27.05.2021, 17:19
Noch aus der Bewegung heraus, mit der er sich das Blut aus der brennenden Platzwunde wischte, nickte er seiner Schwester bestätigend zu. Sie würde sich um die Tücher kümmern. Darum, dass jeder Mund und Nase und bei Bedarf seine Verletzungen damit bedeckte. Damit konnte er zumindest ein Problem von der Liste der Dinge streichen, um die sie sich kümmern mussten. Auch, wenn diese Maßnahme vielleicht nicht reichte. Sie war besser als nichts.
Der Dunkelhaarige verschwendete keine Zeit damit, Talin nachzusehen, als sie vom Achterdeck verschwand, sondern richtete die tiefgrünen Augen auf die verbliebenen drei Piraten und verfolgte mit nachdenklich gerunzelter Stirn die rasch untereinander gewechselten Worte. Fast beiläufig registrierte er dabei Shanayas Schonhaltung, während im Hintergrund weitere Gesprächsfetzen über das Deck zu ihm hinauf drangen, deren Inhalt er jedoch nicht verstand. Jemand rief vom Krähennest hinunter, ließ Lucien im ersten Moment glauben, Skadis Stimme erkannt zu haben. Doch bevor er sich dessen sicher sein konnte, verstummte sie bereits wieder. Alex antwortete, nach ihm Greo, dann das donnernde Kreischen einer dieser Vögel, das ihn reflexartig den Blick heben und abwartend die Luft anhalten ließ.
Doch nichts geschah. Weder der Schrei eines Menschen, noch der eines Vogels folgte, und auch die Sphinx lag so ruhig wie zuvor auf den schwankenden Wellen. Damit blieben ihnen ein paar Sekunden mehr. Eins nach dem anderen jetzt, hörte er die mahnende Stimme Kalems in seinen Gedanken, stieß den Atem aus und wandte sich an die beiden Männer auf dem Achterdeck, ohne auf das Gespräch von zuvor einzugehen.
„Greo, übernimm für einen Moment das Steuer. Rym, kennst du dich mit Kampfverletzungen aus?“
Obwohl er sich ziemlich sicher war, dass ein Söldner diese Art der Erste Hilfe zumindest halbwegs beherrschte, wartete Lucien die Bestätigung desselben ab, bevor er mit einem Nicken auf Shanaya deutete.
„Sieh dir ihren Arm an und tu, was du kannst.“ Mit einem Blick auf die Schwarzhaarige fügte er mit einem trockenen Lächeln an sie gewandt hinzu: „Wir brauchen dich bestenfalls in einem Stück, wenn wir uns vom Acker machen wollen.“
Nur, dass ihm dafür noch eine Richtung fehlte. Shanaya schlug eine Flucht nach Westen vor, er selbst tendierte zu einer nach Norden führenden Route. Doch er konnte keine Entscheidung treffen, ohne zu wissen, wie sich der Nebel bewegte und von welcher Insel in den Rufen aus dem Krähennest die Rede gewesen war. Noch dazu wusste nur einer, wie weit sich das Jagdgebiet der Vögel erstreckte. Wenn er also nicht Gefahr laufen wollte, länger als nötig in dieser nebligen Suppe zu hängen oder, wie Shanaya zu Bedenken gegeben hatte, wieder mitten im Revier dieser Kreaturen zu landen, brauchte er Ceallagh.
Lucien wandte sich dem Hauptdeck zu, als eine unerwartet kräftige Windböe über das Schiff fegte. Die gerippten Segel klapperten an den Masten, der Nebel geriet in Bewegung und wenn ihn nicht alles täuschte, wurde die Sicht mit einem Mal deutlich besser. Gestalten schälten sich aus dem Nebel, Meter um Meter Reling und Planke erschienen in trübem Weiß.
Plötzlich war der Blick auf den Trubel unter ihnen wieder frei. Und nicht nur das.
„Was zum...?“
Irgendwo am Rande seiner Wahrnehmung hörte er Alex‘ Frage, ob sie den Anker lichten sollten, als er an die Brüstung trat, die aufs Wasser hinaus wies. Eine Antwort blieb er ihm jedoch schuldig. Denn dort, keinen Steinwurf von ihnen entfernt, lag der Schoner, den sie verfolgt hatten. Halb sinkend in den Trümmern eines anderen Wracks, das es hier an dieser Stelle überhaupt nicht geben sollte. Es gab keinen Grund, auf dem es hätte liegen können. Kein Riff, keine Felsformation.
Und auch das Handelsschiff hätte nicht dort sein sollen, wo es jetzt war. Sie hätten noch eine gute Viertelstunde Rückstand haben müssen. Selbst wenn es unmittelbar nach dem Verschwinden im Nebel auf das Wrack aufgelaufen war. Also was ging hier vor?
Erst Ryms Stimme riss den Dunkelhaarigen aus seiner Starre, ließ ihn den Blick herum wenden und eine Sekunde später den Kopf schütteln.
„Warte noch. Kümmer dich um Shanaya. Ich glaube nicht, dass sie in ihrem Zustand noch eine Gefahr darstellen...“
Dann sah er wieder zu den beiden halb zerstörten Schiffen hinüber, erkannte auf dem Heck des Wracks die Buchstaben, die seinen Namen bildeten und blieb für einen Moment daran hängen – bevor James seine Aufmerksamkeit gänzlich davon ablenkte.
Lucien wandte sich zu den beiden Männern um, die nun das Achterdeck betraten, öffnete für einen Moment den Mund, als wolle er etwas antworten, und schloss ihn dann unverrichteter Dinge wieder. Ein verwundertes Stirnrunzeln legte sich auf seine Züge, während er den Neuankömmling kurz musterte und James dann zunickte. Eine Hand legte er dabei auf den Knauf seines Degens und dachte mit einem flauen Gefühl im Magen an Greos Frage nach ihrer Bewaffnung.
„Lass ihn hier, wir haben ein Auge auf ihn. Was ist mit den anderen? Geht’s allen soweit gut?“
Noch einen Moment lang ruhten die tiefgrünen Augen auf dem Fremden, bevor er den Blick auf James richtete und auf eine Antwort wartete.