19.04.2021, 00:36
Ein nachdenklicher Laut verließ seine Kehle, leise nur, während sich sein Blick wieder im Dunkeln seines Kruges verlor. Aus Holz gegossen? Zugegeben, er war ein wenig abgelenkt gewesen, als er das Ding das letzte Mal in der Hand gehabt hatte. Vielleicht war es wirklich nur ein Klotz, weshalb auch immer es dann so klang, als hätte sie etwas in ihrem Inneren verborgen. „Vielleicht versteckt sich auch ein Flaschengeist darin, wer weiß.“ Ein warmes Schmunzeln zeichnete sich auf seinen Zügen ab, als er aufsah und obwohl seine Stimme vermuten ließ, dass es ein Scherz war, verriet das Funkeln in seinen Augen, dass er die Möglichkeit nicht für völlig unmöglich hielt. Geschichten gab es viele und auch, wenn bislang niemand sicher ihre Existenz bewiesen hatte – das Gegenteil auch nicht. Trotzdem klang es erst einmal erfolgsversprechender, Alex um seine Meinung zu fragen. Skadis Vermutung ließ ihn kurz die Lippen verziehen. Es verwunderte ihn offenbar nicht. „Er ist ein Mensch, der sich gerne Gefallen warm hält.“, erklärte er. „Aber ganz bestimmt kein menschenfreundlicher Samariter.“ Ihr Vorschlag entlockte ihm ein flüchtiges Lachen. Bei solch einer Kleinigkeit sollte ein Glas Schnaps ebenfalls Wunder wirken. „Ich habe gehört, dass eure erste Begegnung nicht ganz so glücklich war.“
Weder das eine, noch das andere war besonders erstrebenswert. Vorausgesetzt man maß an den Werten eines Gutmenschen, der stets zum Wohle anderer handelte und die zweite Wange hinhielt. Aus den Augenwinkeln sah Skadi zu Liam zurück. Musste anerkennen, wie verdammt ehrlich er zu ihr in diesem Punkt war. Zumindest wusste sie jetzt, dass ihr erster Eindruck von Alex nicht unbegründet in ihrer Magengegend gezogen und ihre Sinne alarmiert hatte. „So glücklich wie sie mit einer Leiche in einer Werft nur sein konnte.“, fügte sie hinzu und schnaubte. Was auch immer dieser Kerl ihm erzählt hatte, es ändert nichts daran, dass die Umstände einfach nicht ideal gewesen waren. „Er war auch unglaublich charmant.“ Zynismus war noch die kleinste Form der Untertreibung, die sie wählen konnte. Alex hatte sie zum Narren halten wollen. Aus gutem Grund womöglich. Doch war das nicht auf nahrhaften Boden gestoßen. „Angesichts der Lage konnten er und Jonah nur froh sein, dass wir da waren. Enrique kaum mehr aufzuhalten. Herr Offizier. Sonst... na ja. zumindest für Jonah sah es nicht sonderlich gut aus.“
Das waren wahrlich keine guten Voraussetzungen. Zur Zeit war ihnen das Glück einfach nicht hold und im Endeffekt hatten konnten sie sich bereits glücklich schätzen, dass sie nicht in Jonahs Lage gewesen waren. „Niemand hatte einen Grund, irgendwem zu trauen.“, versuchte Liam sein Verständnis für die Situation vorsichtig zu äußern. Auch, wenn er zugeben musste, dass ihm selbst schleierhaft war, weshalb sich Alex überhaupt in diese Angelegenheit eingemischt hatte. ‚Aus einer Laune heraus‘, war seine Begründung gewesen. Eine, die bei ihm aber tatsächlich plausibel sein konnte. Als Skadi fortfuhr, lachte er erneut. Ebenfalls keine große Überraschung. „Ja, so ist er.“, nickte er anerkennend und nahm einen weiteren Schluck Schnaps, der ihm die Wärme durch den Körper trieb. „… Ich fürchte, das war mit Grund dafür, dass ihm nicht unbedingt nach Kooperation war. Ich meine… Eine Gruppe Fremder, die Hobbydetektiv spielt, würde dir und mir vermutlich genauso wenig passen. Für sie wart ihr vermutlich mindestens genauso verdächtig.“ Auch, wenn es danach klang, hatte er eigentlich gar nicht vor, zu vermitteln. Er kannte Alex‘ Version der Geschichte, sogar noch recht brühwarm und dementsprechend voller Emotionen. „Gib‘ ihm eine Chance. Er kann nett sein, wenn er will.“ Er lächelte. „Ähnlich wie Shanaya.“
Nicht einmal innerhalb der Crew, wenn Skadi ehrlich sein sollte. Die Flucht auf der Kopfgeldinsel hatte zwar eindrucksvoll bewiesen, dass sie einander brauchten, doch änderte es nichts daran, dass letztlich jeder von ihnen sich selbst der Nächste war, wenn es noch härter kam. Sie beschönigte sich nichts. „Er kann sein wie er will, wenn er das Echo verträgt.“ ,entgegnete Skadi nach einem tiefen Atemzug und zog die ausgestreckten Hände knapp hinter ihre Hüfte, um sich entspannt zurück zu lehnen. „Bin schon gespannt, wie viel er sich von einer Frau sagen lassen wird.“ Da war es wieder, dieses süffisante Lächeln auf ihren Lippen, das dem Shanayas durchaus Konkurrenz machte. Es war nicht so, dass sie an der „Loyalität“ des Dunkelhaarigen zweifelte. Sie glaubte vielmehr aus all den Erzählungen Liams herausgelesen zu haben, dass Alex ein generelles Problem mit Autoritäten besaß. Erst recht wenn er eine Meinung hatte, die in seinen Augen weitaus besser war, als die seines Gegenübers. “Ansonsten betrachte ich ihn einfach wie einen meiner Brüder.“ Was viele Sticheleien und Raufereien bedeutete. Kleine Rangkämpfe, die die Beziehung frisch und am Leben erhielt. „Wenn er aufmuckt, gibts nen Klapps hinter die Ohren. Oder wir klären das draußen ... zu zweit.“ Unweigerlich entfuhr der Nordskov ein Lachen. Warm und herzhaft. Gedämpft um niemanden unterhalb des Decks aufzuwecken.
Da hatte er nur wenige Bedenken. Alex war jemand, der sowohl austeilen als auch einstecken konnte. Nicht zuletzt, weil er es bevorzugte, alles nicht ganz so ernst zu nehmen. Die Zeit würde zeigen, wie gut er sich am Ende wirklich in die Crew einfügen würde und wie lange sie überhaupt noch in dieser Konstellation unterwegs sein würden. Gerade was Elian und Farley betraf war sich Liam recht sicher, dass sie nicht mehr lange mit ihnen unterwegs sein würden. Doch statt sich nun um den jüngeren Montrose zu scheren, versicherte er Skadi lieber mit einem vielsagenden Gesichtsausdruck, dass Alex ein dickes Fell hatte. „Hm.“, erwiderte er auf ihre nächste Befürchtung und sah mit einem sachten, liamtypischen Lächeln zu ihr auf. „Ich mache mir da nur recht wenige Sorgen.“ Alex unterschied nicht prinzipiell zwischen Männlein und Weiblein. Eher zwischen Sinn und Unsinn, wobei ihn auch ein Hauch von Wagemut und Wahnsinn kennzeichnete. Ihr Vorhaben ließ das Lächeln auf seinen Zügen wärmer werden, während sich sein Blick wieder von ihren Zügen löste und gen Horizont wanderte. Die Nacht war finster und die Regenfront trieb ihnen allmählich einen sanften Nieselregen entgegen. Bei der schwülen Luft eine Wohltat. „Das klingt, als wüsstest du ziemlich genau, wie man mit ihm umgehen muss.“ Seine Stimme unterstrich im Grunde, was er zuvor gesagt hatte – er hatte keine Bedenken, dass Skadi und Alex früher oder später gut miteinander auskommen würden. Vielleicht stellte er sich das aber auch zu einfach vor. Weil er sie gut leiden konnte. Und es in seinem Kopf automatisch zu einer Lubaya-Situation wurde.
Mit einem amüsierten Zug in den Mundwinkeln, zuckte Skadi mit den Schultern und wägte mit dem Kopf demonstrativ ihre Möglichkeiten ab. „Sagen wir lieber... ich bilde mir ein, dass es genauso funktioniert wie bei meinen Brüdern.“ Damals. Als sie noch die große Schwester gewesen war, die immer ein Auge auf die Verrückten haben musste. Jetzt sehnte sie sich fast schon nach den Flausen der anderen. Früher hatte sie nur ein schmerzhaftes Augenrollen dafür übrig gehabt. „Zur Not überlasse ich dir den Kindskopf. Wenn du ihn nicht zur Vernunft bringen kannst, dann wohl niemand.“ Nun war es an ihr mit einem warmen Lächeln aufzuwarten und dann zur Seite auf die Regenwolken zu blicken. „Bereit für eine kleine Dusche?“
Es hatte etwas bitteres, sie von ihren Brüdern sprechen zu hören. Besonders nach dem zurückliegenden emotionalen Ausbruch, der zwangsläufig mit all den geliebten Verlorenen zusammenhing. Skadi galt ein andächtiges Lächeln, doch er schwieg. Mochten sie in Frieden ruhen. „… Ich bin ehrlich – ich hab’s nie versucht.“, gestand er. Und er hatte es auch in Zukunft nicht vor. Alex war gut so, wie er war. Manchmal etwas anstrengend, aber das war er auch. Das waren sie alle. Sein Blick ruhte auf ihren Zügen und ihm wurde bewusst, wie sehr er dieses Lächeln vermisst hatte. Der Schnaps tat sein Übriges und verlieh der Streitigkeit der letzten Wochen ein wenig mehr Leichtigkeit, während sie so miteinander sprachen. Liam war nicht nachtragend. Noch nie gewesen. Frage sich nur, wie Skadi das handhabte. Sein Blick folgte ihrem zum Horizont und ihre Frage hinterließ ein erwartungsvolles Schmunzeln auf seinen Zügen.. *„Naja, wenn ich mich recht erinnere, bin ich immer der Einzige, der bei so Wetter freiwillig hier oben ist.“* Er mochte raues Wetter, Regen, Wind und Hagel. Es verlieh der Natur etwas Stilles und Andächtiges. Vielleicht, weil sie dann meistens wie ausgestorben war, weil sich alle in ihre wohligen Häuser zurückzogen und man das Gefühl hatte, alleine auf der Welt zu sein. Schwerelos. Frei. Schließlich leerte er seinen Krug mit einem letzten Schluck, stellte ihn neben Skadi auf der Kiste ab. Dann stieß er sich von der Reling ab, um zwei Schritte nebendran schon wieder zum Stehen zu kommen – vor der Kiste, auf der Skadi saß. „Ich -“, begann er und in seinen Mundwinkeln zuckte zwischen dem Lächeln vielleicht sogar so etwas wie Verlegenheit auf. Seine Augen ruhten für den Moment des Schweigens auf seinen Händen, die widerum locker auf ihren Knien lagen. Eine Nähe, nach der er sich die letzten Wochen wirklich gesehnt hatte. „Ich hab‘ dich wirklich vermisst.“
Es verwunderte sie nicht - so wie sie den Lockenkopf die letzten Wochen oder gar Monate kennengelernt hatte, äußerte er vielleicht seine Bedenken, doch selten auf eine Art und Weise, die irgendjemandem in etwas hineinredete. Vielleicht mochte das eine diplomatische Art sein, die sie sich des Öfteren zu Eigen machen sollte. Doch dafür war es längst zu spät. Einen Baum wie sie konnte man nicht plötzlich dazu zwingen in andere Richtungen zu wachsen. Egal, wie sehr man ihn auch stutzte. „Ein Wunder, dass du nicht andauernd krank bist.“, fügte die Nordskov auf seine Worte hinzu und schmunzelte. Sie selbst hatte keine Probleme damit auf einer Reise in unbequemes Fahrwasser zu geraten. Doch sobald es kalt wurde, zog es sie schlagartig in die Wärme zurück. Unter dem einsetzenden Nieselregen allerdings, legte sie vollkommen entspannt den Kopf in den Nacken. Fühlte den winzigen Tropfen auf ihrer Haut nach, die sich binnen mehrerer Stunden sukzessive durch den Stoff ihrer Kleidung schleichen würden. Mit geschlossenen Augen ließ Skadi den Moment unter ein paar Atemzügen auf sich wirken. Blickte erst wieder auf, als warme Finger über ihre Knie strichen und Liam zu reden begann. Stille machte sich zwischen ihnen breit, während sie zu ihm hinauf sah und das dichte Braun seiner Locken sein Gesicht verdeckte. Ein seltsamer Moment wieder mit dem Thema zu beginnen und doch fühlte es sich anders an als zu vor. Sensibler. Als könne jede falsche Regung ein Glas zu Boden werfen. Nur langsam setzte sich Skadi zur vollen Größe auf. Zog die Hände von dem rauen Holz der Kiste hinter sich, um behutsam die dichten Strähnen aus seinen Zügen zu vertreiben. Das Lächeln, das sich dabei auf ihre Züge schob, kam so natürlich, dass sie es selbst kaum bemerkte, als sie mit schief gelegtem Kopf den Blick seiner Augen suchte und ihm unter einem leisen Schnauben ein „Ja.“ entgegen flüsterte. Ein Ja, das so viel mehr zwischen den Zeilen sagte und bedeutsamer mit jeder Berührung wurde, die ihre Fingerspitzen auf seiner Wange hinterließen.
Unkraut verging nicht, eine Floskel, die sich in seinem Leben vermutlich schon öfter bewahrheitet hatte. Er war es seit jeher gewöhnt, bei Wind und Wetter draußen herum zu stolpern. Sein Immunsystem war förmlich gezwungen, auf alles irgendwie vorbereitet zu sein. Sein Glück, ansonsten hätte er die Schusswunde vielleicht weniger gut weggesteckt. Weniger gut als ohnehin schon. Aber ihm war Fieber und Wundbrand erspart geblieben. Blieb abzuwarten, wie viel Glück er das nächste Mal haben würde.
Er spürte die nieselnasse, warme Haut unter seinen Fingern, schwieg für den Moment, den der Schnaps brauchte, um seine Zunge zu lockern und spürte, wie sich eine leise Unruhe von seinen Fingern aus in seine Magengrube stahl. Eigentlich hatte es nur ein flüchtiges, ehrliches Geständnis sein sollen, weil er damit keine Probleme hatte. Weil er sagte, was in ihm vor ging und ehrlich nach außen trug, was ihn beschäftigte. Es fiel ihm nicht schwer, Komplimente zu machen oder Tatsachen auszusprechen, ganz gleich wie intim sie schienen. Vielleicht, weil ihm die Tiefe meistens selbst nicht bewusst war. Und jetzt stand er da, festgekettet an das Braun ihrer Augen, das sanft im Licht des Feuers funkelte. Liam schloss die Augen, als Skadi ihm sanft die nassen Strähnen aus der Stirn wischte. Und auch, als er die Augen wieder öffnete, war es nicht das Gesicht eines Monsters, in das er sah. Er sah Sehnsucht. Verlust. Angst. Himmel, er konnte nicht einmal im Entferntesten erahnen, was sie durchmachen musste. Ihre Stimme schlich sich so leise in sein Ohr, dass es auch nur Einbildung hätte sein können. Vielleicht musste er sich wirklich eingestehen, dass das hier keine reine Freundschaft war, kein pures Verlangen. Doch so schnell, wie dieser Gedanke gekommen war, vertrieb ihn das sanfte Gefühl ihrer Finger wieder und hinterließ Leere. Belanglosigkeit. Zeitlosigkeit. Langsam lösten sich seine Finger von ihrer Haut, bis sich seine Hand sanft auf ihrer Wange wiederfand. Sein Daumen umspielte ihre Lippen, bis er sich letztlich nach vorne beugte und dem Drang nicht mehr widerstehen konnte, ihr nach all den Wochen einen Kuss von den Lippen zu stehlen.
Der Streit war vergessen. Wenn nicht bereits seit ihrer aktiven Entscheidung vor etlichen Tagen, dann spätestens jetzt, in jenem Moment, als sich Liam zu ihr hinab beugte und ihr Atem still stand. Augenblicklich war sie wieder zu Hause. Irgendwo unter dem dichten Blätterdach der Insel, auf dessen grünes Haupt leichter Regen prasselte und unter dessen Schutz sie ihren ersten Kuss bekam. Heimlich. Vollkommen unvorbereitet. Nach einer Auseinandersetzung, die hitzig und lautstark gewesen war. Skadi schloss die Augen. Blendete das Schiff, die See und den leichten Niesel aus, der mit jeder verstreichenden Minute intensiver wurde. Umfasste den durchnässten Stoff seines Hemdes, als könne er innerhalb eines Herzschlages beschließen, fort zu gehen. Noch weiter weg. Vielleicht für immer. Ob sie erst jetzt begriff, wie sehr sie ihn vermisst hatte? Wo der leichte Duft seiner Haut so nah war, wie seit langem schon nicht mehr? Skadi seufzte innerlich. Verbat sich jeglichen Gedanken, der über das hinaus ging, was gerade geschah. Und doch löste sie sich von ihm. Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der sie ihn immer wieder in einen Kuss hineingezogen hatte. Röte stahl sich auf ihre Wangen. Eine Hitze, die durch ihren ganzen Körper, bis zu den Fingerspitzen schoss. Und während ihr Atem flach und unkontrolliert durch die kälter werdende Luft flirrte, blickte sie auf. Direkt in diese warmen Augen, die ihr jegliche Nerven kosten und doch so viel schönere Dinge sagen konnten, als es der volle Mund je tat, dessen Konturen sie mit ihren Augen umrundete. Für einen kurzen Moment. Schweigend. Ehe Schritte am anderen Ende des Schiffes laut wurden.
Seine Gedanken waren wie leergefegt. Die Sorgen und die Distanz, die die letzten Wochen zwischen ihnen gelegen hatten, waren wie fortgespült. Liam wagte es nicht, sich zu fragen, ob es nur für den Moment war. Denn selbst wenn – dann war er es wert, dass man ihn genoss. Eine angenehme Ewigkeit später erst, lösten sich ihre Lippen endgültig von seinen. Er bedachte kurz den Feuerschein in ihren Augen, ehe sein Blick über die feinen Züge ihrer rundlichen Nase bis hin zu ihren vollen Lippen wanderte. Sein Daumen strich sanft und langsam über ihre Wange. Für die Schritte in seinem Rücken war in seinem Kopf in diesem Augenblick kein Platz. Erst, als sie zu nah waren, als dass er sie weiter hätte ignorieren können, wandte er sich ein wenig überrascht um und ließ die Hand sinken. Ihm gefiel das wissende Grinsen nicht, das ihm vom Gesicht seines besten Freundes entgegenstrahlte. „Hab‘ ich doch richtig gesehen, dass du dich mit ‘ner Flasche nach oben gestohlen hast.“ Liam blinzelte, seine Gedanken brauchten noch einen Moment, bis sie geordnet waren. „Ihr zwei wisst, wie man die Schichten rumbringt, was?“ Alex wusste, dass er störte. Deshalb ersparte er ihnen diese Frage einfach.
Noch immer umspannte das klamme Leinen ihre Finger und ließ selbst dann nicht ab, als sich die dichten Locken herum wandten und das dumpfe Geräusch von Schritten unverkennbar näher gerückt war. Ihre nächtliche Gesellschaft hatte sich also dagegen entschieden, wieder zurück zum Mannschaftsdeck zu verschwinden. Großartig. Langsam kippte der dunkle Schopf der Nordksov zur Seite und spähte an Liams Oberarm vorbei in die Dunkelheit. Fast zeitgleich, als sich das Grinsen auf Alex Züge schlich und sie mehr als einmal tief durchatmen musste. Der hatte ihr gerade noch gefehlt. „Bist du nur deshalb nach oben gekommen?“ Sie klang sichtlich amüsierter, als sie es war. Lächelte sogar süffisant über ihre Worte hinweg, weil die Wärme, die sich von Liams Brust zu ihren Fingern gesellte beruhigend auf sie wirkte. „Oder bist du nicht der Typ zum Teilen?“ Hier ging es allein um den Schnaps. Was Skadi selbst vollkommen klar war. Denn anderen beiden vielleicht nicht unbedingt.
Noch ehe Liam etwas entgegnen konnte, war es Skadi, die die Stimme erhob. Und das süffisante Grinsen auf ihren Zügen, ließ ihn nichts Gutes vermuten in der jetzigen Konstelllation. Alex kam näher, lächelte selbstsicher und griff nach der angefangenen Schnapsflasche. „Machst du Witze?“, fragte er an Skadi gewandt und schnaubte belustigt, entkorgte die Flasche und goss sich ungeniert einen Schluck in den leeren Krug, der neben Skadi stand. „Ein edler Tropfen schmeckt doch erst mit guten Freunden wirklich gut. Oder siehst du das anders?“ Er klang beinahe schon unschuldig, wie er dastand, den Korken zurück in die Flasche drückte und den Krug in die Hand nahm. Als gäbe es nichts, was in irgendeiner Weise unangenehm sein könnte für irgendwen. „Alex.“ Liams Stimme klang eindeutig und bedurfte keiner weiteren Worte. „Was? Wir haben den immerhin zusammengekauft.“ Ein guter Versuch, weiterhin so zu tun, als wäre er nicht in eine eindeutige Szene hineingeplatzt, doch der Blick seines Freundes sprach Bände. Alex seufzte. „Ihr braucht euch vor mir nicht genieren.“ Er kippte den Schnaps herunter und machte zeitglich eine beiläufige Geste mit der freien Hand. „Ich schweige wie ein Grab, wenn ihr wollt. Weißt du doch.“ Aber ein bisschen wollte er sich schon in seinem Ruhm sonnen – er hatte Recht gehabt!
Gute Freunde. Damit hatte er wohl ausdrücklich Liam gemeint. Zumindest waren sie sich in der Hinsicht einig - erwünscht war gerade keiner von ihnen. Wieso Alex allerdings so penetrant neben ihnen stehen blieb und sich selbst dann nicht unter Deck zurück verschwand, als Liams Tonfall fast schon tadelnd und eindringlich wurde, warf Fragen auf, die Skadi für einen kleinen Moment zur Seite schob. Nur um ihre Finger aus dem klammen Stoff seines Hemdes zu zwirbeln und die flache Hand auf seine Brust zu betten. Wen sie damit allerdings beruhigen wollte, war ihr selbst nicht wirklich klar. „Alex... was willst du?“ Ein Seufzen begleitete ihre Worte, gefolgt von einem Blick, der den Älteren nicht eine Sekunde aus den Augen ließ. Ihr war klar, dass er hier ein bisschen Unruhe stiften wollte. Und nicht, um sie zu ärgern, sondern ganz offensichtlich, um Liam einen salzigen Finger in die Wunde zu drücken. Wahrscheinlich irgendeine alte Geschichte von damals, die er ihr noch nicht erzählt hatte. Oder? „Wenn es um den Schnaps geht... nimm ihn mit und geh schlafen.“ Nur langsam lehnte sich die Nordskov auf ihrem Platz zurück. Suchte eine Position in der sie besser zu Alex hinauf sehen und dennoch keinen Millimeter von Liam abrücken konnte. „Bei allem anderen störst du gerade etwas. Aber das brauche ich dir wohl nicht zu sagen.“
Hier war vermutlich jedem bewusst, dass es nicht um den Schnaps ging. Liam schwieg, während er zu ergründen versuchte, was genau seinen Freund gerade geritten hatte. Und, weil er hoffte, seine Bitte hätte gereicht. Fehlanzeige. Liam atmete tief an. Er spürte Skadis Finger auf seiner Brust, hielt den Blick allerdings auf Alex gerichtet, der sich in einer selbstverständlichen Geste nun selbst einen Schnaps genehmigte. Und dann dämmerte es ihm in Anbetracht der letzten Wochen und all der Zeit, die sie aufgeholt hatten. Indes versuchte die Nordskov, ihn zu behandeln wie einen Erwachsenen. Liam schüttelte flüchtig den Kopf. Das würde nichts bringen, eher im Gegenteil. Und wenn er richtig lag mit seiner Vermutung, traf Skadi diese Aufführung völlig grundlos. Der Lockenkopf wusste aber auch, dass es schwer werden würde, Alex die Wahrheit zu entlocken. Weil er es selbst nicht wahrhaben wollen würde. „Entschuldige uns kurz.“ Er rang sich ein Lächeln ab, als er sich langsam von Skadi löste. Es hielt es für wichtig, die Situation genau an dieser Stelle zu unterbrechen. Er ahnte nämlich, dass sie sich gegenseitig hochschaukeln würden. Sie konnten beide Hitzköpfe sein. Und gerade, als Alex vermutlich zu einem Konter ausholte, drückte Liam ihm ein wenig barsch die Schnapsflasche gegen die Brust. Der Ältere schien zu verstehen, dass es besser war, ihm nun in die Richtung des Mannschaftsdecks zu folgen. Liam war niemand, der andere öffentlich zur Schau stellte. Besonders nicht, wenn es sich um seinen besten Freund handelte. Umso selbstverständlicher war es, dass er es unter vier Augen klären wollte. „Was ist los mit dir?“, war das letzte, was man ihn Alex entgegenzischen hörte, ehe die Tür hinter ihnen zufiel.
Es dauerte einen Moment, bis er zurückkehrte – allein. Auch, wenn das Lächeln zurück auf seine Züge trat, als er sich neben Skadi wieder an die Reling stellte, sah man ihm an, dass es ihm unangenehm war. „Ich muss mich für ihn entschuldigen.“ Gerade jetzt, wo er versucht hatte, Skadi zu versichern, dass er nett sein konnte. Alex hatte ein Händchen dafür, derlei Dinge außer Kraft zu setzen. „Manchmal sind Brüder eben peinlich, was?“
Sie sah wie sich seine Lippen zu einer Antwort öffneten, die bereits mit einem Funkeln durch seine dunklen Augen sickerte. Doch aus dem nichts regte sich die warme Haut unter ihren Fingern und hinterließ eine unangenehme Leerstelle. Kalt. Und nass. Skadi sah zur Seite. Erst aus den Augenwinkeln, dann mit dem gesamten Schopf dessen dunkle Locken nass an ihren Schläfen klebte. Irgendetwas in Liams Blick und dem kratzigen Unterton seiner Worte war seltsam. Wie diese ganze Unterhaltung, aus der sie schlagartig ausgeklammert wurde wie ein Fremdkörper. War sie etwa Teil des Problems? Skeptisch wandte sich die Nordskov herum, ungerührt vom warmen Lächeln auf seinen Lippen. Sie wusste, dass es nur obligatorisch war. Um die Stimmung zu glätten, dessen Wellenkämme langsam bis an ihren Hals schwappten. Stattdessen taxierte sie Alex. Versuchte aus dem Ausdruck seiner Züge schlau zu werden und verharrte selbst dann noch in ihrer Position, als beide bereits unter Deck verschwunden waren. Komischer Kerl.
Als Liam zurückkam, mit leisen Schritten und irgendwie leichter als zuvor, so bildete sie es sich zumindest ein, hockte sie bereits mit dem Gesicht zum Meer gewandt auf dem anderen Ende der Kiste. Die Beine gegen die Reling gestemmt. Die Arme unter einem nachdenklichen Stirnrunzeln ineinandergeschoben. „So sind Brüder nun einmal, wenn sie meinen auf einen aufpassen zu müssen.“ Ein flüchtiges Lächeln schob sich in ihren Mundwinkel. Verweilte so lange darin, bis sie den Blick von Liam abwandte und auf einen undefinierbaren Punkt am Horizont starrte. „Passt ihm wohl nicht, hm?“ Das mit uns. Dass er seinen besten Freund teilen musste. Dass er auf einem Schiff angeheuert hatte auf dem ausnahmslos jede Frau darauf Tabu war. Oder nicht Teil seiner Liga. Wie auch immer. Skadi verschwendete keinen Gedanken daran, was sie gerade unausgesprochen und doch so klar und deutlich zwischen ihnen zurückließ. Es fiel ihr nicht einmal auf, als sich ein tiefen Seufzen aus ihrer Kehle schälte und sie die Augen schloss.
Seine Züge wirkten erschöpft, aber bei weitem nicht mehr so angespannt wie zuvor. Skadis Worte gaben ihm die Hoffnung, dass sie tatsächlich Verständnis dafür hatte – auch, wenn es nichts entschuldigte. Es war fast schon bemerkenswert, wie treffsicher sie ihre Vermutung formulierte. Liam hatte nur noch ein Seufzen dafür übrig. Weil es das war, was die Sache kompliziert machte. Um Alex machte er sich allerdings nur herzlich wenige Sorgen. Er war einfach zu besänftigen. Vorausgesetzt, ihm fiel ein Weg ein, das Ganze möglichst unvoreingenommen mit ihm zu besprechen. Bei einem Bier oder zweien. Wenn es nötig wurde. Die Unterbrechung hinterließ eine unangenehme Unruhe in seiner Magengrube. Frieden schien ihnen im Augenblick einfach nicht gegönnt. Skadis leise Vermutung ließ ihn auf sehen. Weil es komisch klang, in erster Linie. Und dann, weil ihm dämmerte, dass sie es persönlich nahm, obwohl diese Aktion ganz allein ihm gegolten hatte. Dieser Drecksack. „Selbst wenn.“, brachte er unter einem leisen Schnauben hervor, dem deutlich anzuhören war, dass es ihn tatsächlich amüsierte. „Ich wüsste nicht, weshalb das unser Problem sein sollte.“ Das Lächeln auf seinen Zügen war aufrichtig. Und er war nicht gewillt, sich diese Versöhnung von irgendeiner Alex‘ Launen ruinieren zu lassen. Alex würde sich beruhigen. Müssen, im Zweifel. Er streckte den Arm aus und legte seine Hand auf ihre verschlungenen Unterarme. „Außerdem glaube ich nicht, dass es ihm da gerade wirklich um dich ging. Es ist viel mehr…“ Liam überlegte eine Zeit lang, wie er es formulieren sollte. „Ich glaube, er ist sauer, weil er damals nicht auf mich aufgepasst hat.“ Er hob die verletzte Schulter zur Verdeutlichung und das Lächeln auf seinen Zügen wurde etwas schräger. Das kompensierte er nun, indem er ihn vor der nächsten ‚Dummheit‘ bewahren wollte. Nur, dass sich ihre Definitionen ein wenig unterschieden.
Liam wirkte seltsam zerknirscht. Zumindest für die Verhältnisse, die sie kannte. Wobei. Er hatte bedeutend schlimmer ausgesehen, als sie sich das letzte Mal so unsagbar laut in die Haare bekommen hatten. Und dennoch. Die Nordskov wandte den Blick herum, als ihn ein leises Schnauben verließ und er mit nur wenigen Worten sämtliche Gedanken aus ihrem Kopf vertrieb. Es wäre ihm egal, was Alex zu sagen hatte. Was er über sie sagte. Skadi lächelte. Eine Spur zu erleichtert, als sie es zugeben würde, und doch als wäre sie die Sonne, die durch die Wolkendecke brach, die dunkel über ihnen hing. „Seh ich auch so.“, raunte sie ihm entgegen, kaum dass sich die vollen Lippen schlossen und ihre Blicke trafen. Ganz sicher würde sie sich von niemandem vorschreiben lassen, mit wem und wie sie ihre Zeit verbrachte. Dieser Zug war schon abgefahren, als sie ein Kind gewesen war. Nicht einmal ihr Vater hatte etwas daran ändern können. Und die einzige Partei, die diesbezüglich ein Mitspracherecht besaß, stand vor ihr. Mit klatschnassen Locken, die ihm wild im Gesicht klebten und einem Blick, den sie nicht recht zu deuten wusste. Dennoch brummte sie auf seine Worte. Löste langsam ihre Arme aus der Verschränkung und schob sich der Länge nach auf ihre Beine. Irgendwie konnte sie verstehen, wie Alex sich fühlte. Wieder etwas, das sie gemeinsam hatten. Wahrscheinlich waren sie sich weniger unähnlich, als sie sich eingestehen konnte. „Er hätte es wahrscheinlich auch dann nicht verhindern können, wenn er wie eine Glucke auf dir gesessen hätte.“ Und ganz gleich wie belustigend die Vorstellung war, zeichnete sich kein Lächeln auf ihren Lippen ab. Lediglich ein kleines Zucken begleitete ihre Mundwinkel, als sie den Kopf herum wandte. Die Augen auf Liam gerichtet. „Und selbst das ist ja wohl mein Part. Oder nicht?“ Nur langsam schob sich ein verhaltenes Grinsen auf ihre Züge, spiegelte sich im tanzenden Licht der Laterne in ihren Augen.
Die Sanftheit, die mit einem Male ihre Züge erhellte, überraschte ihn. Als hätte sie etwas anderes erwartet. Dabei kam sich Liam wirklich wie der letzte vor, der irgendeinem vorschrieb, wen er zu leiden hatte und wen nicht. Andersherum ließ er sich aber auch von Vorurteilen anderer nicht in seinem Denken beeinflussen. Da machte auch Alex keinen Unterschied. Außerdem wusste Liam nur zu gut, dass auch Alex im Grunde nicht so war. Er behielt seine Antisympathie nur für gewöhnlich nicht zurück. Skadi hatte ihm allerdings nichts getan. Er bezweifelte, dass das gerade groß Einfluss haben würde. Sein Lächeln wurde kräftiger, kaum dass die Schatten aus ihren Augen verschwunden waren. Innerlich stellte er sich allerdings die Frage, ob es fair gewesen war, Alex‘ Bedenken so frei nach außen zu tragen. Im Grunde war er selbst Schuld – er hatte ihn überhaupt erst in die Lage gebracht, ihn erklären zu müssen. Und alles andere wäre unfair gewesen. Sowohl ihm gegenüber als auch Skadi. „Das wissen wir beide.“, stimmte er ihr leise zu. „Aber er hatte nicht einmal die Möglichkeit, es zumindest zu versuchen.“ Er klang nicht danach, dass er sich die Laune weiterhin von diesem Thema vermiesen lassen wollte. Für ihn war es – vorerst – erledigt. Ob er es wieder aufgreifen müsste, entschied Alex ganz allein. Und als Skadi eine kleine Bemerkung nachschob, zeichnete sich auf seinen Lippen ein vielsagendes Grinsen ab. „Auch, wenn ich vermutlich in den meisten Situationen nichts dagegen hätte -“, stellte er mit einem warmen Blick in ihre Richtung klar, ehe er fortfuhr. „hoffe ich, dass du in brenzligen Situationen eher damit beschäftigt bist, uns alle da irgendwie rauszuboxen. Ich bezweifle nämlich, dass uns die Zukunft freundlicher gesinnt sein wird als das, was bereits hinter uns liegt.“ Nicht ohne Grund, das wusste er. Aber sie hatten sich dafür entschieden. Und er würde sich vermutlich ziemlich schwer damit tun, sich zu verzeihen, wenn Skadi etwas zustieß, bloß weil sie das Gefühl hatte, ihn beglucken zu müssen. Er war nicht so wehrlos, wie er sich gab.
„Schon klar.“, entgegnete die Nordskov mit einem ebenso breiten Grinsen auf den Zügen. Fuhr sich mit ausgestreckten Fingern von den Knöcheln über die Schienbeine bis zu den Knien hinauf, um letztlich von der Kiste auf ihre Füße zu gleiten. Irgendwie hatte sie das dringende Bedürfnis sich die Beine zu vertreten. „Dann sollten wir das Beste aus den guten Tagen machen, die uns noch geblieben sind, oder nicht?“ Eigentlich war es Liams Philosophie, weniger ihre eigene. Zu nehmen was kam und ohne ein schlechtes Gewissen zurück zu sehen. Doch gerade jetzt, wo sie eine Hand breit vor ihm stehen blieb, erschien es ihr die einzige und beste Möglichkeit. Um zu vergessen. Was war. Was kommen würde. „Bereit?“ Ein warmes Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie ihre Hand knapp vor seine Brust hob. Als würde sie ihn geradewegs um einen Tanz bitten. Zu einer Musik, die aus nicht mehr als dem Rauschen des Meeres und dem beständigen Plätschern des Regens bestand.
Das Lächeln auf seinen Zügen blieb, doch er kam nicht umhin, Skadi kurz überrascht zu mustern, ehe er den Blick fast schon sehnsüchtig auf den dunklen Horizont richtete. Optimismus war etwas, dem sie sich nur sehr ungern hingab, das wusste er. Sie bevorzuge es, die Dinge eher realistisch zu sehen, vielleicht sogar einen Hauch pessimistisch. Für den Augenblick aber wolle er den Hintergrund dieser plötzlichen Wandlung nicht hinterfragen. Für diese regnerische Nacht klang es zu perfekt. Die Realität konnte sie morgen wiederhaben. Skadi erhob sich und Liam warf fast automatisch einen Blick in die Richtung der Sanduhr am Steuerrad, weil er das Ende dieser Nacht teils befürchtete und teils herbeisehnte. Das düstere Deck der Sphinx überließ sie allerdings ihrer Zeitlosigkeit. Er nahm an, dass Skadi durchnässt genug war, um sich wieder unter Deck zurückzuziehen. Während er sich die Frage stellte, ob er sie begleiten würde oder sich noch ein bisschen Zeit hier oben genehmigte, nutzte Skadi die Zeit, um an ihn heranzutreten. Ihre Geste war eindeutig – für ihn zumindest, der erst ihre Hand und dann wieder ihre Züge mit einem positiv überraschten Ausdruck auf den Zügen musterte. *„Dafür immer.“* Vorfreude umspielte den leisen Ton in seiner Stimme, während er ihre Hand mit seinen Fingern umschloss und sie ein paar Schritte von der Reling fortführte, ehe er sie mit der anderen Hand an ihrer Hüfte zu sich heranzog. Es schien ewig herzusein. Doch die Erinnerung an ihren letzten Tanz verdrängte in diesem Moment die Gedanken an das, was danach geschehen war.
Schritt um Schritt schwebten sie über die Planken, während der Rest unter ihnen schlief und seinen Träumen erlegen war. Mit Ausnahme von Alex, der ganz sicher noch immer in seiner Hängematte lag und mit sich und seiner Teilschuld an all dem rang. Skadi konnte seine Gedanken beinahe hören, die unter ihren Sohlen knirschten, während sie sich von Liam in eine Drehung führen ließ. Doch was brachte es noch, an den Zug seiner Miene zurück zu denken. An dieses Lächeln, das für einen Moment unangenehm in ihrer Magengegend zwickte. Letztlich konnte er doch glauben, was er wollte. Es machte keinen Unterschied. Nicht für Liam, wie er beteuert hatte. Erst recht nicht für sie.
“Wie sind die anderen eigentlich?“
Sonderlich viel hatte die Nordskov von ihnen nicht mitbekommen – mit Ausnahme von James und Soula. Und das auch nur in so weit, dass sie mehr über deren Kampfkünste wusste, als das Leben, das sie zum Schiff und die Arme dieser Crew geführt hatte. Für alles andere war sie wenig empfänglich gewesen. Hatte sich in ihrer eigenen Welt vergraben und mehr Zeit mit Lucien verbracht, als es ihrer Gedankenwelt gut getan hatte.
Besonders Momente wie diese ließen die Erinnerung an Milúi aufleben. An das Fest, die Musik, die Menschen, den Alkohol. Liam dachte gerne zurück, hörte förmlich die Melodien all dieser endlosen Abende. Dieser und fernerer Abende, die die Musik sie bis in die Morgenstunden hatte tanzen und spielen lassen. Im Gegensatz zu Skadi waren das die Bilder, die sich vor seinem inneren Auge aufbauten. Kein Gedanke an Alex oder einen der anderen. Er schaffte es sogar fast, das taube Gefühl seiner Finger auszublenden, die Skadis Hand umgriffen hatten. Er ahnte nicht, dass ihr die Situation von eben doch noch nachhing. Dazu schätzte er den Augenblick viel zu sehr. „Hm, wer?“ Sie hatte ihn mit ihrer Frage aus der Ferne seiner Gedanken gerissen. „Wen meinst du?“ Im ersten Moment hatte er den Kopf kurzerhand zur Seite gedreht, um über seine Schulter zu spähen, doch dort stand niemand. „Ich muss gestehen, dass ich auf Silvestre nur wenig Zeit mit der Crew verbracht habe.“, fuhr er schließlich fort, als es ihm dämmerte. Außer dem Abend, den sich ein Großteil von ihnen in der Taverne angeschlossen hatte. „Soula macht einen recht freundlichen Eindruck. Ob ihr das Leben auf See liegt, wird sich noch zeigen. Und James… stellt sich das Ganze glaube ich romantischer vor als es ist.“, formulierte er diplomatisch.
Skadi schmunzelte. Zumindest waren sie sich wohl in diesem Punkt ähnlich, auch wenn sie nicht geglaubt hätte, dass sich der Lockenkopf bewusst von der Crew fern hielt. Nicht nachdem die Kopfgeldinsel bereits so lange zurück lag und allmählich Gras über die Sache wuchs. Zumindest für einige von ihnen. Ob sie sich dazu zählte? Sicherlich nicht. Denn noch immer verzichtete sie auf Alkohol, soweit es ging. Und nicht irgendeine treue Seele wie Liam dazu kam, die jegliche Bedenken über Bord zu werfen wusste.
“Hattest wohl keine Lust auf viel Gesellschaft?“, fühlte sie mit einem matten Lächeln auf den Lippen nach und ließ den dunklen Schopf ein paar Millimeter zur Seite kippen.
“Sie wird es wohl müssen, wenn sie bei uns bleiben will.“ Andernfalls würde sie entweder bald das Zeitliche segnen oder zwangsläufig gehen müssen. Über die Planke.
“Wie kann man sich eine Reise mit Piraten bitte romantisch vorstellen?“ Selbst wenn sie nicht bereits seit Monaten mit ihnen segeln würde, hätte die Nordskov keineswegs daran gedacht, dass auch nur irgendetwas von dem, was sie hier taten ehrenhaft oder in irgendeiner Weise schmeichelhaft für ihr Sein und ihr Ego gewesen wäre. Das hier war immerhin ein hartes Pflaster, das mit Schweiß und Blut bezahlt wurde.
Ein angedeutetes Kopfschütteln galt ihr. „Das habe ich nicht gesagt.” Im Gegenteil, mehr oder minder, aber nachdem das Bordell nun einmal ihr Versteck gewesen war, hatten sich die meisten oftmals dort aufgehalten. Ganz davon abgesehen, dass Alex und er einiges an Zeit nachzuholen gehabt hatten. Die Vormittage hatte er nicht selten in der Bibliothek verbracht, während er die Nachmittage oft in eines seiner Projekte investiert hatte. „Ich war meist in der Bibliothek. Oder eben in den Tavernen. ‚Wenig Gesellschaft‘ wäre also gelogen.“ Sie klang besorgt, als befürchte sie, er hätte sich ihretwegen rargemacht. Das stimmte nicht. Oder lediglich zum Teil, da er meist erst zurückgekehrt war, als Skadi und Talin bereits geschlafen hatten. „Wir sind gerademal ein paar Tage wieder auf See. Ob sie bleiben will, wird sich wohl erst noch herausstellen.“ Was James betraf, war Liam vorsichtiger. Er war kein großer Freund von schmierigen Anmachsprüchen, aber da sie ihm zum Glück nicht galten, musste es ihn auch nicht interessieren. „Naja. Gold und Frauen, alles Dinge, die man sich nehmen kann, wenn man sie will.“, half er Skadis Gedanken auf die Sprünge. „Von eintönigem Essen, Sonnenbrand, harter Arbeit und fehlender Privatsphäre ist in den Geschichten meist nicht die Rede. Genauso wenig, wie von verfrühten Toden oder unschönen Verletzungen“
“Du machst Witze?“ Augenblicklich schnellten die dichten Brauen hinauf, ehe die Nordskov in ein amüsiertes Grunzen verfiel. “ Hätte ich das früher gewusst… dann wäre seine Trainingseinheit noch ein bisschen härter ausgefallen, als so schon.“ Ein bübisches Grinsen überzog ihre Züge bei dem Gedanken daran, wie wenig ihm die Tatsache geschmeckt hatte, sich von ihr in der Kunst des Schwertkampfes unterweisen zu lassen. Ein Wunder, dass er nicht gleichsam umschmeichelnd unterwegs gewesen war, wie in Liams Gegenwart. Zumindest machte der Lockenkopf ganz den Anschein, als hätte der Ältere keine Sekunde ausgelassen, um sich mit einem eindeutigen Funkeln in den Augen der Damenwelt zu nähern. “Ich glaube dafür hat er sich eindeutig die falsche Crew ausgesucht.“ Und die falschen Frauen. An Talin würde er sich vielleicht etwas weniger die Zähne ausbeißen, wenn er überhaupt lebendig an Lucien vorbei kam. Bei Shanaya traf er auf Ironie und Selbstverliebtheit – außer Geflirtet würde da wohl wenig passieren. Und bei ihr selbst? Gott. Das war schon mit einem kurzen Blick absolut aussichtslos. “Vielleicht hat ja Alex für ihn ein offenes Ohr.“
„Mach‘ dir selbst dein Bild. Vielleicht war es auch einfach nur der Alkohol.“, erinnerte Liam sie und spürte bereits, wie das schlechte Gewissen in ihm zuckte. Er war der letzte, der schlecht über irgendjemanden reden wollte. Etwas, woraus seine Stimme kein Geheimnis machte. „Du sollst ihn nicht piesacken. Er soll nur lernen, zumindest ein paar Tage zu überleben.“ Liam lächelte, drehte sie abermals leichtfüßig im Tanz. Ihre Annahme kam nicht von ungefähr und das würde James wohl früher oder später einsehen müssen. Und auch, dass Frauen in den Häfen Piraten nicht vor die Füße vielen. Vermutlich würde er sich an Lucien hängen können, um die Bordelle der ersten Welt zu inspizieren. Skadis Vorschlag begegnete er mit einer fragend gehobenen Augenbraue. Den Seitenhieb in Alex‘ Richtung nahm er nicht wahr. „Alex? Ich glaube, das Einzige, was er tun wird, ist ihn aufziehen oder ihm Tipps geben, mit denen er sich besonders lächerlich macht.“
Sie bezweifelte, dass der Alkohol viel dazu tat. Ganz davon abgesehen, dass sie nicht so recht verstand, was er meinte. Offensichtlich waren sie wohl bei einem recht feuchtfröhlichen Abend zusammen unterwegs gewesen. Zumindest war es das, was sie aus den Worten des Lockenkopfes schloss und das Thema mit einem angedeuteten Schulterzucken für sich beendete. Letztlich würde sie sich ein eigenes Bild machen können – es blieb auf einem so kleinen Schiff wie diesem kein Tag, an dem sie ihm nicht über den Weg laufen würde. “Sag ihm das… ich bin nicht diejenige, die ein Problem damit hat, sich von einer Frau anlernen zu lassen.“ Und letztlich war es ein Fakt, dass James so seine Bedenken hatte. Was ihn am Ende nicht davon abgehalten hatte, ihr Folge zu leisten und zu zuhören. Vielleicht auch mehr des simplen Gedankens wegen, dass es noch weitaus schlimmer wäre sein Gesicht in Gegenwart Soulas zu verlieren.
“Du weißt schon, dass das irgendwie interessanter klingt als es sollte?“ Für einen Sekundenbruchteil fühlte es sich an, als könne sie sich ein positives Gefühl für den Fremden abringen, wäre da nicht diese Kampfeslust, die er in ihr hervor rief, wann immer er dieses schelmische Grinsen aufsetzte. Wie einer ihrer vermaledeiten Brüder. “Das wäre die beste Unterhaltung, sollten wir mal wieder in eine Flaute geraten.“
Was war das? Ein Wird-nicht-nötig-sein-Schulterzucken oder eines, das ihm versicherte, dass sie es tun würde? James war ihm zweifellos vorgekommen wie einer der Männer, die es nicht lassen konnten, ihren Charme zu versprühen wie Farn seine Sporen. Wie gut er damit ankam, konnte Liam nicht beurteilen, hatte aber auch nicht das Bedürfnis danach. Er gönnte jedem sein Glück. Das Schmunzeln auf seinen Zügen verriet dann allerdings doch, dass er sich trotz des kurzen Gesprächs mit Ihm durchaus vorstellen konnte, was Skadi damit meinte. Er wog den Kopf zur Seite, noch immer das schelmische Grinsen auf den Zügen. „... Wenn du nur halb so zärtlich zu ihm warst wie damals zu mir, würde ich es ‚vermöbeln‘ nennen.“, sagte er mit einem neckenden Unterton und bedachte sie abwartend. „Wenn du Glück hast, musst du sie bloß gemeinsam in eine Taverne bekommen und abwarten.“, gab er bedenkenlos preis. Einem kleinen Wettstreit würde sich Alex mit Sicherheit nicht entziehen.
Sie konnte es nicht kontrollieren. Das sanfte Kitzeln an ihrem Zwerchfell, das Liam just verursachte und sie zum Lachen brachte. Ganz sicher würde sie in absehbarer Zeit zu niemandem derart „zärtlich“ sein, wie er andeutete. Ganz gleich ob vor oder nach der Explosion der Morgenwind. “Ich hätte dich nicht für derart nachtragend gehalten.“, gab sie ihm mit einem süffisanten Schmunzeln auf den Zügen zurück und lehnte sich in der nächsten Drehung gegen ihn. Die freie Hand von seiner Schulter auf seine Brust gleitend, um nicht unnötig Druck auf seine verheilte Wunde aufzubauen. “Aber wenn Alex die Arbeit für mich übernimmt, genieße ich dieses Schauspiel gern aus der Ferne.“ Allein um sich wichtigeren Dingen zu widmen. Die Energie aufzusparen – für was auch immer die Götter planten. “Wie unverschämt wäre es, Wetten auf die beiden abzuschließen?“