01.05.2021, 11:19
Wie leicht es gewesen wäre…
In diesem Moment spürte Tarón das Gewicht der – eigentlich für den Angriff auf das andere Schiff – geladenen Waffe an seiner Hüfte überdeutlich. Ein Griff, eine schnelle Bewegung. Ende.
Aus dieser Distanz würde er nicht verfehlen und James hätte keine Chance eine Deckung zu suchen, ehe es bereits vorbei war. Seine einzige Hoffnung würde darin bestehen, dass der verdammte Nebel der Steinschlosspistole bereits so zugesetzt hatte, dass sie nicht feuern würde.
Für einen Augenblick wäre er der Versuchung wirklich gerne nachgekommen – und das nicht mehr vornehmlich, weil James sich an Soula vergriffen hatte, sondern alleine wegen der Großschnäuzigkeit, die der Typ besaß. Vor zehn Jahren hätte James nun ziemlich sicher seinen letzten Atem auf diesen Planken ausgehaucht – ungeachtet aller Konsequenzen, die das für Tarón selbst gehabt hätte. Und wenn nicht gleich, dann bei der nächsten Gelegenheit, die sich dem Falken zum Angriff geboten hätte.
Doch auf der Sphinx ging man mit den Dingen anders um, als auf der Oceans Hangman und Tarón war keine 20 mehr – genauso wie James. Gerade das machte dessen Vergehen in den Augen des Falken jedoch nur schlimmer.
Wäre James ein pubertierender Junge gewesen hätte die Ohrfeige gereicht, die er sich von Soula eingefangen hatte. Aber vor ihm stand ein Mann der kaum jünger war, als er selbst – und der in seinem damit doch recht langen Leben offenbar Garnichts begriffen oder die völlig falschen Lektionen gelernt hatte.
Anders als Tarón?
Zumindest war die Entscheidung des Falken James nicht physisch anzugreifen gefestigt genug, dass er nicht nur selbst keine Hand gegen ihn erhob, sondern auch eine andere Gefahr von ihm abwandte.
Etwas womit zumindest Alex nicht gerechnet zu haben schien, wenn Tarón den Zischlaut aus dessen Richtung richtig einordnete (er hoffte zumindest, dass dieser etwas mit seinem Intermezzo mit James und nicht etwa mit irgendwas Rúnar betreffend zu tun hatte).
Tarón sah den Flecken dunklen Blaus aus den Augenwinkeln, doch eigentlich war es Calwahs aufgebrachtes Fauchen, das ihn rechtzeitig auf die Echse aufmerksam machte.
Irgendwie freute es ihn ja, dass das garstige Ding doch so etwas wie Liebe für ihn zu empfinden schien – oder zumindest einen Sinn für Besitzansprüche hatte. Was auch immer ihn genau verleitete: Calwah wollte ihn vor James verteidigen – doch das konnte der Falke auch allein und ein Angriff der Echse würde in dieser Situation nur zu einer von ihm nicht gewollten Eskalation beitragen.
Tarón veränderte seine Haltung kaum merklich und doch schob sich sein Fuß so zur Seite, dass er in das Blickfeld seines schuppigen Begleiters trat.
Kein Befehl, keine Drohung. Aber der deutliche Hinweis, dass er hinter ihm bleiben sollte…und ausnahmsweise - Tarón dankte der Göttin im Stillen – war das Vieh nicht auf eine Diskussion aus. Immer noch bösartig fauchend und die kleinen Augen auf James gerichtet, wie ein tollwütiger Hund blieb Calwah an Taróns Seite stehen und nickte aufgebracht mit dem Kopf, um seinem Unmut Luft zu machen.
Dass Calwah hier war hieß auch, dass Rúnar in Sicherheit sein musste – und auch darüber verspürte der Seemann Erleichterung. Das war eine Sache weniger, um die er sich nun noch persönlich kümmern musste.
Sein Lächeln indes verschwand nicht, als Tarón James weiter ansah – im Gegenteil packte er noch einen drauf, als er süffisant die rechte Braue hob.
„Was denn? Sind wir etwa selbst etwas verklemmt? Hm…“
Sein Blick wanderte vielsagend zu dem Stück Stoff, hinter dem sich James bestes Stück verbarg. (Oder wahrscheinlich verbarg -wirklich viel hatte der Falke davon nicht gespürt. Was er durchaus als Erfolg verbuchte.) Um dem ganzen noch richtig Feuer zu geben, leckte er sich kurz über die Zähne, ehe er ein fast bedauerndes Schulterzucken andeutete.
„Frigide auf jeden Fall… muss ja so sein, wo ich doch so ein heißer Typ bin! Ich bin überrascht – und ein wenig enttäuscht! Normalerweise wären wir beide schon längst nackt und würden hier vor allen übereinander herfallen wie zwei brünftige Seelöwen!“
Mit einem Schulterzucken sah er Soula an an, ehe er wieder James betrachtete.
„Ich glaube es liegt am Bart…ich hätte mich rasieren sollen.“
Kunstpause – Tarón ließ die Sekunden verstreichen, als würde er den Sand in einer Uhr beobachten, ehe er die Stirn in Falten legte und entsetztes Überraschen mimte.
„Oh…warte mal! Oder liegts vielleicht daran, dass du nicht auf mich stehst, hübscher Junge? Bin ich einfach nicht dein Typ? Wäre das vielleicht möglich?“
Soula warf ihrerseits ihre durchaus berechtigte Meinung des Burschen ein und Tarón konnte nicht anders, als mit einem Zucken seiner Miene zu verstehen zu geben, dass er ihre Haltung aktuell durchaus nachvollziehen konnte.
Sein Blick bohrte sich wieder in James Augen.
Auf dessen Spielchen ließ er sich gar nicht erst ein – weder zu einer Antwort was Soula betraf hinreißen noch dazu doch noch physische Gewalt anzuwenden, die James die Chance gegeben hätte das Bild seiner Vorstellung von Männlichkeit wieder für sich geradezurücken. Hier und jetzt zwang er dem anderen seine Regeln auf – sie spielten jetzt sein Spiel.
Und Tarón spielte es in der vielleicht vergeblichen Hoffnung, dass dieser Holzkopf vor ihm doch noch etwas Verstand und Einsicht besaß.
Natürlich würde James hier nicht vor allen in Reumut verfallen, irgendetwas eingestehen oder nur einen Zentimeter von seiner Haltung weichen. Egal wer ihm hier noch eine verbale Schelle neben Soula und Tarón verpassen würde. Das war auch nicht nötig, nicht, was Tarón erwartete. Aber vielleicht würde er sich beim nächsten Abend in der Koje an das Gefühl erinnern, das der Falke auf seinen Lippen, in seinem Schritt und, nach James Fresse zu urteilen, auch in seinem Magen hinterlassen hatte – und an die Worte, die damit in Zusammenhang standen und selbst ihm klar machen sollten, warum das hier passiert war… und dass Tarón seine Drohung zu 100% ernst meinte.
Er würde ihm den Arsch aufreißen, sollte ihm dergleichen noch einmal zu Ohren kommen – wortwörtlich.
Dafür musste es allerdings erst einmal einen nächsten Abend geben.
Der Tonfall des Falken änderte sich, wurde ernster und ließ den herablassenden tanzenden Spott aus seiner Stimme weichen.
„Schallt dein Hirn ein, James! Das womit du sonst denkst, haben wir nun hoffentlich erstmal abgekühlt. Lass deine Finger und Lippen bei dir und wir haben kein Problem und keinen Grund das hier zu wiederholen und du wirst in Ruhe und Frieden schlafen können.“
Das „wenn nicht“ mit all seinen Implikationen ließ er unausgesprochen zwischen ihnen schweben.
Einen Moment sah er James weiter an, hielt ihn mit seinem Blick fest – auch um abzuschätzen, ob er riskierte von hinten erdolcht zu werden, sollte er ihm den Rücken zukehren. Er beschloss das Risiko eingehen zu können.
„So und nun sehen wir uns an, was das Meer angespült hat…“
Damit wandte er sich tatsächlich ab, um sich anzusehen wen genau Alex und Josiah mittlerweile aus dem Nebel gefischt hatten. Die Situation mit James war für ihn damit abgeschlossen – auch wenn Tarón das Ganze sicher nicht vergessen würde. Ebenso wenig, wie wohl James. Und wenn der heute Nacht Alpträume von dieser Szene haben sollte: umso besser!
‚Falls wir so lange leben…‘
Auch wenn er diese Szene damit hoffentlich vorerst abhaken konnte, steckten sie immer noch bis zum Hals in der Scheiße.
‚Eins nach dem anderen…‘
Zuerst das unbekannte Gesicht, das sich nun unter ihnen befand.
Soula stellte die berechtigte Frage nach einem Plan was die Vögel anging und Tarón hatte über der Sache mit James mitbekommen, dass diese noch immer von Isa und Skadi gesehen wurden…sie und Land! Doch erst war der fremde Bursche auf seiner To do Liste dran.
Angesichts dessen, dass die kleine Lektion an James schon genug Zeit beansprucht hatte, hielt sich Tarón nicht mit Zimperlichkeit oder übergroßer Nettigkeit auf, auch wenn er Runár kurz die Andeutung eines Lächelns zuwarf und ihm zublinzelte, ehe er geradewegs auf den Fremden zuhielt, der sich umgehend auf sein Parley-Recht berief. Zumindest kein kompletter Holzkopf – dafür durfte er aktuell wohl dankbar sein.
Der Falke ging etwas näher als nötig gewesen wäre auf den Mann zu, dessen linkes Auge von einer Narbe verunziert wurde. Eine ganz bewusste Geste und ein ebenso bewusstes Eindringen in seinen Sicherheitsraum. Sie konnten hier kein weiteres Problem gebrauchen, also war es angebracht gleich zu verstehen zu geben, dass er sich nicht in zu großer Sicherheit wiegen sollte, ehe sie wussten, wer er und ob ihm zu trauen war. Diesen Eindruck vermittelte auch Taróns kühler blauer Blick, als er den nassen Typen einmal von oben bis unten musterte und ihm dann in sein funktionierendes Auge blickte. Er sprach James an, ohne den anderen aus seinem Blick zu lassen.
„James? Kannst du ihn zum Captain bringen?“
Oh ja – er hatte tatsächlich vor James das anzuvertrauen. Als Chance sich nützlich zu machen und als Zeichen, dass Tarón keinen weiteren Groll gegen ihn hegen würde, wenn er seinen Fehler nicht wiederholte. Ein Zeichen von Vertrauen, das er ihm gerne wieder schenken würde, sollte er beweisen, dass er es wert war. Außerdem würde es dem anderen die Chance geben hier nicht mehr wie ein zur Schau gestelltes Tier herumstehen zu müssen – und wenn er wollte, konnte er sich auch gleich bei Lucien über Taróns Angriff auf seine Privatsphäre beschweren. Sollte der andere ablehnen…nun…
Das wäre vor allem für James ein reichlich unstrategischer Zug, aber es gab genug Leute, die hier rumstanden und das ansonsten übernehmen konnten.
Es war eine Chance, die der Falke ihm anbot – nun lag es an James.
[an der Reling | Soula, Rúnar, James, Alex, Josiah, Peregryne ]