02.07.2021, 22:15
Bei aller Sanftheit, die Rayon aufbrachte, zuckte der Musiker dennoch in böser Voraussicht zusammen. Sein Körper schmerze noch immer an jeder erdenklichen Stelle und war übersät mit Hämatomen und Prellungen. Eine Schlägerei forderte ihren Tribut, doch letztlich war es das allemal wert gewesen. Liam bezweifelte, dass Nathan diese Nacht allein überlebt hätte. Schwach atmend in irgendeiner Ecke entsorgt, bis er seinen Verletzungen erlag – und ohne Alex, Lucien und Skadi hätten sie vermutlich auch zu zweit so enden können. Der Gedanke allerdings war so flüchtig, dass er ihm nicht länger nachhing. Er lebte nicht in der Vergangenheit – sein Blick lag auf dem Sein und dem, was da noch kommen wollte, bis seine Zeit gekommen war.
„‚Wir‘ meinst du bestimmt. ‚Typen wie wir‘.“, korrigierte er den Dunkelhäutigen mit einem ehrlichen Grinsen. „Wobei du dich vermutlich mehr damit identifizieren darfst als ich. Denn, sind wir mal ehrlich -“ Liam räusperte sich, atmete hörbar belustigt, ehe er den Blick wieder zu seinem Freund herumwandte. „Ich bin ein ziemlich mieser Pirat.“
So sehr es auch als Scherz gemeint war, so viel Wahrheit steckte auch in seiner Aussage. Der Lockenkopf war viel mehr ein Mitreisender, ein Geduldeter, wenn man ihn fragte. An den meisten Tagen machte ihm das überhaupt nichts aus. An anderen Tagen zog das Fernweh seine Gedanken dafür umso weiter fort. Aber mal ehrlich: Ein Pirat, der sich davor scheute, Leute zu ermorden, Menschen zu verkaufen, Schiffe zu überfallen und sich sinnlosen Prügeleien hinzugeben? Er passte weder in das düstere Bild, das die Gesellschaft von Piraten zeichnete, noch in das romantische – stark, unbesiegbar, entschlossen, unabhängig und furchtlos. Aber das war okay. Er war wie er war und bislang war er ganz glücklich mit seinen Entscheidungen gewesen. Er machte halt das beste aus dem, was man ihm gab. Das beste aus der Zeit, die sich unaufhörlich weiterdrehte, bis sie früher oder später zum Erliegen kommen würde.
Auf Rayons Nachfrage hin lächelte er erneut hörbar und wog den Kopf langsam von einer Seite zur anderen. Der Hüne hatte heute ein Talent dafür, Fragen zu stellen, die er weder mit ‚ja‘ noch mit ‚nein‘ beantworten konnte.
„Sowohl als auch.“, antwortete er deshalb und warf seinem Freund ein entschuldigendes Lächeln zu. „Wären Alex, Lucien und Skadi nicht gewesen, hätten wir vermutlich Glück gehabt, wenn irgendwer unsere Teile von der Straße aufgesammelt hätte. Denn wie du dir bestimmt denken kannst, ging es natürlich nicht mit fairen Dingen zu.“
Liam machte eine kurze Gedenkpause, ehe er mit der Pointe rausrückte.
„Ich habe es mir leider erst gedacht, als es bereits offensichtlich war.“ Aber obwohl er das noch immer schmerzlich büßte, war ihm kein Lachen auf seine Kosten zu schade. Außerdem lenkt es ab. „Aus ‚Zwei gegen Einen‘ wurde also recht bald ein ‚Drei gegen Zwei‘. Und dann herrschte Chaos und es war ein ‚Jeder gegen Jeden‘, das uns vermutlich den Hals gerettet hat. Also Nathan und mir jedenfalls. Nathan, so hieß er Kerl, mit dem ich in den Ring steigen durfte.“
Gedanklich ließ er den Abend Revue passieren und kam nicht umhin, wieder zu bemerken, wie groß der Zufall gewesen war, ausgerechnet Alex dort zu begegnen. Allein sein Freund hatte ihre Chancen drastisch erhöht. Nicht nur, weil Alex im Vergleich definitiv eher der Typ für den Ring gewesen wäre, sondern auch, weil sie gemeinsam bislang aus so gut wie jeder brenzligen Situation gekommen waren. Unruhe stiften, Chaos nutzen, den Vorteil ziehen. Doch dieses Mal drängten sich zwangsläufig immer wieder Lucien und Skadi mit hinein – ungewohnt. Weil es in jeder Geschichte mit Alex immer nur sie beide gegeben hatte. Und später Lubaya.
„Lucien und Skadi waren wohl zum Vergnügen dort.“, sprach er schließlich aus, aus sich ihm gedanklich so aufdrängte, allerdings ohne es irgendwie zu bewerten.