02.05.2021, 12:50
In der Tat war Rayon damals nicht sonderlich begeistert von der Idee gewesen, sich um die gewünschten Informationen prügeln zu müssen. Angesichts seiner durchaus einschüchternden Größe und Statur konnten Menschen, die ihm zum ersten Mal begegnen, oftmals kaum glauben, dass hinter diesem äußerlichen Eindruck ein überaus sanftmütiger Mann steckte, der nur dann zu Gewalt griff, wenn ihm keine andere Wahl blieb - oder wenn jemand in Gefahr war, der ihm viel bedeutete. Auch er verstand sich deshalb zwar mehr aufs Trinken als aufs Kämpfen, insbesondere mit den Fäusten, aber er war dem Großteil seiner Gegner in besagten Ringkämpfen schlichtweg zu überlegen gewesen. Viele von ihnen hatten nicht sonderlich viel Muskelkraft besessen, weil sie schlicht zu ausgemergelt waren, und die meisten waren zu dämlich gewesen, um diesen Mangel durch ausgefeilte Technik auszugleichen. Das hatte ihm in die Karten gespielt, aber Spaß hatte es ihm ganz sicher nicht bereitet, diese bemitleidenswerten Kleinkriminellen auf die Bretter zu schicken. Er hatte für solch barbarische Methoden, Konflikte zu lösen, wahrlich nicht viel übrig.
Liams Worte ließen ihn dementsprechend breit grinsen, denn genau diesen Gedanken hatte er damals auch gehabt. Alternativ hatte er sogar vorgeschlagen, im Austausch für die Informationen eine Woche lang für die ganze Bande zu kochen, auf eigene Kosten. Aber die Prioritäten lagen auf der Straße anscheinend schlichtweg woanders.
Interessierte hörte der Dunkelhäutige seinem Freund dann zu, als dieser ihm verriet, wie genau es zu dieser Auseinandersetzung gekommen war. Dass es ihm dabei darum gegangen war, die Ehre einer Frau - und die Habseligkeiten Shanayas - zu verteidigen, passte zu ihm. Es hätte Rayon auch stark gewundert, wenn Liam sich einfach so aus Spaß an der Freude auf diese Art und Weise die Hände schmutzig gemacht hätte. Die Geschichte klang in jedem Fall nach einer Verkettung unglücklicher Ereignisse, je nach Blickwinkel. Für die Frau, die Liam vor der Misshandlung gerettet hatte, war er sicherlich zum absolut richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort gewesen, für Liam selbst und damit auch den Rest der Crew hieß das im Zweifelsfall jedoch, dass er unter Umständen eine Menge Aufmerksamkeit erregt hatte. Das hing ganz davon ab, ob der Mistkerl, mit dem er sich angelegt hatte, viele Kontakte in der Unterwelt hatte. Und ebenfalls davon, wie nachtragend er war. Rayon wusste nur zu gut, dass es unklug war, sich darauf zu verlassen, dass offene Angelegenheiten tatsächlich sich durch so etwas restlos aus der Welt schaffen ließen. Weniger besorgt war er deshalb nicht, aber er konnte Liam beim besten Willen keinen Vorwurf machen. An seiner Stelle hätte er vermutlich genauso gehandelt.
Ein sanftes Lächeln legte sich auf Rayons Lippen und er klopfte seinem Freund anerkennend auf die Schulter.
"Weißt du, Typen wie du werden irgendwann noch einmal der Grund dafür sein, dass niemand sich mehr vor Piraten fürchten wird", sagte er und lachte, im vollen Bewusstsein, dass er auch so ein Typ war.
Grundsätzlich bestand die Crew der Sphinx größtenteils aus beeindruckend aufrichtigen Menschen, die aus den verschiedensten, oftmals kuriosen Gründen auf das Schiff gekommen waren. Er selbst war da definitiv keine Ausnahme, ganz im Gegenteil. Der Grund, warum er überhaupt Pirat geworden war, war schließlich die selbstlose Hilfe der Besatzung der Siréne gewesen, die sein Heimatdorf von den Überfällen der Marine befreit hatte.
"Eines musst du mir aber noch verraten...", setzte der Schiffskoch an, und sein Lächeln wandelte sich in ein verschmitztes Grinsen. "Hast du den Kampf denn wenigstens gewonnen? Oder wurdet ihr windelweich geprügelt?"
Die Tatsache allein, dass Liam durchaus Spuren von diesem Kampf davongetragen hatte, sagte schließlich noch nicht viel über sein Ergebnis aus. Sowohl Sieger als auch Verlierer gingen äußerst selten unbeschadet daraus hervor.