18.04.2021, 16:58
Er war schon immer eher bescheiden gewesen. Ein Träumer, dem es in seiner eigenen, kleinen Welt nie zu einsam wurde, während er sich gleichzeitig gut mit dem Trubel der Realität abfinden konnte. Liam war niemand, der sich für besonders spannend hielt – nicht umsonst war das Prahlen mit ihren Abenteuern meist komplett an Alex hängengeblieben, während der jüngere Lockenkopf die Dinge eher nüchtern und beiläufig betrachtete. Zum einen, weil er mittlerweile gemerkt hatte, dass viele die fantasievolle Art, mit der er die Welt oftmals betrachtete, eher schräg vorkam. Zum anderen, weil er absolut niemand war, der mit Hämatomen und Verletzungen prahlte, weil Gewalt für ihn dann doch eher eine recht primitive Art und Weise der Kommunikation war. Leider aber war diese Sprache für manche die Einzige, die sie verstanden; und Liam jemand, der zu seinen Worten und Taten stand und vor allem niemanden alleine oder wissentlich im Nachteil zurückließ. Man hatte ihn Anstand gelehrt. Anstand und Moral. Und das bedeutete manchmal eben auch, sich in weniger schöne Situationen zu bringen, um mit sich selbst im Reinen zu bleiben – und um Leuten zu helfen, die keine andere Hilfe hatten. Egal, wie nah oder fern er ihnen war. Egal, ob für ihn dabei etwas heraussprang oder nicht.
In diesem Falle enthielt er Rayon also nicht absichtlich die Antwort auf das, was den Dunkelhäutigen beschäftigte. Er implizierte es schlichtweg nicht in die Frage, die ihm gestellt worden war. Weil es für ihn eben nicht allzu wichtig war. Als sich sein Freund neben ihm niederließ, klappte er das Buch in seinen Händen zu und ließ lediglich einen Finger zwischen den Seiten liegen, um den Punkt zu markieren. Rayon galt ein etwas kritischer Blick, als er ihm von seinen Erlebnissen erzählte. Kritisch, aber keineswegs ungläubig, immerhin war der Größere allein von der Statur her schon weitaus besser für den Ring geeignet als Liam selbst. Letztlich stieß er in das Lachen mit ein und schüttelte angedeutet den Kopf. Er konnte sich recht gut vorstellen, wie sich Rayon nach dieser Erfahrung gefühlt haben musste.
„Furchtbar, wenn sich die Leute nicht mehr damit zufrieden geben, sich unter den Tisch trinken zu lassen, hm?“
Eine Disziplin, in der er, zugegeben, auch weitaus besser war als in handgreiflichen Auseinandersetzungen. Flint wäre zwar vermutlich allein seiner gorillaartigen Statur wegen kein einfacher Konkurrent gewesen, doch Liam konnte sich als Musiker und Künstler auf einiges an Erfahrung und Übung verlassen. Sein Blick war ein wenig nachdenklich über den Teil des Gartens geschweift, den sie von hier aus sehen konnten, ohne die leicht bekleideten Damen wirklich wahrzunehmen. Nicht, weil sie nicht sehenswert gewesen wären, sondern weil man sich hier in den letzten Tagen bereits zur Genüge an die Normalität dieses Anblicks gewöhnt hatte. Erst, als er Rayons Blick auf sich spürte, sah er wieder auf und blinzelte. Der Wink mit dem Zaunpfahl war definitiv nicht überflüssig gewesen. Er erwiderte den Blick des Dunkelhaarigen, schmunzelte, als er verstand, worauf er hinauswollte und holte Luft.
„Darauf wolltest du also hinaus?“, fragte er rein rhetorisch, während sein Blick kurz auf das Buch in seiner Hand fiel. „Ich sag‘ ja – zur falschen Zeit am falschen Ort. Oder andersrum. Ganz wie man’s nimmt.“
Das Lächeln auf seinen Zügen war ehrlich. Für Nathan war er vermutlich zur richtigen Zeit da gewesen. Und für Skadi auch, selbst wenn es nur noch mehr Probleme mit sich gebracht hatte.
„Josiah und ich haben Shanaya ein bisschen Auslauf gegönnt, als sich irgendein lebensmüder Taschendieb ausgerechnet ihre Tasche als Tagesverdienst ausgesucht hat. Natürlich sind wir ihm gefolgt, doch statt ihn einzuholen, war uns ein anderer Mann zuvorgekommen. Jedenfalls hatte er Shanayas Tasche. Von diesem Dieb fehlte jede Spur.“ Wie die Geschichte weiterging, konnte sich Rayon vermutlich erst einmal vorstellen – er kannte Shanaya inzwischen auch lange genug, um zu wissen, dass sie so etwas nicht auf sich sitzen lassen würde. „Das allerdings hat sie natürlich nicht davon abgehalten, diesen Dieb eigenhändig zum Pfeffer jagen zu wollen. Ich wiederum bin diesem Mann gefolgt, weil ich kein gutes Gefühl dabei hatte. Hätte auch einfach eine gute Masche von ihm sein können – erst selbst stehlen und dann den guten Samariter spielen, um eine Belohnung einzuheimsen.“
Er erinnerte sich gerade daran, dass er weder Josiah noch Shanaya je danach gefragt hatte, ob sie fündig geworden waren. Er war zu sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt gewesen. Musste er nachholen. Wenn er daran dachte.
„Ob’s tatsächlich so war, weiß ich nicht. Allerdings stellte sich heraus, dass nicht nur ich ihm gefolgt war, sondern auch zwei Handlanger dieses Untergrundgorillas, der auch nicht sonderlich gut auf unsere neue Bekanntschaft zu sprechen war. Irgendwas Unanständiges mit seiner Tochter oder so.“
Liam winkte mit einem Grinsen ab, wollte Rayon diese amüsante Nichtigkeit der Geschichte aber nicht vorenthalten.
„Letztlich… ‚Bot‘ er ihm an, im Ring seinen Mann zu stehen, um ‚die Sache zu vergessen‘. Eine recht einseitige Kampfkonstellation, wie du dir bestimmt vorstellen kannst. Und da dieser Mann zur Selbstüberschätzung neigt, war er sich auch für einen Kampf gegen uns beide nicht zu schade, immerhin könne ich so ja auch meine ‚Dreistigkeit‘ wieder wettmachen.“
Liam runzelte kurz die Stirn. Davon hatte er Rayon noch gar nicht erzählt. Also holte er abermals Luft und setzte zum letzten Puzzleteil dieser Geschichte an.
„Ich hatte ihm einen Tag vorher den Spaß vermasselt, eine Frau zu misshandeln, weil ich zufällig vorbei kam.“
Skadis Namen hielt er raus. Nicht wegen Rayon, sondern weil er ihrer schlechten Laune derzeit keinen Zündstoff geben wollte.