18.04.2021, 23:29
Auf der anderen Seite der Hecke war Trevor in einen dramatischen Kampf mit einem dornigen Ast verwickelt. Als er es endlich geschafft hatte, das hölzerne Biest aus seinem Hemd, dann aus seinen Haaren, wieder aus seinem Hemd und schließlich von seinem Stiefel zu schütteln, hatte sich Josiah der Werbusch bereits elegant durch das Dickicht gewunden und wieder seine menschliche Form angenommen. Er hatte nicht mal den Baumstamm benutzt.
„Jap. Einen Bären“, sagte Trevor, grinste und trat den dornigen Ast unauffällig mit dem Stiefel in den weichen Waldboden. „Nach dir!“
Er bedeutete Josiah, auf dem schmalen Pfad voranzugehen, der sich, wenn man entsprechend viel Fantasie aufbrachte, vor ihnen erstreckte. Nicht, dass das nötig gewesen wäre, Josiah schien ohnehin zu wissen, wo es langging. Und ob er hier etwas versteckt hatte! Sie mussten ganz in der Nähe sein. Bereits nach ein paar Schritten wurde Trevor des Verfolgens überdrüssig und er überholte Josiah doch.
„Oh, weißt du …“ Trevor stocherte mit seinem Stock links und rechts im Unterholz herum. „Man hört so einiges, wenn man so weit herumkommt wie ich. Es gibt auch noch Werkräuter, Werbäume, Werpilze, Werwölfe, Weradler, Werentchen –“
Er hielt inne, warf einen Blick über die Schulter und deutete verschwörerisch auf den dicken, grünen Käfer, der es sich auf Josiahs Schulter bequem gemacht hatte.
„Sogar Werkäfer!“
Eigentlich hatte er vor exakt zehn Minuten und ein paar Herzschlägen zum ersten Mal von Werbüschen gehört, nämlich von Josiah persönlich. Aber er hatte die Erfahrung gemacht, dass zweifelhafte Geschichten davon profitierten, wenn man ihnen noch allerlei anderes andichtete. Zwar machte sie das nicht unbedingt glaubwürdiger, aber irgendwann waren sie so gespickt mit Lügen, Wahrheiten und blanken Erfindungen, dass man eins vom anderen nicht mehr unterscheiden konnte und die Geschichte nehmen musste, wie sie war. Er tat Josiah also quasi einen Gefallen. Davon mal abgesehen machte es ganz einfach Spaß.
„Ich bin mal mit einem Mann gesegelt, dessen Verlobte von einem Werbusch gefressen wurde. Sie musste jeden Tag durch diesen einen Wald laufen, um zu ihm zu kommen. Du weißt schon, die Sorte Wald, die hundert Schattierungen von Grün hat, wo die Luft schwer und voller Mücken ist und du eine Liane nicht von einer Schlange unterscheiden kannst. Eigentlich diesem hier gar nicht so unähnlich.“
Unbekümmert schob Trevor besagte Liane mit seinem Stock aus dem Weg, tauchte unter den Blättern riesiger Stauden hindurch und wich einer Gruppe fragwürdiger, träger Insekten aus.
„Tja, und eines Tages kommt sie nicht bei ihm an. Und er geht sie suchen, läuft den ganzen Weg ab, ein Mal, zwei Mal, und beim dritten Mal ist es schon fast dunkel und er verliert den Pfad aus den Augen.“
Je weiter sie kamen, desto feuchter wurde der Boden und als Trevor über ein paar hervorstehende, knorrige Wurzeln sprang, spritze Schlamm auf. Grinsend drehte er sich zu Josiah um, einerseits, um den Effekt bei ihm zu beobachten, und andererseits, um den nächsten Teil der Geschichte mit gruseliger Mimik unterlegen zu können. Dass er dafür rückwärts weiterlaufen musste und nur noch die Hälfte seiner Hindernisse sehen konnte, gehörte natürlich zur Präsentation.
„Inzwischen ist er hungrig und durstig, seine Arme sind zerstochen und seine Beine zerkratzt, aber er schlägt sich weiter durchs Unterholz. Da sieht er in der Ferne etwas aufleuchten!“
Trevor fuhr herum und richtete seinen Stock erst theatralisch ins grüne Blätterdach, überlegte es sich dann doch anders und patschte die Spitze in die Pfütze, die den Weg teilte und so schön passend glitzerte. Offenbar verwandelte sich der Wald um sie herum immer mehr in einen Sumpf.
„Er stürmt und stolpert und strauchelt darauf zu, aber –“
Er hielt endgültig an, drehte sich zu Josiah um und sah ihn mit großen, ernsten Augen an.
„Es ist zu spät, er findet nur noch ihren roten Umhang, zerrissen im Gebüsch hängend. … Und ihr Skelett darin. Ratzekahl gefressen. Hat ihn schon ein bisschen verrückt gemacht.“
Trevor stieß einen Pfiff aus und machte mit seinem Zeigefinger eine schraubenförmige Bewegung neben seinem Kopf. Gleich darauf erschien wieder das Grinsen auf seinem Gesicht.
„Apropos. Wie bist du zu einem Werbusch geworden?“
Je länger er darüber nachdachte (das war nicht sonderlich lang, aber schon irgendwo in der Nähe, für Trevors Verhältnisse), desto weniger fiel ihm ein, was er über Josiah wusste. Normalerweise war das umgekehrt, er schnappte eine Menge Zeug auf und vergaß es sofort wieder, bis er eine zeitlang hochkonzentriert in die Luft starrte und die Informationen wieder zurückpurzelten wie bunte Teile aus mindestens fünf verschiedenen Puzzeln. Was jedoch Josiah anging … Sie hatten ihn ziemlich angematscht aus dem Wrack der Morgenwind gefischt, also war er irgendeine Art von Verbrecher. Aber das sagte nicht viel aus, schließlich waren sie inzwischen allesamt gesuchte(!) Piraten.