19.04.2021, 00:35
And you will try to do what you did before
Pull the wool over your eyes for a week or moreLet your family take you back to your original mind
Nacht des 16. Juni 1822
Liam Casey & Skadi Nordskov
Ein leichter Nebelschleier tanzte über den Wellen und reflektierte das schwache Licht, dass die schmale Mondsichel am Himmel auf sie hinabwarf. Die Nacht und das Meer war ruhig, nur am dunklen Horizont bäumten sich nach und nach mehr Wolken auf, die in den nächsten Stunden Regen versprachen. Nach all den Monaten, die er nun an Bord der Sphinx war, hatte er die Nachtwachen und die damit einhergehende Stille zu schätzen gelernt. Eine halb niedergebrannte Kerze erleuchtete den Platz an Deck, an dem er sich mit Alex‘ Gitarre niedergelassen hatte – so weit weg wie möglich von ihrem Schlafgemach, in dem ein Teil der Crew versuchte, etwas Ruhe zu finden. Zwischen der gleichmäßigen Symphonie der See, die am Rumpf der Sphinx brach, war die leise Melodie kaum zu vernehmen. Inzwischen war sein Kopf zu voll mit Ideen, die er ausprobieren wollte, als dass er sich weiter davor hätte drücken können, ein Instrument in die Hand zu nehmen. Die Gitarre seines Freundes erschien ihm dabei weitaus dankbarer als seine Geige. Und bislang hatte sich noch niemand darüber beschwert, sich von seiner nächtlichen, leisen Übung gestört zu fühlen. Zugegeben, er spürte das Zittern und Krampfen in den Fingern und konnte es sich nicht schönreden, dass die Töne hier und da wegen der unsauberen Griffe kratzten. Doch obwohl es ihn störte, gab er sich Mühe, darüber hinwegzusehen; murmelte stattdessen weiterhin unentwegt zu den kurzen Melodien, ehe er von vorne startete und Kleinigkeiten änderte, bis er zufriedener war.
Und schließlich mischte sich ein weiteres Geräusch in die Nacht. Im ersten Moment hielt er das Knarzen des Holzes allein für das Werk der Sphinx unter seinen nackten Füßen, doch dann mischten sich leise Schritte dazu. Der letzte Ton verklang, während der Lockenkopf den Blick hob und die Hand vom Hals des Instrumentes nahm. „Hast du etwas Ungewöhnliches entdeckt?“, fragte er an Skadi gewandt, die unter anderem ebenfalls zur Nachtwache eingeteilt war. Kurzerhand reckte er das Kinn, um selbst einen Blick über die Reling zu werfen, wo das Meer sie sanft auf den Wellen wog.
Ein letzter kleiner Rundgang über das Schiff, begleitet vom dumpfen Klang der Gitarre in ihrem Rücken, dem Knarzen der Dielen unter ihren Füßen und den winzigen Wellen des Meeres, die sanft gegen den Schiffsrumpf schwappten. Es hatte beinahe etwas beruhigendes, wie sich der Klangteppich zusammen webte und die Stille für wenige Sekunden darin Einzug hielt. Als heimlicher Begleiter und treuer Freund. Skadi genoss Momente wie diese, solange sie noch währten. Denn alsbald – so viel Stand für sie fest - würde es ungemütlich werden. Entweder des Regens wegen, der am Horizont aufzog. Oder weil ihr neues Leben als Pirat alles mit sich brachte, nur keine bunte Welt aus Regenbögen und Märchen. „Nein.“, erwiderte sie knapp auf Liams Frage und ließ sich mit der Hüfte gegen die Reling gleiten. Den Blick für einen Moment auf Liam gerichtet, ehe sie sich wieder abwandte und den Horizont fokussierte. Es war die erste Nachtschicht seit langem, die sie gemeinsam, halbwegs wach und ausgeruht, auf dem Schiff verbrachten. „Was macht der Arm?“ Eine obligatorische Frage, die sie ihm gern stellte, wenn sie sich schwer damit Tat ein Gespräch in Gang zu bringen. Seit ihrem Streit auf der Insel war sie unfassbar vorsichtig geworden. Zurückhaltend und wortkarg. Selbst dann noch als ihre Wut verklungen und an den Leibern fremder Menschen abgestreift worden war. Wirklich oft hatte sie den jungen Mann ohnehin nicht gesehen. Womöglich weil er sie ähnlich umging, wie sie ihn. Aus irgendeinem drückenden Magengefühl heraus, das Skadi nicht hinterfragte. Sie wusste, dass es kein Bedauern war. Doch eben das war der Grund all das unter einer dicken Schicht aus Schweigen zu begraben. Geschehenes war geschehen.
Es hätte ihn nicht wirklich verwundert, wenn ihm irgendetwas entgangen gewesen wäre. Er war so sehr in das vertieft gewesen, was er getan hatte, dass er ein Schiff am Horizont mitnichten entdeckt hätte. Er hätte erleichtert sein können über Skadis Entwarnung, weil es ihm keinen Ärger brachte, weil er unaufmerksam gewesen war, aber das blieb aus. Die Beunruhigung zuvor allerdings auch. Langsam glitt er mit dem Rücken zurück gegen die Reling und folgte Skadis Bewegung für einen Moment mit den Augen, ehe er den Blick senkte. Die letzten Tage und Wochen hatte sie nur wenig so zusammengeführt. Viel mehr waren sie jeder seinen eigenen Angelegenheiten nachgegangen und Alex sei Dank war ihm die Zeit auch gar nicht so lange vorgekommen, wie es letztlich war. Seit ihrer deutlichen Darbietung, aus welchen Dingen er sich herauszuhalten hatte, hatte er ihren Freiraum akzeptiert. Er war niemand, der sich jemandem aufdrängte, der seine Gesellschaft nicht wollte; ganz gleich woher der plötzliche Sinneswandel auch kam. Nachtragend war er allerdings auch nicht. Aber vorsichtig, seit ihre Impulsivität ihn das letzte Mal eher unvorbereitet getroffen hatte. „Es wird besser.“ Eine Antwort, die sie die letzte Zeit wohl öfters von ihm gehört hatte. Die Durchschlagskraft fehlte ihm vermutlich noch immer, aber er mied das Thema vorsichtshalber. „Ich muss wohl nur endlich anfangen, wieder ein bisschen zu trainieren.“ Man unterschätzte, wie schnell einen die Kraft verließ, wenn man einen Körperteil schonte. Aber immerhin tat er gerade etwas für das Feingefühl. Er schwieg schließlich und fuhr mit dem Finger kurz über das Holz der Gitarre. Er ging davon aus, dass Skadi aus einem bestimmten Grund hier war. Und entgegen der eigentlich immer recht angenehmen Stille zwischen ihnen, machte ihn diese hier unruhig.
Mit einem leisen Brummen nahm sie seine Antwort zur Kenntnis und schwieg. Selbst dann, als er fortfuhr und sich die Stille unangenehm zwischen sie legte. Ungewohnt und beklemmend, als wäre der Streit vor damals nur wenige Stunden her und die Luft zwischen ihnen noch immer dünn und aufgeladen. Doch statt sich mit einem tiefen Seufzen auf den Boden gleiten zu lassen und genervt nach der Ursache zu bohren, lehnte sich die Nordskov mit dem Oberkörper voraus und auf den Unterarmen abstützend über das dicke Holz der Reling. Den Blick aus dunklen Augen auf Liam gerichtet, der genauso unschlüssig dasaß, wie sie selbst sich fühlte. „Macht ihr das etwa nicht bereits?“ Mit ihr meinte sie diese undurchdringliche Einheit, die seit Alex Auftauchen aufgekeimt und nie wieder verschwunden war. Als hätte er bereits schon immer auf diesem Schiff gelebt und sei nur für einen kurzen Besuch an Land und außer Reichweite seines besten Freundes gewesen. Insgeheim störte es die Jägerin vielleicht sogar, wie leicht ihre Unterhaltungen wirkten. Wie ungezwungen und lebhaft ihre derben Scherze. Doch das würde sie wohl keinem der beiden auf dem Silbertablett servieren. „Oder habt ihr zu viele …andere… Dinge zu tun?“ Ein vielsagendes Lächeln zeichnete sich auf ihren Lippen ab.
Die nächste Bewegung ihrerseits lockte abermals seinen Blick auf ihre Gestalt. Das fahle Licht des Mondes hob ihre feinen Züge und ihre rundliche Nase von der Dunkelheit des Nachthimmels ab. Doch kaum, dass er ihre dunklen Augen wieder auf sich wusste, senkte er den Kopf und strich unschlüssig über die Seiten seines Instruments. „Hm? Wir?“, war seine erste Reaktion auf ihre Frage, weil er den Bogen nicht gespannt bekam. Teils vermutlich der späten Stunde wegen, teils aber auch, weil er die Verletzung seines Arms definitiv nicht mit Alex in Verbindung brachte. Auch die nächsten Worte brachten nur langsam Licht ins Dunkel. Die fragenden Falten auf seiner Stirn lösten sich erst zwei Herzschläge später. „Ah, du meinst Alex?“ Was genau sie mit anderen Dingen meinte, hinterfragte er erst gar nicht, sondern stürzte sich viel lieber auf den erstbesten Versuch ihrerseits, ein tatsächlich ein Gespräch ins Laufen zu bringen. Eines, was nicht bloß vom Mittagessen, der Arbeit oder anderen Belanglosigkeiten handelte. „Ich dachte, er solle sich erst einmal ein bisschen einleben, bevor er Kindermädchen spielen muss.“ Er zuckte mit einem blassen Lächeln mit der Schulter, um seinen Worten die Schärfe zu nehmen. „Mal ganz davon abgesehen, dass die Einarbeitung der Neulinge weitaus wichtiger ist als meine Wehwehchen.“ Vielleicht meinte sie das mit ‚anderen Dingen‘, wer wusste es schon. Seine Stimme ließ jedenfalls keinen Zweifel daran, dass Skadi das ebenso gut wusste wie er. „Oder was meinst du, womit wir beschäftigt sein sollten?“ Er fragte schließlich doch, weil der Ausdruck auf ihrem Gesicht vermuten ließ, dass sie auf etwas bestimmtes anspielte.
Liam wich ihrem Blick aus. Das war, woran sie als erstes dachte, kaum dass er den Blick sinken ließ und seine Gitarre weitaus spannender fand, als ihr Profil. Sie nahm es mit einem knappen Zucken im Mundwinkel zur Kenntnis. Es konnte zu viele Gründe haben, um auch nur mit einer Vermutung richtig zu liegen. Ganz davon abgesehen erschien es ihr in diesem Moment nicht sonderlich wichtig. Im Vergleich zu dem Unverständnis, das sich auf seinen Zügen abzeichnete und die Nordskov ihrerseits die Stirn in Falten legen ließ. „Ich glaube kaum, dass er den ganzen Tag mit seinen ‚Aufgaben‘ beschäftigt ist, um keine Zeit für dich zu haben.“ Was auch nicht war, was Liam damit sagen wollte. Für Skadi war es jedoch absurd zu behaupten, dass Alex alle Hand voll mit der Sphinx und der Eingewöhnung zu tun hatte. Immerhin war sie ihm mehr als einmal in Situationen über den Weg gelaufen, in der seine Hände nicht unbedingt mit „sinnvollen“ Dingen beschäftigt gewesen war. „Alkohol, Frauen, Musizieren… such‘ dir was aus.“ Ihr Blick glitt wie von selbst auf den Horizont zurück und fixierte die dunklen Quellwolken des nahenden Regenschauers. Ganz sicher wollte sie keinen erneuten Streit vom Zaun brechen. Doch es lag ihr fern nicht auszusprechen, woran sie gerade dachte. Hatte sie noch nie in seiner Gegenwart. Zumindest bis vor ein paar Wochen.
Er wurde das Gefühl nicht los, dass sie auf etwas Bestimmtes hinaus wollte. Leise amüsiert atmete er aus, als Skadi ihre Vermutung aussprach, als wolle sie ihm Mut machen, sein bester Freund würde ihn schon nicht vergessen hinter all der Arbeit, die hier anfiel. Natürlich nicht, denn so eigen, wie Alex sein konnte – er wusste, dass er alles stehen und liegen lassen würde, um ihm zur Hand zu gehen. Andersherum war es nicht anders. Und trotzdem tat Liam sich schwer damit, ihm gegenüber einzugestehen, dass er nicht ganz so fit war, wie er vorgab. Alex war nicht zwingend die einfühlsamste Person. Ihm etwas vorzumachen, war verhältnismäßig einfach – nicht zuletzt, weil der dunkelhaarigere Lockenkopf genau wusste, dass er ihm wichtige Dinge nicht vorenthalten würde, statt ihn munter ins Blaue raten zu lassen. Die Aufzählung der Nordskov überraschte ihn schließlich ein wenig. Prüfend zog sich eine seiner Augenbrauen in die Höhe, während sich sein Gesicht wieder nach oben in ihre Richtung wandte. So unschuldig, wie ihre Stimme dabei auch geklungen hatte – er vermutete mehr hinter ihrer Aussage, würde ihr aber gerade im Bezug auf den mittleren Teil ihrer Aufzählung sicherlich nicht auf die Nase binden, was genau Alex diesbezüglich beschäftigte. „Kein Alkohol während der Schichten, keine Frau läuft ohne einen Aufpasser herum und ein bisschen Musik hat noch keinem geschadet, also... Wird uns die nächste Zeit wohl nichts in die Quere kommen.“ Er zuckte mit den Schultern und obwohl er an sich keinen Grund hatte, seinen Freund zu verteidigen, fühlte es sich notwendig an. Inzwischen war er sich fast sicher, dass sie ihm damit etwas sagen wollte. Aber wenn es bloß um Vernachlässigung der Pflichten ging, machte sich Lucien beispielsweise weitaus schuldiger als Alex.
Seine Worte hallten in den kleinen Raum zwischen ihnen und sagten letztlich doch absolut nichts. Weder das was die Nordskov hören wollte, noch das, worauf sie womöglich anspielte. Ein leises verstehendes Brummen verließ ihre Kehle. Dann hinterließ nur noch das Wasser am Bug einen gleichbleibenden Geräuschpegel in der Luft. Sie hatten so viele Tage kaum ein Wort gewechselt, dass es ihr schwer fiel nur im Ansatz das Gespräch fortzuführen. Dass sie sich allerdings so fühlte, als müsse sie eines künstlich erzeugen, nervte sie wohl bedeutend mehr, als die Stille, die sich zwischen ihnen ausbreitete. Irgendetwas hatte sich merklich verändert. Kaum greifbar. Nicht in Worte zu fassen. Doch Skadi wäre ein Närrin, würde sie behaupten, dass alles beim Alten geblieben war. Unter einem tiefen Atemzug stieß sie sich letztlich von der Reling ab, um sich schwungvoll herum zu drehen und auf die Tür zum Mannschaftsdeck zuzusteuern. „Ich hole mir Wasser. Möchtest du auch was?“ Kurz wandte sich der dunkle Schopf über die Schulter zu Liam herum.
Sie klang keineswegs zufrieden. Nicht, dass ihn das bei seiner Antwort verwunderte, aber wenn sie nicht endlich mit der Sprache herausrückte, würde sie sich wohl daran gewöhnen müssen. Liam lauschte in die Stille hinein, doch die Nordskov machte keine Anstalten, genauer auszuführen, um was es ihr ging. Nicht, was sie jetzt gerade bedrückte, nicht was ihr die letzten Tage und Wochen auf der Seele lastete. Der Lockenkopf seufzte innerlich und senkte den Blick. Ihm war nicht danach, einen weiteren, grundlosen Streit vom Zaun zu brechen. Daher entschied auch er sich für das naheliegenste: Schweigen. Als Skadi sich schließlich zum Gehen wandte, griff er abwesend zurück zu Alex‘ Gitarre und wirkte fast schon überrascht, als ihre Stimme leise über das Deck huschte. „Ja.“, sagte er bevor ihm bewusst wurde, dass er eigentlich das Gegenteil meinte. Weil er nicht wollte, dass sie ging und ihr gleichzeitig den Freiraum bieten wollte, den sie offensichtlich brauchte. Weshalb auch immer. Er blähte die Backen in Anbetracht dessen, dass seine Antwort vermutlich die Falsche gewesen war und entschied sich dann - vermutlich - für den nächsten Fehler (so seine eigene Einschätzung), bevor er den Mut oder den Willen dazu verlieren konnte. „Skadi, warte. Ich - Ich will mich nicht mit dir streiten.“
Sie nickte. Wortlos und stillschweigend zur Kenntnis nehmend, dass sie gleich mit mehr als einem Becher zurückkehren würde. Wandte sich bereits zum Gehen herum, als Liam ein weiteres mal seine Stimme erhob. Mit Worten, die sie nicht ganz verstand. Irritiert blieb die Nordskov stehen und wandte den dunklen Haarschopf mit skeptischer Miene herum. Ihr war schleierhaft worauf er seine Annahme stützte. Hatte sie ihm das Gefühl gegeben, dass sie wütend auf ihn war? „Streiten? Worüber?“
Die Dunkelheit verbarg die von feinen Locken umrahmten Züge, während das Feuer an seiner Seite unruhig in seinem Gefängnis zuckte. In diesem Augenblick wusste er nicht, was er zu erwarten hatte - und wurde trotzdem überrascht. Das Licht der Flamme war mit ihm weniger gnädig und offenbarte Skadi so all das Verdutzen, das seine Stirn in tiefe Falten legte. Letztlich aber, weil die Dunkelhaarige die letzten Wochen eher schwer zu ergründen gewesen war, befürchtete er sogar, dass sie damit explizit auf das anspielte, was er wohl falsch gemacht hatte. Das, wovon er immer noch absolut keinen blassen Schimmer hatte, was es war. Rein aus Intuition wollte er einfach kleinlaut mit der Schulter Zucken - das war aber sicherlich kein Argument mit Hand und Fuß. „... Willst du sagen, dass du das hier völlig normal findest? Dass wir kaum miteinander reden, nicht miteinander arbeiten. Bin ich der einzige, den das stört?“ Liam klang nicht vorwurfsvoll, im Gegenteil. Fragend, mit ein bisschen Angst vor dem, was daraus werden konnte. Er holte Luft, schloss kurz die Augen und beschloss, dass er ihr lieber zuvor kam, statt ihr abermals die Möglichkeit zu bieten, sich ihn leere Floskeln und Fragen zu retten. „Hör zu. Wenn du nichts mehr mit mir zu tun haben willst, ist das okay.“ Er hob die Hände in recht eindeutiger Geste, um ihr zu verdeutlichen, dass es ihre Entscheidung war. „Aber statt mich einfach wie die letzen Wochen vor die Wand zu stoßen, könntest du mir wenigstens sagen, weshalb.“ Er sprach leise und ließ den Blick auf das Dunkel ihres Gesichts gerichtet, das ihm jede Möglichkeit nahm, irgendetwas daraus zu lesen.
Sie musterte ihn. Schweigend. Beobachtete die Schatten, die auf seinen Zügen tanzten, sobald das Flackern der Laterne neben ihm erneut die Richtung wechselte. Unsicher, was sie darauf erwidern sollte. Ertappt von der Direktheit mit der das Thema aufgriff, das wie Essig am Boden ihres Magens herum schwappte. Skadi schluckte. Presste die Lippen aufeinander und sah zur Seite, als Liam die kurze Atempause nutzte und weitersprach. Immerhin verhinderte er, dass sie etwas Dummes und Unbedachtes von sich ließ. Nicht jedoch, dass sich der Zug ihrer Miene veränderte. Kaum definierbar. Gefangen zwischen aufkeimender Wut, Frustration und Unsicherheit. Was sollte das jetzt auf einmal, bei allen sieben Welten? Wenn es ihn so sehr störte, wieso sagte er dann jetzt erst etwas? „Könnte ich dir nicht genau das auch zurückgeben?“ Trotzig rückten die dunklen Augen in die Winkel und musterten Liams Silhouette eingehend. Als könne sie nicht fassen, mit welcher Direktheit er gegen sie schoss, obwohl sie ihm eigentlich nur hatte ein Wasser mitbringen wollen. „Oder möchtest du mir jetzt weißmachen, dass ich hier die Einzige bin, die irgendwen gemieden hat?“ Schnaubend wandte sich der dunkle Haarschopf herum. Die Hände zu Fäusten geballt und steifen Schultern.
Im ersten Moment zogen sich seine Augenbrauen abermals fragend zusammen. Ihm die Frage zurückgeben? War er nicht gerade derjenige, der diese Kluft nicht mehr aushielt? – Nicht so jedenfalls. Unausgesprochen, düster, unüberwindbar. Liam presste die Lippen aufeinander, kaum dass sich Skadi gänzlich umgewandt hatte. Er brauchte in diesem Moment nicht viel von ihren Zügen sehen – ihre Haltung reichte völlig um ihn in seiner Annahme zu bestätigen, dass es keine gute Idee gewesen war. Und gleichzeitig unbedingt hatte passieren müssen. Es war dünnes Eis, auf dem er sich befand, aber was hatte er schon zu verlieren – wenn es so blieb, wie bisher, war auch keinem geholfen. Dann lieber klare Fronten, selbst wenn es bedeutete, dass sie jeder ihrer Wege gingen und wussten, woran sie beim anderen waren. „Ich wollte dich nicht meiden.“, entgegnete er ruhig und aufrichtig. Es war nicht sein Ziel, ihr irgendeine Schuld in die Schuhe zu schieben. „Ich wollte dir den Freiraum einräumen, von dem ich dachte, dass du ihn brauchst.“ Was sie ihm eigentlich, wie er gedacht hatte, unmissverständlich klargemacht hatte. Aber das hier war einer dieser Momente, in denen man nur falsch handeln konnte – wäre er da gewesen, wäre es auch falsch gewesen. „Ich weiß nicht, was in Silvestre passiert ist. Aber was auch immer es war – es fällt mir zunehmend schwerer, dir zu glauben, dass es nichts mit mir zu tun hat.“
Freiraum. Dieses Wort ätzte sich wie Säure durch ihre Gehörgänge und tanzte bitter auf ihrer Zunge. Freiraum war doch auch nur ein anderes Wort für „ist mir scheiß egal“. Was zur Hölle wollte Liam eigentlich von ihr? Sie hatte versucht sich wieder in den Griff zu bekommen. Ihre Lauen an den Stellen auszulassen, wo sie hingehörten und nicht wieder in seiner Gegenwart lautstark um sich zu schlagen. Und jetzt sowas? „Ts. Du meinst die blauen Flecken habe ich mir eingeholt, weil es was mit dir zu tun hatte? Das ist absolut lächerlich.“ Erst Recht seitdem er wusste, in welchen Kreisen sie verkehrte. „Du weißt sehr genau was in Silvestre passiert ist. Du warst selbst bei so etwas dabei, um es zu wissen. Ich hatte Rechnungen zu begleichen, die dich nichts angehen. Darin gelandet bist du letzten Endes doch... obwohl ich es nicht wollte. Also was? Soll ich so tun als wäre mir all das scheiß egal? Als könnte ich stillschweigend mit ansehen, wie du dich zu Hackfleisch verarbeiten lässt? Vergiss es.“ Trotzig schnaubte die junge Nordskov und trat einen Schritt auf Liam zu. Nur um augenblicklich wieder stehen zu bleiben und zu schlucken. „Und ich weiß sehr genau, wie du zu so etwas stehst. Das ist kein Geheimnis. Für niemanden. Wieso sollte ich dir das also brühwarm erzählen, hm? Damit du mich dann auf Distanz halten kannst, weil... was weiß ich... dir das zu anstrengend und unbequem ist... oder du mich dann für ein Monster hältst?! Das ist es doch letztlich, oder? Ich bin ein Monster, dass sich prügelt, statt zu reden. Ein widerliches Monster.“
Wie egal es ihm gewesen war, hatte sich wohl spätestens da herausgestellt, als er sich selbst mit seiner Sorge um Skadi überrascht hatte. Liam schloss die Augen, als ihre Tirade begann, über ihm hinabzuhageln und verabschiedete sich fast sofort von dem Gedanken, sie in ihrem ersten Punkt zu korrigieren. Er glaube nicht daran, dass sie derart schlecht gelaunt gewesen war, weil sie einen Kampf gewonnen hatte, aber wenn es das war, was sie ihn glauben lassen wollte, würde er sich wohl oder übel darauf einlassen müssen. Was der eigentliche Auslöser gewesen war, hielt sie weiterhin hinter Schloss und Riegel und nahm ihm somit jeglichen Handlungsspielraum, einen Schritt voran zu kommen. „Das war meine eigene Rechnung, Skadi. Daran trägst du keine Schuld.“, versuchte er es mit nur geringer Aussicht auf Erfolg. Ihr nächstes Argument bot ihm da vielleicht mehr Möglichkeit. „Du sagst es doch selbst, Skadi – Hätte ich einfach stillschweigend mit ansehen sollen, wie dich dieser grobschlächtige Gorilla misshandelt? Das konnte ich nicht. Weil es mir nicht egal war.“ Inzwischen hatte Liam die Gitarre gänzlich zur Seite gelegt und die Hände im Schoß gefaltet. „Weil du mir nicht egal bist.“ Dann aber kamen sie tatsächlich einen Schritt voran. Liam lauschte schweigend und die Furcht, die sie hinter all ihrer Rage versteckte, war ihm neu. Und die Überraschung darüber auf seinen Zügen ehrlich und aufrichtig. „Warum sollte ich dich deswegen für ein Monster halten?“ Ein kurzes Lachen entwich ihm aus der Erleichterung heraus, dass das Problem vielleicht derart nichtig war. „Du kannst tun und lassen, was du willst. Du bist erwachsen und wer wäre ich, wenn ich versuchen würde dir irgendetwas vorzuschreiben? Wen kümmert’s, wie ich zu den Dingen stehe – diese Leute sind dort alle freiwillig. Dann können sie sich auch alle freiwillig von dir den Hintern aufreißen lassen.“ Er zuckte mit der Schulter und versuchte sich abermals an einem Lächeln. „Du bist perfekt so, wie du bist. Lass‘ dir nichts anderes einreden. Selbst, wenn es eine Rolle spielen würde – ich hätte keinen Grund, irgendetwas an dir zu ändern. Weder, weil du anstrengend wärst, noch unbequem.“ Was Liam dabei nicht erkannte – dass sie sauer war, weil es sie kümmerte, was er dachte. Aber er wäre nicht Liam gewesen, hätte er geglaubt, dass seine Ansicht für andere groß von Bedeutung war.
Es ging hier nicht um Flint. Genauso wenig um den Abend, als sie mit Lucien in diesem Stall gewesen war und unverhoffter Weise auf Liam und hinein in eine Massenprügelei geraten war. Denn was Liam nicht wusste, war das, was sie ihm nicht sagen konnte. Weil es eben alles veränderte. Ganz gleich wie sehr er auch beteuerte, dass sie ihm nicht egal war. Dass sie perfekt war, wie sie war. Alles verengte sich in ihrem Körper. Hals. Brustkorb. Tonnen wogen auf ihrem Körper und Skadi wusste kaum mehr, wie sie all dessen Herr werden sollte. Tagelang hatte sie daran gefeilt alles fein säuberlich in ihren Schubladen zu verstauen und nie wieder einen Blick zurück zu werfen. Und Liam schaffte es - wie so oft - alles mit seinen Worten, seiner Art einzureißen. Tränen schossen ihr in die Augen. Getrieben durch den Schmerz in ihren Handflächen. Durch ihre eigene Unzulänglichkeit nicht in Worte fassen zu können, was heraus wollte und irgendwie auch nicht. „Weil ich eines bin... Liam. Ich lebe von dem Hass denen gegenüber, die mir alles genommen haben. Und es zerfrisst mich. Wann immer ich sie durch die Straßen laufen und dieselbe Luft atmen sehe, während meine Familie. Meine Schwestern und Brüder. Sogar meine eigenen Kinder fort sind.“ Sie konnte ich nicht mehr ansehen. Diesen Anblick seines Lächelns ertragen, das sich auf Dinge stützte, um die es nicht ging. Die so viel nichtiger waren als das, was ihr so tief unter die Haut ging. Er hatte absolut nichts begriffen. Und sie konnte ihm nicht einmal wirklich einen Vorwurf machen.
So einfach wie erhofft, war es dann doch nicht. Eigentlich war es sogar sehr weit entfernt davon, einfach zu sein. Liams Lächeln verschob sich erst, bis es letztlich brach. Er hörte zu und konnte nur grob erahnen, wie lange diese Glut in ihrem Inneren geglommen hatte. Und er wusste, dass er es nicht besser machen konnte. Das konnte niemand. Das einzige, was er konnte, war ihr zeigen, dass sie nicht alleine war – wenn sie denn nicht alleine sein wollte. Skadis Stimme zitterte. Ganz leicht nur, doch genug, dass sich der Lockenkopf zwei Herzschläge später auf den Beinen wiederfand. „Deshalb bist du noch lange kein Monster.“, flüsterte er. Er blieb an Ort und Stelle. Das Feuer zu seinen Füßen warf nun auch auf sein Gesicht einen dunklen Schatten. „Ich weiß, wie es ist, jemanden zu verlieren, der einem viel bedeutet, aber ich kann mir nicht im entferntesten ausmalen, wie es für eine Mutter sein muss, die eigenen Kinder zu Grabe tragen zu müssen. So etwas kann nicht spurlos an einem vorbeigehen.“ Er hielt inne, holte Luft und überlegte, wie er fortfahren sollte. „Ich würde mir mehr Sorgen machen, wenn es dich kaltlassen würde.“ Langsam machte er zwei Schritte auf sie zu. Er konnte die Tränen nur erahnen, die das Braun ihrer Augen unangenehm zum Funkeln brachten. „Diesen Hass kann dir keiner verbieten.“ Das Wichtige war, ihm standzuhalten.
Er sagte es so einfach. Nichts ahnend, was sie ihm indirekt damit eingestand. Nicht wissend, dass es nicht um Rachegefühle ging, sondern um ausgelebte Gelüste. Denn sie hatte den Tod einiger Menschen zu verantworten. In dem Wissen, damit ihrer Familie ein Stück weit Gerechtigkeit zukommen zu lassen. Und doch zu spüren, dass es nicht ausreichte. Dass es nur ein weiter Namen auf einer endlosen Liste war. Seufzend senkte Skadi den Kopf. Wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht. Sie hatte keine Ahnung was sie ihm jetzt noch sagen sollte. Wollte ihn nicht korrigieren. Nicht noch mehr von dem heraus lassen, was ihr augenscheinlich - und das begriff sie jetzt erst - Angst einjagte. Dass es nur ein Teil von ihr sein würde, der ihn irgendwann von ihr fern hielt. Und dass es ihr nicht gefiel. „Du weißt, dass ich den Kapitän der Morgenwind umgebracht habe, bevor ihr das Schiff in die Luft gesprengt habt oder?“ Allein das konnte sie ihm sagen - weil sie wusste, dass er es gewesen war, der die Zündschnur letztlich in Brand gesteckt und für den Untergang des Schiffes gesorgt hatte. „Dass ich deshalb all die Jahre auf dem Schiff war... um ihn irgendwann allein zu erwischen und ihm das anzutun, was er meiner Familie angetan hat?“ Tief sog Skadi die Luft der Nacht ein. Löste ihre Hände aus der schmerzhaften Umklammerung, um endlich, nach einem weiteren Atemzug zu Liam aufzusehen. Entschlossen. Und irgendwie seltsam gebrochen. „Ich bin das, was du so sehr verabscheust Liam. Ich habe aus Rache getötet. Und ich hätte es fast wieder getan. In Silvestre. Einen Abend bevor ich mich aus Frust zum Untergrundkampf angemeldet habe und du mich daraufhin im Bordell erwischt hast. Also sage mir... Liam.“ Seinen Namen auszusprechen schmerzte so sehr, dass nicht einmal ein schweres Schlucken darüber hinwegtäuschen konnte. „Wie kannst du so einen Menschen nicht von dir stoßen wollen?“
Liams Züge verrieten, dass er es nicht gewusst hatte. Abermals zogen sich tiefe Furchen über seine Stirn, während er versuchte, sich an jenen Tag zu erinnern. Er war bei Kaladar gewesen, auch nachdem die Gefangenen befreit worden waren. Dieses Wissen allerdings ruhte nicht mehr auf echter Erinnerung sondern dem kläglichen Versuch seines Kopfes, die Bruchstücke, die ihm die Gehirnerschütterung gelassen hatte, irgendwie wieder sinnvoll zusammenzusetzen. Liam wusste, dass der Kapitän der Morgenwind überhaupt Grund gewesen war, dass Kaladar existiert hatte. Dass er seine Mission allerdings auch zuende gebracht hatte – spielte im Grunde keine wirklich große Rolle. Dieser Mann wäre an diesem Tag vermutlich so oder so gestorben – ob nun durch Skadis oder seine Hände. Und trotzdem veränderte diese kleine Abweichung bei seinem Todeszeitpunkt einiges; spielte Skadi Schuld in die Hände, die nicht mehr auf ihm lastete. Und während sich in seinem Magen ob dieser Kleinigkeit etwas unangenehm zusammenzog, wusste er nicht, ob es überhaupt etwas änderte. Liam hatte diesen Mann nicht gekannt. Das einzige, was er von ihm wusste, war, dass er ein vermutlich recht hohes Tier bei der Marine gewesen war, was gleichbedeutend damit war, dass er über Leichen ging – ohne die Reue, die gerade nur so aus Skadi heraussprudelte. Allgemein hatte Liam nur wenig Mitleid mit vielen Menschen, die für die Marine arbeiteten. Ihm taten die Leid, die keine andere Wahl hatten; die, die einen Teil ihrer Familie verloren, weil er lieblos von irgendeinem Mächtigen wie eine Schachfigur aufs Spiel gesetzt wurde. In seiner Welt hatte noch immer jeder selbst eine Wahl. Es war das eine, auf eine Mission geschickt zu werden. Das andere war es, blind Befehle auszuführen ohne sie zu hinterfragen – und somit die Schuld und die Verantwortung von sich zu weisen. All das waren nur wilde, ungeordnete Gedanken, die ihm in dieser winzigen Zeitspanne durch den Kopf gingen. Aber nichts davon war auch nur annähernd in der Lage, der Dunkelhaarigen irgendeine ihrer Sorgen zu nehmen – im Gegenteil. Liam wusste, was sie von ihm hören wollte. Aber es wäre eine Lüge gewesen, hätte er es ausgesprochen. Ganz davon abgesehen, dass er ein ziemlich schlechter Lügner war, der fiel lieber die Wahrheit sprach. „Ich verurteile dich nicht dafür, dass du ein Mensch bist, Skadi.“ Ihr Blick wirkte derart instabil, dass es ihm wirklich schwer fiel, sie nicht einfach in die Arme zu schließen. „Und ich verabscheue dich auch nicht dafür. Letztlich… bist du die, die damit leben muss. Die Frage ist also eher, ob du dich dafür verabscheust.“ Eine Frage, deren Antwort mehr als offensichtlich vor ihm lag. Darum aber ging es ihm gar nicht. Sie sollte nicht so viel Wert auf das legen, was sie von ihm erwartete. Sie kannte ihn diesbezüglich nicht. Und auch Liam war tiefgründiger, als es vielleicht den Anschein erweckte. „Außerdem weiß ich, dass du nicht herzlos bist. Anders als viele von ihnen.“
Seine Worte klangen ehrlich. Doch waren sie kein Salbei für ihre Seele. Beruhigten nicht im Ansatz das Zittern in ihrem Inneren, sondern ließ sie dort stehen wo sie war. Meilenweit entfernt von einer klaren Antwort und in der Luft schwebend. Sie verabscheute sich nicht für das, was sie getan hatte. Sie würde es jederzeit wieder tun. Aber sie verabscheute die Gedanken, die sie beherrschten. Dass sie mit jedem weiteren Mord, jedem weiteren Racheakt und somit jeder weiteren Genugtuung zu etwas wurde, das nichts mehr mit ihr gemein hatte. Und sie irgendwann tatsächlich so allein war, wie sie sich seit diesem Tag fühlte. Vergessen. Abgestoßen. Nur noch Mittel zum Zweck. „Bei dir klingt es so einfach.“, gab sie nur noch matt von sich und seufzte. Senkte erneut den Blick und wandte sich herum. „Ich hole jetzt Wasser.“
Viele Dinge klangen einfach, waren aber weit davon entfernt. Sein Kopf fühlte sich schwer an, während seine Gedanken träge versuchten, wieder irgendetwas herzustellen, was an Struktur erinnerte. Skadi wirkte alles andere als zufrieden. Gefasst vielleicht, nach außen hin. Liam musste sich eingestehen, dass sie sich noch ein Stück ferner anfühlte als vor ein paar Minuten noch. Er erreichte sie nicht und im Nachhinein wäre es vielleicht besser gewesen, es einfach dabei zu belassen. Er wollte fluchen. Weil er sich nun doch Gedanken machte, von denen er beteuerte, es nicht zu tun. Skadi wandte sich ab und nutzte den Vorwand, der ihnen beiden nun ziemlich gelegen kam. Er ahnte, dass es nicht gut war, sie jetzt ziehen zu lassen, aber ihm fehlte die Alternative. Das einzige, was er ihr erleichtern konnte, war die Tatsache, ihn noch einmal aufsuchen zu müssen. Auch, wenn es sich anfühlte, als hätte er sie gänzlich verloren. „Skadi.“, begann er. „Nimm dir den Rest der Nacht frei. Wir sind genug Leute.“ Während sie Richtung Treppe verschwand, wandte er sich um und stützte sich erschöpft auf der Reling ab. Das Meer brach unruhig am Holz der Sphinx und die Regenfront hatte sie fast erreicht. Verärgert trat er mit dem linken Fuß gegen die Reling, doch auch das machte es nicht besser. Er rechnete nicht damit, dass Skadi zurück kam. Er konnte es ihr auch nur sehr schlecht verübeln.
Mit jedem Schritt voraus, fühlte sich ihr Körper immer dumpfer an. Die Szene in ihrem Rücken derart surreal, als wäre sie geradewegs aus einem schmerzhaft fühlbaren Albtraum erwacht. Minuten lang stand sie vor dem Wassertrog. Regungslos. Und kehrte dann schweigend und teilnahmslos an Deck zurück. In einer Hand den Wasserkrug für Liam. In der anderen ihren eigenen. „Hier.“, murmelte sie leise und setzte sich auf eine der Kisten, auf deren Oberfläche sie das Wasser abstellte. Sie wusste, dass sie sein Angebot hätte annehmen sollen - weil es viele Dinge für sie im Moment vereinfachte. Und es doch wieder nicht tat. Sie wollte nicht mit ihrem Kopf allein sein. Sich Dinge einbilden und in etwas hineinsteigern, was weder so gemeint, noch beabsichtig war. Sie musste sich damit konfrontieren, dass Liam ihre Angst nicht verstand und nicht nehmen konnte. Ganz gleich, wie sehr sie wohl darauf gehofft hatte. Die Nordskovs waren kein Volk, das klein bei gab. Statt dem Unwetter auszuweichen, steuerten sie direkt hinein.
Er ignorierte das Geräusch in seinem Rücken, weil er glaubte, dass es einer der anderen war. Erst, als das dumpfe Geräusch von Holz auf Holz neben ihm erklang, sah er auf und musterte besorgt die dunklen Schatten auf ihren Zügen. Es dauerte nicht lange, bis er den Blick wieder auf das Meer hinaus richtete. Aus Respekt ihr gegenüber, weil er wusste, wie ungern sie Schwäche zeigte. „Danke.“, antwortete er nach einem kurzen Moment des Schweigens. Er streckte die Hand aus und hob den Krug zu den Lippen. Erst jetzt fiel ihm auf, wie trocken sich sein Hals eigentlich angefühlt hatte. Liam schwieg und setzte den Krug zurück auf die Kiste, auf der Skadi saß. In einer fließenden Bewegung wanderte seine Hand in ihre Richtung und umfasste ihre in einer ruhigen Geste. Er wollte etwas sagen, aber es fühlte sich weder richtig an, an das Thema anzuknüpfen, noch belanglos das das Thema zu wechseln, weshalb er sich letztlich doch zum Schweigen entschied, als er seine Hand wieder zurück an die Reling bewegte.
Es war seltsam so regungslos neben ihm zu sitzen - weil es früher, vor etlichen Wochen, absolut normal gewesen war. Doch jetzt. Jetzt war es, als schwebte etwas Unausgesprochenes zwischen ihnen. Etwas, dass sich auf ihre Schultern legte, wie Blei. Kurz zickte sie zusammen, als etwas Warmes ihren Handrücken berührte. Aufgeschreckt aus den Gedanken, die sie einlullten und hinfortgewischt durch jedes Rauschen der Wellen am Bug. Wortlos wandte Skadi ihre Hand in seiner. Umfasste sie mit ihren Fingern für den kleinen Moment, in dem er sie dort ließ. Ein kleines Stück Normalität und Nähe. Nur ein kleines bisschen. Tief holte sie Luft, ließ den Kopf in den Nacken gleiten und schloss die Augen, während sich Liam wieder abwandte und sie selbst den halb leeren Wasserkrug im Schoß bettete. „Es ist seltsam... jemanden zu vermissen, obwohl man ihn jeden Tag sieht.“ Fast flüsterte sie es lautlos in den Wind hinein, den der kommende Regen mit sich brachte.
Er presste noch immer die Lippen zusammen und starrte aufs Meer hinaus. Skadi hatte ihn unweigerlich daran erinnert, das dort am Meeresgrund womöglich etliche Seelen schlummerten, die er auf dem Gewissen hatte. Weil es ihm einfacher fiel, über sich selbst zu urteilen als über andere. Mord. Was zählte als Mord? Was zählte er als Mord? Liam wusste, dass keiner auf diesem Schiff eine reine Weste hatte, aber das war ihm egal. Für ihn zählte, wie sich die Leute ihm gegenüber oder in seiner Gegenwart verhielten. Ihre Angelegenheiten gingen ihn nichts an. Aber was war, wenn es sich plötzlich nicht mehr bloß flüchtige Bekannte drehte? Und es war ja nicht so, dass Skadi getrieben von Blutrausch auf die Jagd ging. Zählte soetwas noch als Affekt? Spiele es überhaupt eine Rolle, solange es nur in Gedanken passierte? Immerhin hatte sie sich laut eigener Aussage stattdessen in die Untergrundkämpfe gerettet – oder? Er neigte den Kopf leicht zur Seite, um die Nordskov besser verstehen zu können. Ein freudloses Lächeln zuckte über seine Mundwinkel, ehe es seine Züge wieder erschöpft und nachdenklich zurückließ. „Ja. Ich weiß, was du meinst.“, stimmte er ihr leise zu. „Vor allem… Ist es eigentlich absolut dämlich.“ Liam nahm einen tiefen Atemzug.
Einzig und allein ein tiefes Schnauben verließ ihren Körper. Was womöglich Kommentar genug war auf das, was Liam zu Protokoll gab. Vielleicht war es dämlich. Vielleicht auch nur ein Produkt ihrer Unterschiede. Wenn sie mit Enrique aneinander geriet, hinterließen sie in der Regel verbranntes Gras, das am nächsten Morgen grün wie eh und je war. Wie zwei sture Böcke, die sich aneinander die Hörner abstießen. Und Lucien. Zur Zeit war er der Einzige, der wortlos verstand was in ihr vorging. Zumindest hatte sie stets das Gefühl gehabt, wann immer sie gemeinsam ihrer seltsamen Beschäftigung nachgegangen waren. Was Liam tun würde, wenn er sie jemals so sah. In diesem Zustand zwischen Himmel und Erde. Skadi ahnte, dass sie die Folgen dessen nicht vertragen würde. Dass sie die Angst, die sich womöglich in seinen Augen abzeichnen, oder die Abscheu, die seine Züge verdunkeln würde, nicht so leicht wegstecken konnte, wie bei jedem anderen auf diesem Schiff. „Und was nun?“ Sie selbst fand keine wirkliche Antwort darauf. Bezweifelte, dass er es konnte.
Seine Hand fühlte sich schwer an, als er sich damit die Haare aus der Stirn wischte und den Blick schließlich vom Horizont löste. Seine Augen wanderten langsam über das erschöpfte Antlitz Skadis. Trotz alledem, was geschehen war, genoss er ihre Anwesenheit. „Nun…“, überlegte er gedehnt und stieß sich von der Reling ab, um sich ihr nun völlig zuzuwenden. „Ich weiß, dass du dem ganzen momentan eher abgeneigt bist, aber… Vielleicht würde es mal ganz guttun, die Sorgen einfach über Bord zu werfen. Nur für ein, zwei Gläschen, hm? Vorausgesetzt natürlich, du verpfeifst mich nicht.“ Liam lächelte überzeugend und hoffte, sie würde sich einfach darauf einlassen. Sie hatte es verdient, die Sorgen in ihren Gedanken zumindest für kurze Zeit einfach mal auszublenden. „Ich bin in Silvestre über Honigbeer-Schnaps gestolpert, der dir durchaus schmecken könnte. Und falls uns jemand erwischt, hättest du heute Abend die einmalige Gelegenheit, es auf meinen schlechten Einfluss zu schieben. Was sagst du?“
Die Sorgen über Board werfen. Wieder klang es so unfassbar leicht, wie es über seine Lippen kam. Hatte es nicht eben gerade dazu geführt, dass sie aneinander geraten waren? Weil sie genau das die letzten Tage versucht hatte und kläglich daran gescheitert war? Erneut musste Skadi schnauben. Dieses Mal mit einem matten Lächeln auf den Lippen. Es klang zu verlockend, als dass sie es so einfach abschmettern konnte.
„Meinetwegen. Aber nur ein, zwei Gläser.“
Einen Moment überzeichnete das helle Licht der Laterne seine Züge, als sie endlich die Augen öffnete und den dunklen Schopf zu Liam herum wandte. Das Lächeln, das so ehrlich und unverfälscht in seinen Mundwinkeln hing, schmerzte auf eine bittersüße Weise. Sie hatte ihn mehr als nur ein wenig vermisst.
„Sonst kommst du mir vielleicht noch auf dümmere Gedanken. Und ich bezweifle, dass ich dafür eine passende Ausrede parat habe.“
Sie wirkte nicht überzeugt, aber wenigstens gab sie der ganzen Sache eine Chance. „So viel du willst.“ Es stand ihr offen, sein Angebot am Ende doch wieder auszuschlagen. Davon abgesehen, dass es nicht sein Ziel war, sie abzufüllen wie ein ungehobelter Teenager. Er wollte ihr nur ein bisschen Leichtigkeit bescheren. Und das ging nicht, wenn sie ihm unterstellte, ein Monster in ihr zu sehen. Mit einem Lächeln wandte er sich ab und verschwand auf leisen Sohlen, um die noch ungeöffnete Flasche aus seiner Truhe zu holen und damit möglichst ungesehen wieder nach oben zu verschwinden. Er beeilte sich nicht. Er fühlte sich noch immer durcheinander und war sich nicht sicher, ob dieser Abend ein Fort- oder ein Rückschritt war.
Er entkorkte die Flasche und nahm prüfend eine Nase. Der Alkohol der Spirituose hauchte ihm deutlich ins Gesicht – ähnlich den Tinkturen, die Skadi zu mischen wusste. Ansonsten war eine leichte Note zu vernehmen, die an Schlehen erinnerte. Erwartungsvoll verzog er das Gesicht und leerte den Krug Wasser, um einen Schluck des Schnapses hineinzufüllen, ehe er fragend die Flasche in Skadis Richtung hob. „In der Taverne wurde er hoch angepriesen.“
Mit jedem Schritt, den Liam sich weiter von ihr in Richtung Mannschaftsdeck entfernte, desto mehr verschwand das Lächeln von ihren Lippen. Wich dem gedankenverlorenen Ausdruck, der ihre Gedanken noch immer an den Worten von vorhin hängen ließ. So wirklich hatte sie sich nicht damit beschäftigt. War dem Gefühl ausgewichen, sobald es klopfend ihre Brust erreichte und ein nervöses unangenehmes Kribbeln in ihren Fingern frei setzte. Hatte sie wirklich Angst davor zu dem zu werden, das sie oftmals in ihrem Vater gesehen hatte? In dem tiefen Schwarz, das in seinen Augen wohnte und heraus wollte, wann immer sie es in ihrer kindlichen Wut zu weit getrieben hatte? Gänsehaut schob sich augenblicklich über ihre Arme tief in ihren Nacken. Spannte sich Wirbel für Wirbel über ihren Rücken und beherrschte jeden Nerv ihres Körpers. Es war erschreckend, wie tief sich diese Furcht in ihre Knochen und in ihr Fleisch gefressen hatte. Nach all den Jahren, die sie seiner Obhut entwachsen war. Erst als Liams Schritte auf den Planken widerhallten, hob Skadi den Kopf. Sog die abgekühlte Nachtluft ein, die die Regenfront vor sich herschob. Für einen Augenblick meinte sie das leise Prasseln bereits in ihrem Rücken zu vernehmen. Schüttelt jedoch mit einem aufgesetzten Schmunzeln den Kopf. „Deine Nase sagt mir, dass es hochprozentig ist. Mal sehen wie gut ich nach einem Glas noch stehen kann.“ Ein Lachen schob sich durch ihre Kehle ins Freie und hallte warm und amüsiert übers Deck. Wortlos reichte sie ihm den leeren Krug aus ihrem Schoss. Roch prüfend an dem Gebräu, ehe sie den Ton an ihre Lippen setzte und daran nippte. Kurz verzogen sich ihre feinen Gesichtszüge. Dann nahm sie einen weiteren Schluck. „Sehr fruchtig. Aber... beim Klabautermann... da hat’s jemand gut mit dem Schnaps gemeint.“
„Kommt darauf an, wie gut deine Grundlage ist.“ Liam wusste nicht, wie üppig ihr Abendessen gewesen war, aber seine Nase sagte ihm, dass dieser Schnaps hier auch gut zu einem herzhaften Mahl einer Adelsfamilie gepasst hätte – was die Wirkung betraf, jedenfalls. Er füllte Skadis Krug ebenfalls mit einem Schluck der Spirituose, steckte den Korken zurück auf die Flasche und stellte sie neben ihr auf die Kiste. Mit dem eigenen Krug in der Hand musterte er Skadis Züge, die wagemutig als erste probierte. Ein angeschlagenes Schmunzeln galt ihr, während der Schnaps ihre Züge verzerrte. Dann nippte auch er und verstand augenblicklich, was sie mit ‚mit dem Schnaps gut gemeint‘ meinte. Er kniff ein Auge zu. „Hui. Wir sollten unsere Vorräte damit aufstocken, bevor wir uns auf machen Richtung zweite Welt.“ Das Konzentrat jagte einem nämlich eine wohlige Hitze den Rachen hinab in den Magen. „Stark, aber nicht schlecht.“, lautete sein abschließender Entschluss nach einem weiteren Schluck. „Und kommt an, wo er soll.“
Unter einem geschlossenen Auge sah Skadi zu Liam hinüber. Verdutzt über das, was er über die zweite Welt sagte, als wäre es beschlossene Sache, dass sie irgendwann dorthin segeln würden. Bisher hatte sie den Weg der Sphinx nie hinterfragt und angenommen, was Kapitäne und Navigatorin beschlossen. Allein, weil sie sich nicht einmal sicher war, wie lange Enrique auf dem Schiff bleiben und sich dem Versprechen entziehen würde, das er seiner Tochter gegeben hatte. „Vorausgesetzt wir erreichen sie noch und landen nicht sturzbetrunken irgendwo am falschen Ende.“, entgegnete sie amüsiert und grunzte. Mit schüttelndem Schopf, der allmählich in weichen Locken bis zu ihren Ohren ragte. „Wobei ich vielleicht nicht traurig drum wäre. Allein der Gedanke an diese Kälte...“ Sie schüttelte sich. Mehr der Erinnerung ihrer Kindertage wegen, als des erneuten Zugs, den sie aus dem Krug nahm. Selbst da hatte sich das beißende Weiß in Fleisch und Knochen vergraben. Die zweite Welt - so wie man es ihr erzählt hatte - weit voll davon und weitaus schlimmer, als der kleine Zipfel auf Andalonien, auf dem Rúnar kennengelernt hatte.
„Wir müssen ja zum Glück nicht navigieren. Und Shanaya ist weitaus pflichtbewusster als wir gerade im Moment.“ Allerdings definierte Liam ‚kein Alkohol bei der Arbeit‘ so, dass man nicht übertreiben sollte – ein, zwei Schnäpse, was war schon dabei, außer dass man die Müdigkeit aus den Knochen vertrieb? „Davon abgesehen, dass ich mit dem ‚sturzbetrunken am anderen Ende landen‘ bisher ganz gut gefahren bin.“ Er grinste kurz, und kippte den Rest des Schnapses hinunter. „Ich habe keinen Schnee mehr gesehen, seit ich ein Kind war und wir damals fort sind.“, stellte er fest und inspizierte das leere Innere seines Bechers, ehe er aufsah. „Es soll dort ganze Berge aus Eis geben, heiße Quellen tief in einsamen Gebirgen.“
So betrachtet hatte sie immer ein Portion Glück begleitet - andernfalls hätte es sie, erst recht nach der Kopfgeldinsel, schnell unter die Erde getrieben. Mit einem Schmunzeln bedachte Skadi den Lockenkopf und stellte ihren Krug neben sich auf das Holz. „Mir gefällt jetzt schon der Gedanke nicht, mit wie vielen Schichten ich da rumlaufen muss.“ Die Uniform war damals ein notwendiges Übel gewesen, um relativ unentdeckt zu bleiben. Am liebsten würde die Nordskov allerdings halb nackt durch die Natur streifen. Je mehr Bein- und Armfreiheit desto besser. Nichts anderes war sie von den fast tropischen Wäldern ihrer Heimat gewohnt. „Wahrscheinlich werde ich nach einer Stunde zu Stein erstarren. Wäre also nett, wenn du mich in eine der Quelle tragen und da erstmal liegen lassen könntest. Bis ich aufgetaut bin.“ Sie lächelte. Lachte einen Augenblick lang und verschränkte mit gesenktem Kopf die Fingerspitzen ineinander.
„Das, oder -“ Mit Unschuldsmiene zückte er die Flasche abermals und wedelte damit kurz vor Skadis Nase. „Wir sollten aber unbedingt noch etwas üben nach deiner Abstinenz. Sonst werde ich dich nämlich wirklich tragen müssen.“ Er lächelte und überließ der wohligen Wärme, die in seinen Kopf stieg, die Aufgabe, die Steifheit dieser ‚Normalität‘ zwischen ihnen einfach auszublenden. „Ich fürchte, nach dem Bad in so einer heißen Quelle kommt einem alles andere nur noch kälter vor. Am Ende ziehst du dort noch ein, weil du nicht mehr rauskommen magst.“ Es gab mit Sicherheit schlimmeres, als ein paar Stunden in einer heißen Quelle zu verbringen, während um einen herum die ganze Welt in Schnee getaucht war. Aber Tage oder gar Wochen? Mit der Zeit würde der Ausblick langweilig werden. Und die Ähnlichkeit zu einer Wasserleiche war auch nicht unbedingt erstrebenswert. „Ich freu‘ mich drauf, sollten wir je soweit kommen. Auch wenn ich auf einen Heimatbesuch durchaus verzichten könnte.“ So vieles, was in dieser Aussage steckte. So vieles, was er selbst nicht näher hinterfragte. „Außerdem kommen wir so dem Geheimnis dieser Schatzkarte vielleicht näher.“
„Na ja... ihr könnt mich ja auch einfach wieder abholen, wenn ihr mit euren Abenteuern fertig seid und wir wieder in schönere Welten fahren.“, gab Skadi mit gespitzten Lippen und einem Achselzucken zurück. Vielleicht gab es ja noch jemanden unter ihnen, der schon bei den ersten Schneeflocken eine gleichsam wenig beeindruckte Miene zog wie sie selbst. Lucien ganz sicher. Nicht zwingend wegen der Kälte, sondern weil er den Damen nicht mehr unter den Rock spähen oder anhand ihrer leichten Kleidung wuschig werden konnte. Schwerenöter der er war. „Gibt dann sicherlich ein paar Lieder und Geschichten zu erzählen und besingen.“ War es irgendwie seltsam einfach so in einen Plauderton zu verfallen, wenn nicht noch vor wenigen Minuten totale Stille und Bedrückung zwischen ihnen geherrscht hatte? Skadi ignorierte es. Drängte es in den Hintergrund und zog den Krug Schnaps zu sich heran, um daran eisern festzuhalten. Dennoch entging ihr Liams letzter Satz nicht. Weder der über seine Heimat, noch die einer mysteriösen Karte. „Eigentlich wollte ich schon immer wissen, wie dein Vater in Natura so ist.“, murmelte sie kleinlaut gegen den Rand des Bechers und verzog kurz unter dem brennenden Geschmack des Schnaps die Lippen. „Und was für eine Karte meinst du?“
„… Ich könnte das nicht.“ Seine Züge zeigten eine Mischung von belustigtem Unverständnis und Fassungslosigkeit. „Mir so ein Abenteuer entgegen zu lassen. Ganz egal, wie unbequem.“ Es war kein Vorwurf – da waren sie einfach verschieden. Und eigentlich überraschte es ihn in ihrem Falle nicht einmal. Hätte man es ihr nicht genommen, hätte es wohl nichts in der Welt gegeben, was sie je von Zuhause weggelockt hätte. Ihn hingegen zog es fort, immer weiter, bis er das Ende erreicht hatte. „Abwarten. Du hast mit deiner Vorahnung, dass wir am Ende ganz woanders landen, vermutlich nicht einmal so unrecht.“ Er war jemand, der die Dinge auf sich zukommen ließ. Das bedeutete aber auch, dass Vorfreude eher etwas Kurzfristiges bei ihm war. Er war leicht zu begeistern, fand bereits an den kleinsten Dingen Freude und konnte fast allem irgendetwas Gutes abgewinnen. Er gluckste auf ihr leises Geständnis hin und liebäugelte wieder mit der Flasche Schnaps, die ihm nicht nur die Wärme in – sondern auch die Schwere aus den Knochen trieb. „Das Glück wirst du dort vermutlich nicht haben.“ Eine reine Vermutung. Er hatte keine Ahnung, wo sich sein Vater aufhielt. „Er wäre jedenfalls sehr alt geworden, wenn er sich mittlerweile zur Ruhe gesetzt hätte.“ Die nächste Frage überraschte ihn. „Die aus Milúi.“ Er hatte sie doch sicherlich erwähnt? Womöglich waren ihm damals allerdings auch andere Dinge durch den Kopf gegangen, während sie zusammen unterwegs gewesen waren…
Skadi gab ein fast schon tonloses Mh von sich und korrigierte ihren Sitz. Leise polterten die Sohlen ihrer Stiefel gegen die Kiste, die sie sich vor einigen Wochen - eher gezwungenermaßen - zugelegte hatte. Irgendwann war selbst ihr klar geworden, dass sie zwar in der Heimat und mit reichlich Gras unter den Füßen ohne Schuhwerk herumstreunen konnte. Doch bei den schmutzigen Pflastern der großen Städte verging ihr jegliche Lust darauf. „Schade. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt.“ Eine Floskel, die ihr ungewohnt leicht über die Lippen glitt. Womöglich weil sich bereits der Alkohol wohlig warm in ihrem Kopf ausbreitete und einen sanften Hauch auf ihre Wangen legte. „Ich weiß noch sehr genau, was wir aus der Höhle heraus geholt haben... und keine der Karten, die ich Shanaya mitgebracht habe, hatten irgendetwas mit der zweiten Welt zu tun.“
Die Erinnerung daran war eine, die er nicht missen wollte. In den letzten Tagen und Wochen hatte er oft – wann immer ihm die Distanz, die Skadi zu ihm hielt aufgefallen war – an das Fest zurückgedacht. An die Abende voller Musik und Tanz und auch jenen Abend, an dem er die angeheiterte Nordskov zurück zur Sphinx begleitet hatte – oder sie ihn, wie man’s nahm. An das kleine Wendigo-Abenteuer und schließlich der gemeinsame Ausflug zum Angeln. Skadi, wie sie in diesem zerrupften Kleid ihr Diebesgut zurück zum Schiff beförderte, ohne dass jemand Verdacht schöpfte. Das erste und letzte Mal, dass er sie ihn derart weiblicher Kleidung zu Gesicht bekommen hatte. „Ich hatte sie kurz vorher gefunden, glaube ich.“ Während des Festes war es meist ein Zustand zwischen Kater und Angetrunken gewesen. Die zeitliche Reihenfolge war nicht mehr ganz so detailliert. „Sie war so einem komischen alten Kautz aus der Tasche gefallen, der bei uns anheuern wollte. Habe ich dir nicht davon erzählt?“ Er war wirklich verwundert. Anscheinend hatte es sich nie ergeben. „Ich habe auch erst wieder dran gedacht, als wir schon wieder unterwegs waren. Talin und Luc haben sie in ihre Obhut genommen. An sich ein leeres Stück Pergament, wenn man so will, aber…“ Der Gedanke an dieses eigenartige Gefühl zwischen den Fingern ließ ihn auch jetzt wieder erschaudern. „Es fühlt sich an, als hätte man ein Stück pures Eis zwischen den Fingern. So etwas habe ich noch nie gesehen, geschweigedenn davon gelesen.“
Sie schüttelte Kopf. Nach einigen Atemzügen, in denen sie den Kopf und Blick an ihm vorbei in den Nachthimmel wandte und die vergangenen Wochen Revue passieren ließ. Nichts von einer Karte. Keiner, die mehr als nur Pergament und Tinte war. „Nein... Weder in der Gasse, wo ich auf dich getroffen bin, noch danach, als wir das Diebesgut zum Schiff gebracht haben.“ Womöglich weil einfach zu viel passiert war. Vielleicht weil in all ihren gemeinsamen Erlebnissen alles andere wichtig gewesen war. Der Spaß an der Musik. Den Unterhaltungen. Skadi schluckte kurz, als ihre Fantasie abschweifte und das Flackern der Laterne das knisternde Feuer in ihre Erinnerungen zurückholte. Im Wald. Mitten in der Nacht. Fast wäre ihr ein Teil der Erzählung entgangen, zu der Liam angesetzt hatte. Aus den Augenwinkeln musterte sie ihn aufmerksam. So gut es irgend ging. Dann verzog sie die Lippen. Nachdenklich. „Pures Eis? Hm. So etwas habe ich auch noch nie in den Händen gehabt. Und ihr habt nicht herausbekommen, was es enthält?“
„Nein, bislang nicht.“ Ihm war auch keine andere Idee mehr gekommen, diesem geheimnisvollen Pergament auf eine andere Art und Weise etwas zu entlocken. Während er sprach, griff er ganz selbstverständlich wieder zur Flasche und zog den Korken aus dem Hals. „Ich will einfach nicht glauben, dass uns damit jemand zum Narren halten will. Allein eine solche Art Papier muss so unfassbar wertvoll sein, dass man sich damit keinen Spaß erlaubt. Womit auch immer der Zeichner seine Tinte hat verschwinden lassen… Man liest immer davon, dass Wärme oder Feuchtigkeit unsichtbare Tinte wieder zum Vorschein bringt, aber… Nichts.“ Fragend hob er die Flasche in Skadis Richtung, um ihr zumindest noch einen Schluck angeboten zu haben, selbst wenn er davon ausging, dass sie ablehnte. „Die Kälte, die von diesem eigenartigen Pergament ausgeht, ist die einzige Spur, die wir haben.“
„Und wenn es ein Lied ist.“ Es war ein kurzer Gedanke. Ein Blindschuss. Doch manchmal waren wahrhaftige „Schnaps“ideen was am Ende vielleicht Gold wert war. Seinem Angebot nickte sie gedankenverloren zu, ohne wirklich darüber nachzudenken. Selbst wenn sie eine Sekunde später, als die Flüssigkeit bereits in ihren Krug plätscherte, wusste, dass ihre selbstverordnete Nüchternheit es nicht guthieß, so starken Alkohol in sich hinein zu kippen. „Oder es ein passendes Gegenstück braucht? Etwas... wie aus einer anderen Welt?“
Zum Glück dachte er daran, die Flasche wieder abzusetzen, als Skadi einen weiteren Gedanken in den Raum warf, der ihm zwar mal dumpf gekommen war, den aber in jener Nacht recht schnell verworfen hatte. Ihr Tonkrug wies somit nicht wirklich mehr Inhalt auf als sein eigener. „Das schlimme ist… Es könnte alles sein.“, seufzte er, während er die Flasche wieder hinstellte und sich nun seitlich an die Reling lehnte, um die tanzenden Lichter auf Skadis Zügen zu mustern. Es war angenehm, dass der Schnaps die Härte aus ihren Zügen trieb, die sie die letzten Wochen begleitet hatte – ihm gegenüber jedenfalls. „Und magische Melodien werden gar nicht mal so selten in der Literatur erwähnt. Ob wirklich was dran ist…“ Er zuckte mit der Schulter. Bislang hatte er noch nicht das Glück gehabt, Zeuge von dergleichen Phänomenen zu werden – abgesehen davon natürlich, dass Musik den Menschen Freude in die Gesichter zauberte. „Musik, ein Element, vielleicht auch irgendeine Flüssigkeit oder Kräutermischung. Das Problem ist, dass wir mit allem, was wir ausprobieren und was physischer Natur ist, Gefahr laufen, das Pergament zu zerstören. Am besten wäre es also, wenn wir herausfinden würden, woher es kommt, um zu verstehen, wie es funktioniert.“
„Was bedeutet, dass wir durch die Welten reisen müssen, um Gewissheit zu haben.“, vollendete die Nordskov und begann auf der Unterlippe herum zu kauen. Ihr Kopf sprudelte vor Ideen. Doch wenn Liam recht behielt, sorgten sie alle nur für die Zerstörung des Pergaments. Mit Ausnahme der Lieder. Seufzend lehnte sich Skadi zurück. Fast im selben Moment als der Lockenkopf gegen die Reling glitt und kurze Zeit in ihrem toten Winkel verschwand. Dann hob sie die Beine auf den Deckel. Drehte sich mit Armen und Körper zur Seite, knapp am Krug vorbei, um im entspannten Schneidersitz nun direkt zu ihm aufzusehen. „Aus dem komischen Kistchen bin ich auch nicht wirklich schlau geworden.“
Er nickte langsam. Diese Aufgabe sorgte vermutlich für Unmengen an Abenteuern – gleichzeitig aber war es die Suche nach der Nadel im Heuhaufen, solange sie nicht wussten, wo sie anfangen sollten. „Das und dass wir ein bisschen Glück brauchen, um zufällig über irgendetwas zu stoßen, was uns weiterhilft.“ Er musterte kurz die klare Flüssigkeit in seinem Krug, die in der Dunkelheit der Nacht wie Pech wirkte. Unweigerlich musste er darüber nachdenken, ob Schnaps vielleicht mehr Wirkung zeigte als Wasser. Alkohol gefror nicht. Aber wenn es nicht funktionierte, war dieses magische Stück Papier nicht nur angesenkt und angekritzelt, sondern auch noch in Wasser und Honigbeer-Schnaps getränkt. Er sah auf, als Skadi das nächste Rätsel auf den Tisch holte. „Vielleicht hatten sie das Ding auch von diesem komischen Kautz. Aber den wiederzufinden, ist vermutlich genauso aussichtlos wie einfach blind durch die Gegend zu segeln. Irgendwie bemalt oder graviert war sie nicht, oder? Nichts, worauf man darauf schließen könnte, wo sie hergestellt wurde?“ Nachdenklich ließ er den Schnaps in seinem Krug kreisen, ehe er daran nippte und das Gesicht leicht verzog. „Aber was das angeht, kann Alex vielleicht weiterhelfen. Vielleicht ist irgendetwas besonderes an der Verarbeitung oder dem Holz an sich.“
Zufall. Allmählich wurde dieser stetige Begleiter ihrer Reise ein wenig zu präsent, wenn es nach ihr ginge. Es gab nichts Unbeständigeres, das so viel Macht über den Ausgang eines Weges und einer Entscheidung haben konnte. Sie seufzte in leiser Zustimmung. Verzog die Lippen und lenkte den Blick von Liams halb beleuchteten Zügen auf den dunklen Horizont. „Ich glaube nicht nein. Man könnte nicht einmal behaupten, irgendwelche Rillen zu erkennen. Als wäre es aus Holz gegossen worden.“ Eine absurde Vorstellung, wenngleich mehr als zutreffende Beschreibung. Dann nickte sie. Trommelte gedankenverloren mit den Fingerspitzen über das dicke Holz der Kiste unter sich. „Vielleicht. Einen Versuch wäre es wert. Ob er mir allerdings freiwillig helfen wird.“ Die kleine Pause hing provokativ in der Luft und hinterließ trotz des negativen Untertons ein süffisantes Lächeln auf ihren Züge. Alex hatte bisher nicht den Eindruck erweckt, als wollte er zwingend ihre Gesellschaft genießen. Was nicht verwunderlich war. Sie hatte nicht gerade die allerbeste Laune an den Tag gelegt. „Vielleicht gebe ich ihm einfach einen Krug von deinem Schnaps als Einstand. Hat bisher immer geholfen.“