03.07.2021, 23:33
„... Eher beunruhigt, weil ich weiß, wie weit er dafür gehen würde.“, gestand Liam mit einem schrägen Lächeln. Skadi hatte inzwischen vermutlich mitbekommen, dass Alex‘ Sturheit hier und da der eines Esels gleichkam. Seine Entschlossenheit allerdings war noch weniger zu unterschätzen. Wenn James nur ansatzweise ähnlich vorging, musste eine derartige Situation zwangsläufig eskalieren. Vor ein paar Monaten noch hätte der Lockenkopf das für einen lustigen Zwischenfall gehalten. Inzwischen aber rechnete er damit, dass es mehr Probleme bringen würde, als sie ohnehin bereits hatten. Letztlich aber... würde er es kaum verhindern können, sollten die beiden tatsächlich jemals auf den dummen Gedanken kommen, sich in einen Wettstreit zu werfen.
Scheinbar hing Skadi dem Thema gedanklich derart nach, dass der nächste Schritt sie ein wenig überrumpelte. Liam blinzelte nach einer unbestimmten Zeit, als sich Skadis Blick noch immer eigenartig konzentriert in seinen bohrte. Im Grunde war er niemand, der groß über derlei Dinge nachdachte. Er nahm die Dinge, wie sie kamen und ließ sie geschehen, wie sie vorbeizogen. Doch ausgerechnet jetzt, als er sie langsam wieder nach oben führte, kam ihm in den Sinn, wie scheu sie anfangs in Anbetracht ihrer Nähe gewesen war. Nähe, die nicht rein dem körperlichen Vergnügen galt. Es war ein Privileg. „Alles okay?“ Ein Privileg, dass er vor kurzem bereits fast verloren hätte. Hatte er wieder etwas falsch gemacht?
Diese Unsicherheit im Umgang mit ihr - mit jemandem - war ihm insgesamt neu. Er löste die Hand um ihre Finger und trat ein kleines Stück zurück, als befürchtete er, dass ihr tatsächlich das plötzlich zu viel geworden war. Er wollte sie verstehen. Ihre Launen, ihre Ängste. Und musste sich gleichzeitig damit arrangieren, dass sie nicht so offen damit umging, wie er es pflegte. „Mrs. Nordskov.“ Mit einer kleinen Verbeugung - gleichzeitig aber auch überspitzt genug, um die Unernstigkeit offen darzustellen - bedankte er sich ganz den Gepflogenheiten entsprechend bei seiner Tanzpartnerin.
Es klang als würde der dunkelhaarige Lockenkopf über Leichen gehen, so wie Liam es ausdrückte. Und Skadi war sich sicher, dass er es tat – wenn auch in einem vollkommen anderen Zusammenhang. Wirklich schlau war sie bisher aus dem Fremden nicht geworden. Einzig und allein die Erzählungen von Liam hafteten an ihm. An der Art wie er sich gab und sie regelmäßig auf die Palme brachte. Als wäre es für ihn ein leichtes ihre wunden Punkte zu treffen. Mit verbundenen Augen. Einzig und allein ihrem Geruch folgend wie ein Bluthund. Ob Liam ein Problem damit haben würde? Ob er irgendwann wegen all dem ein Problem mit ihr haben würde?
Fast im selben Moment strauchelte sie, verlor den Halt in der unvorhergesehenen Bewegung ihres Gegenübers. Für einen Bruchteil von Sekunden, in denen sie ihren Fuß zu spät nachzog und Liam ein paar Zentimeter mit sich schob. Blinzelnd starrte die Nordskov erst in Liams Miene, dann auf ihre Hand. “Mhm.“, entgegnete sie nickend auf seine Frage und presste die Lippen zusammen. Räusperte sich, kaum dass die feste Wolke an Gedanken zu einem leichten Nebelschleier verpufft war. Und griff mit der freien Hand ins Leere – dort wo noch vor wenigen Atemzügen seine Finger die ihren umschlossen gehalten hatte. Die plötzliche Lücke zwischen ihnen hinterließ etwas Seltsames – ein Gefühl von ungewohnter Schwere. Einer Last, die Skadi nicht recht einzuordnen wusste. Schweigend kreiste ihr Blick über die Bewegung des Lockenkopfes. Von seinen Füßen, bis hinauf zu seinen Schultern. Spiegelte nur schmal das Lächeln auf seinen Zügen und drängte mit jeglicher Gewalt das hinab, wovor sie sich all die Jahre gefürchtet hatte. Mit Enrique hatte dieses Chaos begonnen. Und keiner wusste genau, wohin es mit Liam führen würde.
“Du bist schon ein echter Barde.“ Allmählich kehrte Leben zurück in ihre Zehen. Eine Wärme, die bis zu ihrem Hals hinauf strahlte und sich in einem pulsierenden Knoten verfestigte, den die Nordskov nicht einmal beim zweiten Schlucken hinab bekam. Stattdessen trat sie einen Schritt voraus. Wartete, bis Liam sich zur vollen Größe aufgerichtet hatte und spannte ihre Arme fest um seine Brust. Vergrub erst das Kinn in seiner Schulter, ehe ihre Nasenspitze den Saum des Hemdkragens erreichte.
Sein Mienenspiel verriet, dass sie es abermals schaffte, ihn zu überraschen. „Ein Barde?“, lachte er, bevor seine Erinnerung die Brücke gespannt hatte, die sich dumpf im Nebel auftat. Der Gedanke gefiel ihm jedenfalls besser als manch andere Bezeichnung, die man ihm hätte geben können. Aus manch anderem Mund auf diesem Schiff wäre es vermutlich eher eine Beleidigung gewesen und Liam musste zwangsläufig an Aspen denken. Die Tatsache, dass sie den Scherz in ihren Worten wiedergefunden hatte, beruhigte ihn allerdings. Für einen Moment hatte Skadi gewirkt wie damals, als sie sich mehr zufällig auf Milúi über den Weg gelaufen waren. Unnahbar, verletzlich und so unheimlich zerbrechlich, dass es Liam in jener Nacht bei all dem Alkohol gar nicht aufgefallen war. Inzwischen aber kannte er den Ausdruck auf ihren Zügen. Und rechnete trotzdem – oder gerade deswegen - nicht mit dem, was als nächstes passierte. Das, was zeigte, dass nicht alles okay war. Während er eben noch um jede Sekunde ihres Tanzes gebangt hatte, weil ein Ende auch wieder Distanz bedeutet hätte, räumte ihm die Nordskov nun das Gegenteil davon ein.
Man merkte ihm die Überforderung im ersten Moment vermutlich an, ehe sich seine Arme um ihre Gestalt schlossen und er das Gesicht angedeutet in ihren Haaren vergrub. Mit einem Mal kehrten all die Emotionen zurück, die er damals, vor ein paar Wochen in ihrem Zimmer im Bordell verspürt hatte. Sorge, Angst und gleichzeitig der Ärger darüber, dass sie ihn nicht verstehen wollte und ihm stattdessen Vorwürfe machte. Trotzdem hoffte er in diesem Moment, er würde ewig währen. Weil sie nah war. Weil er sie spüren konnte, riechen konnte. Weil sie ihn ausblenden ließ, was die letzten Wochen gewesen war, statt es Tag für Tag auf dem Gesicht stehen zu haben. „Vergeben und vergessen, aye?“, flüsterte er schließlich. Ehrlich und aufrichtig.
Er roch nach Salz und Meer. Einem Hauch frisch geschlagenem Holz und süßlichem Alkohol, der sich in den Fasern seines Hemdes verlor. Skadi schloss die Augen, während sie sich tief in Liams Arme sinken ließ. Den Kopf im Schatten seines Gesichts verborgen und dem Rascheln lauschend, das sich im Schwappen der Wellen am Bug verlor. “Vergeben und vergessen.“ sagte sie und wusste doch, dass sie ihm Antworten auf Fragen schuldig blieb, die er nie stellen durfte. Um seinetwillen. Oder den Ihrigen. Es machte kaum mehr einen Unterschied. “Können wir einfach so bleiben, bis wir Land erreichen?“Die Nordskov murmelte es leise gegen seinen Hals. Ein hörbares Lächel auf den Lippen und die Finger eine Spur tiefer im Stoff seines Hemdes vergraben. Bereitwillig würde sie sich kaum mehr einen Millimeter von der Stelle bewegen. Wahrscheinlich noch an ihm kleben bleiben, wenn er sich versuchte zur Seite zu drehen oder ihrem Griff zu entkommen. Sie fühlte sich nicht nach Distanz, einer klaffenden Leere, die sich weder mit Gedanken noch jemand anderem füllen ließ. Alles was sie in diesem Moment wollte, war Liam bei sich zu haben. So nah wie irgend möglich. “Ich trete auch freiwillig mein Frühstück an Shanaya ab.“ Ein Angebot, das die Jüngere wohl kaum ausgeschlagen hätte – wenn der Nordskov überhaupt groß nach Mahlzeiten zu Mute gewesen wäre. Seit den Ereignissen auf der Kopfgeldinsel war ihr Verhältnis zum Essen verkorkst. Meist musste Enrique sie daran erinnern. Oft aß sie nur in Gesellschaft von Talin oder dem ehemaligen Offizier. Selten verspürte sie Appetit – war lustlos und unruhig zugleich. Doch jetzt? Gott. Sie konnte ein halbes Schwein verdrücken.
Es lockerte den Knoten in seiner Brust. Weil er ihre Worte ernst nahm und das Vergangene vergangen sein lassen wollte und sich darauf verließ, dass sie es ihm gleichtun würde. „Meinetwegen auch länger.“, lächelte er hörbar und wusste doch, wie unmöglich ihr Vorhaben war. Aber niemand konnte ihnen verbieten, zu träumen, nicht heute, nicht hier. „Aber ich bezweifle, dass Rayon uns einfach verhungern lassen würde.“ Die Palpitation konnte er inzwischen bis in die Fingerspitzen spüren, während er versuchte, sich rein auf ihre Atmung zu konzentrieren. Sein Blick ruhte gegenstandslos auf einem Punkt auf ihrem Hinterkopf, während seine Hand einmal sanft über ihr Haar strich. Es gab so vieles, was unausgesprochen und doch so klar zwischen ihnen lag. Was nicht gesagt werden musste, nicht gesagt werden konnte und auf eine gewisse Weise auch nicht gesagt werden wollte. Es fühlte sich falsch und richtig zugleich an und Liam verfluchte dieses Gefühl; liebte und hasste es gleichzeitig und wünschte sich doch, dass es blieb. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich irgendwann einmal annähernd nachvollziehen könnte, was mein Vater damals meinte.“ Er wusste selbst nicht, ob er mit sich selbst redete oder es tatsächlich für Skadi bestimmt war.
Rayon. Ein Mann der irgendwie alles war – nur nicht das, was Lucien, Zairym oder sie selbst an Gewaltbereitschaft verkörperten. Ein Seefahrer, der mit nur einem Blick das Innerste nach außen kehrte und eine Gänsehaut hervor rief, die nichts mit Erregung oder Panik gemein hatte. Schon einmal hatte sich die Nordskov gefragt, wie viel er bereits in den wenigen Augenblicken ihrer Begegnung aus ihr hatte lesen können. Wie viele Facetten dieses Bildes der Realität entsprachen. Ob ihre natürliche Vorsicht berechtigt war, die sie stetig bei Talin und Liam walten ließ. Denn Freundlichkeit – und das hatte sie auf ihre ganz eigene Art und Weise gelernt - war nichts, das man einem leichtsinnig schenkte. Dennoch schmunzelte sie. Bei der Vorstellung, wie der Berg von einem Mann mit zwei winzigen Schüsseln in den Händen an Deck kam und sie wortlos neben sie stellte. Mit einem vielsagenden Lächeln auf den Lippen, dass ihr augenblicklich Hitze in die Wangen trieb. “Macht wahrscheinlich schon der Berufsethos.“ Ein Lachen hockte kurzweilig zwischen Magen und Brust, traute sich jedoch nicht vollständig nach oben. “Und so oft, wie er uns schon fast erwischt hat.“ Langsam lösten sich die langen Finger aus Liams Rücken. Umkreisten die gegenüberliegenden Seiten und zogen die spürbaren Linien seiner Rippenbögen nach. Mit jeder verstreichenden Sekunde entspannte sich die Jägerin spürbar. Lehnte wie ein Puzzlestück gegen seine Brust und blinzelte den Holzkisten entgegen, die irgendwo in ihrem Blickfeld verschwammen. Liams Worte überraschten sie nicht. Der Ton seiner Stimme. Die Gelassenheit die durch seinen ganzen Körper strömte, vibrierte auf ihrer Haut. An jedem kleinen Punkt, den sie berührte. Mit den Fingerspitzen oder an der Wange, die nun dicht bei seinem Schlüsselbein ruhte. “Was nachvollziehen?“
Das Schmunzeln zog sich bereits breit über seine Lippen, bevor Skadi ihren Satz beendet hatte. Vermutlich war Rayon an Deck tatsächlich derjenige, der am meisten wusste. Nicht nur über sie, sondern über jeden von ihnen. Er war ein Zuhörer, der gleichzeitig aber nicht davor scheute, sich ebenso zu öffnen. In den letzten Monaten hatte Liam den Dunkelhäutigen sehr zu schätzen gelernt. Und angenommen, er hätte irgendetwas dagegen gehabt, dass man sie erwischte – bei Rayon hätte es ihn am wenigsten gestört. Im Grunde hätte es ihn sogar gewundert, würde der Dunkelhäutige nicht wissen, dass da mehr war. Er hatte einen Blick dafür. Für alles, was den Menschen um ihn herum wichtig war. Und da gab es nichts mehr, was Liam leugnen konnte.
Vermutlich bemerkte er erst, dass er seine Gedanken wirklich ausgesprochen hatte, als Skadi nachfragte. Im Grunde wartete er auf diesen flüchtigen Moment, der ihn dazu bringen wollte, ihre Frage mit einem beiläufigen Kommentar abzutun, doch er blieb aus. Vielleicht, weil er bezweifelte, dass die Gelegenheit, so offen zu sprechen, bald schon wieder auf sich warten lassen würde. Vielleicht hatte aber auch die geringe Menge an Schnaps die Finger im Spiel – wie dem auch war: er hatte nicht vor, auszuweichen und genehmigte sich dennoch einen Moment, um seine Gedanken zu ordnen. „Wie sich Zuhause anfühlen kann.“ Wie es war, jemanden gefunden zu haben, auf den man nicht sauer sein konnte. Jemanden, mit dem sich die Ewigkeit für einen Moment erträglich anfühlte. Jemanden, der die Angst fürs erste zurückdrängte.
Liam wusste, was er sich damit eingestanden hatte. Skadi hingegen kannte seine Eltern nicht. Kannte die Reinheit nicht, die ihre Beziehung gehabt hatte. Und er würde es ihr nicht auf die Nase binden. Sie durfte sich selbst aussuchen, was sie verstehen wollte und was nicht. Sein Herz klopfte gefühlt an irgendeinem undefinierbaren Punkt in seinem Oberkörper, deutlich und stark. Er erwartete keine Antwort, selbst wenn sich etwas in ihm nach einer Reaktion sehnte. Doch statt ihr die Gelegenheit zu lassen, hob er den Kopf, schob ihr Kinn mit der Hand etwas empor und küsste sie.
Augenblicklich verkrampfte sich etwas tief in ihrer Brust, noch während Liam einen Arm von ihr löste, um die langen Finger unter ihr Kinn zu legen. Benommen und vollkommen überfordert starrten die dunkeln Augen der Nordskov in seine – unfähig ein Wort heraus zu bringen. Wie sich Zuhause anfühlen kann. Es hallte wie ein Echo in ihrem Kopf nach und hinterließ feine Verbrennungen in ihrem Verstand. Sie zweifelte keine Sekunde daran, wie diese Worte gemeint waren. Wie tief all das mittlerweile ging, was sie beide so fein säuberlich unter einem Mantel aus Schweigen versteckt gehalten hatten. Und die Nordskov fürchtet sich vor den Konsequenzen, die all dies mit sich brachte. Augenblicklich dachte sie an Enrique. Den Abend, an dem er weinend in ihren Armen gelegen und sie gleichsam mit dieser kindlichen Furcht und Panik zurück gelassen hatte, die sie nun in diesem Moment spürte. Es stand außer Frage, dass sie ihr Leben für diese beiden Männer geben würde. Ohne zu Zögern. Doch was, wenn sie verschwanden? Durch die Hand der Anderswelt. Oder weil ihnen die Weite dieser Welt und ihrer Möglichkeiten bewusst wurde und es keinen Platz mehr für sie in ihrem Leben gab? Skadi schluckte. Unterdrückte das kurzweilige Zittern tief in ihren Eingeweiden und umfasste den feinen Stoff seines Hemdes mit geballten Fäusten. Sie wollte nicht, dass Liam ging. Und wusste doch, dass es Teil seiner Natur war. Dessen, was sie so sehr an ihm schätzte. Doch mehr als das war ihr schmerzlich bewusst, dass es zu spät war, um umzukehren. Zurück zu dem Abend, an dem sie sich zum ersten Mal fern ab des Schiffes und der anderen begegnet waren. An dem aus zwei Fremden, Bekannte, Freunde und Liebende wurden.
“Ich hoffe… “, hauchte sie ihm gegen die Lippen. Spürte dem starken Klopfen hinter ihrer Brust nach und stieß ein amüsiertes Schnauben aus. “Ich hoffe dass du dir das gut überlegt hast.“ Es brauchte einen tiefen Atemzug ehe sie von seinen Lippen zu seinen Augen hinauf sehen konnte. “… ich verlasse mein Zuhause nur sehr ungern wieder.“
Sein Glück war, dass er so sehr mit all dem beschäftigt gewesen war, was ihm selbst durch den Kopf geisterte, dass ihm der flüchtige Ausdruck auf Skadis Zügen nicht mit voller Wucht traf, ehe seine Lippen ihr die Möglichkeit zu antworten raubten. Dieser Ausdruck, der an ein junges Reh erinnerte, das zu spät bemerkt hatte, in welch missliche Lage es sich gebracht hatte. Ein Moment, in dem der Musiker ansonsten womöglich versucht hätte, die Situation ungalant zu retten, sie beide peinlich berührt gelacht und ihrer Wege gegangen wären – mit dem gleichen Gefühl in der Magengegend, das ihn die letzten Wochen begleitet hatte. Doch obwohl die Nordskov gerade jetzt, wo er so feinfühlig auf eine Reaktion wartete, die ihn weiterbrachte, für ihn kaum einzuschätzen war, hatte er nicht vor, zurückzurudern. Weil – in seinen Augen – nichts schlimmes an seiner Aussage lag. Er war ein Mensch der Wahrheit, der Ehrlichkeit und der Direktheit, wenn man ihn ließ. Eben weil er dieses Versteckspiel nicht mochte. Diese Ungewissheit, wenn man nicht wusste, woran man war. Diese fremde Unsicherheit im Umgang mit jemandem, dem man eigentlich nah war.
Je länger es still blieb, desto mehr kroch allerdings auch ihm wieder die Nervosität unter die Haut. Unter dem verändernden Zug an seinem Hemd durch ihre Finger glaubte er zu spüren, wie ihre Gedanken rotierten. Er blinzelte. Ein Hauch von Unsicherheit hatte sich längst im dunklen Braun seiner Augen niedergelassen. Erst, als die Nordskov tatsächlich leise die Stimme erhob, huschte sein Blick von ihrer Nasenspitze wieder gezielt zu ihren Augen zurück. Und dann folgte Schweigen. Dieses Mal von seiner Seite, bis wenige Herzschläge später ein Zucken in seine Mundwinkel kroch, das recht bald zu einem Schmunzeln heranwuchs. Einem Schmunzeln, wie man es eigentlich von ihm kannte. Verschmitzt, sorglos und unerschütterlich. „Du denkst zu viel.“, kommentierte er wohlwollend. „Was kümmert uns gestern. Was kümmert uns morgen, wenn wir die Gegenwart haben?“ Er hatte ihr Gegenüber in diesem Moment einen gewaltigen Vorteil: Er konnte die Tragweite gar nicht abschätzen. Weil er es nicht kannte. Weil es eine absolut neue Erfahrung für ihn war, der er sich stellen wollte.
Sie verengte die Augen. Musterte das spitzbübische Funkeln auf Liams Miene und hätte ihm zu gern gefühlvoll in die Seite gekniffen. Natürlich dachte sie zu viel über all das nach. Denn für sie war das was sie hier taten kein vergnüglicher Zeitvertreib, den man schnell zur Seite legte, wenn es nicht mehr zu einem passte. Vielleicht, und das konnte die Nordskov nur mutmaßen, kannte der Musiker diese Art der Beziehung nicht. Es hatte ihn nie lang genug an einem Ort gehalten, um sich länger an eine Sache oder jemanden zu binden. Auf romantische, nicht freundschaftliche Arte und Weise wie er sie mit Alex hegte. “Ich bin ein gebranntes Kind… was morgen sein wird, hat für mich genauso viel Bedeutung, wie das was gestern war und heute ist.“ Langsam zog sie ihre Hände über seinen Rücken zurück auf seine Hüften. Umfasste sanft die spürbaren Knochen und seufzte. Unter einem tiefen Atemzug hinweg, der ihren Blick von seiner Miene in Richtung Meer zog. “Diese Entscheidung treffe ich nicht leichtfertig, um sie morgen wieder zu ändern. Dafür ist sie viel zu wichtig…“ Und schmerzhaft. Doch das würde sei Liam nicht auf die Nase binden. Nicht nachdem diese Leichtigkeit zwischen ihnen zurückgekehrt war und sie sich in seiner Gegenwart weniger wie ein dunkler Schandfleck fühlte.
Für einen kurzen Moment senkte er den Blick und wich der Forderung seiner Gegenüber so unbewusst aus. Er war niemand, der groß Pläne schmiedete und durchdachte, was der nächste Tag bringen konnte. Er lebte in den Tag, nahm das, was kam und machte das Beste draus. Weil er nur zu gut gelernt hatte, wie man verdrängte, was dort auf einen lauerte. Eigentlich war die Antwort auf ihre Frage nicht schwer. Natürlich hatte er sich nicht überlegt – nicht so jedenfalls, dass er Skadi gegenüber an diesem Punkt guten Gewissens mit ‚Ja‘ antworten konnte. Weil er bezweifelte, dass all die Gedanken, die ihn die letzten Tage, Wochen begleitet hatten, reichten. Sie hatten sich nie um morgen oder gar übermorgen gedreht – das Einzige, was wichtig gewesen war, war Skadi, ihre Freundschaft und das, was dort im Unbekannten brodelte und dennoch nicht zu greifen gewesen war. Dass er ihre Stimme hören wollte, ihre Nähe genießen – ganz gleich, wie lange es wohl dauern würde. Liam wusste, dass sein Schweigen bereits zu lange anhielt, um durchdacht zu wirken. Aber er war zu ehrlich, als dass er nun versucht hätte, ihr etwas vorzumachen. Allein schon, weil sie es nicht verdient hatte. Und weil es ihr wichtiger war als Liam es empfunden hatte. Wie lange machten sich Menschen üblicherweise über so etwas Gedanken? War das schon der Punkt, an dem man zurück in den sicheren Hafen ruderte und das Abenteuer Abenteuer sein ließ? War es das, was sie nun von ihm erwartete?
„Skadi.“, begann er nach einem tiefen Atemzug. Das Lächeln auf seinen Lippen begleitete ihn nachwievor, auch wenn die Nervosität es verzerrte. Man sah ihm an, dass er nachdachte und die Worte, die er suchte, nicht leichtfertig über seine Zunge kamen. „Du kennst mich inzwischen gut genug, um zu wissen, dass ich dir nichts versprechen kann, was ich nicht sicher halten kann.“ Weil es nicht in seiner Hand lag. Weil er die Zukunft nicht kannte. Die Zukunft, die weiter weg lag als das Morgen. „Aber -“, betonte er. „Ich würde hier nicht stehen, wenn mir nichts an dir liegen würde. Ich war an so vielen Orten, habe so viele Menschen kennengelernt. Und in all den Jahren war ich fest davon überzeugt, dass es in meinem Leben keinen Platz dafür gibt, für irgendjemanden mehr zu empfinden als Freundschaft. Und jetzt stehe ich hier und bin bereit, mit dir ins kalte Wasser zu springen.“ Seine Hände lagen sachte auf ihren warmen Wangen. Er erwiderte ihren Blick so entschlossen, wie er seine Worte meinte. „Wenn dir das reicht, spring mit mir. Wenn nicht, bin ich der letzte, der es dir übel nimmt.“
Liam schwieg. Länger als Skadi bewusst wurde, dessen Blick zur Seite gerichtet und gleichsam abwesend war. Die Stille zwischen ihnen hatte an Kraft verloren. Am bitteren Beigeschmack, der die letzten Wochen intensiver und nachhaltig an ihrem Gaumen geklebt hatte. Zurück war nur ein sanftes Rumoren geblieben, das sich irgendwo in den tiefen ihres Magens verlor. Erst beim Klang ihres Namens kehrte Leben in die Szenerie. Skadi hob den Kopf. Blinzelte Liam entgegen, der offensichtlich alle Mühe hatte seine Gedanken in Worte zu fassen. Abwartend und mit einer gesunden Skepsis in der Brust musterte sie ihn. Die Hände nach wie vor auf seiner Hüfte ruhend, weil alle Konzentration auf sein Gesicht gerichtet war. Dann folgte ein Zucken. So klein und schmal, dass es kaum über ihre Mundwinkel hinaus ragte. Sie hatte ihm kein Versprechen abringen wollen – und das hatte weniger mit seinen Eigenarten als mit dem Schicksal zu tun, das ihr Leben oft genug auf den Kopf stellte. Doch es setzte eine Wärme in ihrem Körper frei, die sich mit jedem weiteren seiner Worte in angenehmer Röte auf ihrer Haut abzeichnete. “Wie gut, dass ich schwimmen kann.“, entgegnete sie mit dem Anflug eines Lachens in der Stimme. Presst die Lippen unter einem halben Grinsen fest aufeinander, nur um einen Augenblick später die Hände über seinen Bauch zu seiner Brust hinauf zu führen.