch den Stoff ihrer Kleidung am linken Oberarm sickerte.
"Geht es dir gut?", fragte er, griff in die Schüssel, die er nach wie vor in den Händen hielt, und reichte Isala eines der Tücher. "Hier, falls du Wunden haben solltest, verbinde sie damit. Das hilft auch gegen den Nebel, falls er wiederkommen sollte. Wie zum Teufel hast du diese Biester überlebt?"
[ Erst auf dem Hauptdeck bei Liam, Trevor und Talin, dann (mit Trevor?) am Krähennest bei Isala ]