04.04.2021, 23:16
Die Gesichter der anderen zeugten von ähnlicher Ratlosigkeit wie seins. Liams Gedanken pendelten zwischen dem Gefühl, das Ganze maßlos zu überschätzen und dem Drang, zu glauben, dass alles gar nicht so schlimm war, wie sie es sich gerade ausmalten. Der Nebel war gefährlich für die Seefahrt, keine Frage, aber damit kein primäres Todesomen. Ein bisschen Brennen in offenen Wunden, auch das hatte noch niemanden umgebracht – im Gegenteil! Alkohol zeigte sogar eine reinigende, praktische Wirkung, für die man den Schmerz gerne im Kauf nahm. Was aber, wenn da doch mehr war. Dinge, die sie eben nicht sehen, riechen oder schmecken konnten. Was, wenn es nicht nur brannte, weil es brannte, sondern weil dieser Nebel wirklich giftig war. Für Wunden, Augen, Lungen. Wenn sie sich wirklich mit jeder Sekunde, die sie länger hier ausharrten, mehr vergifteten, ohne es zu merken – bis es zu spät war. Der Lockenkopf wusste nicht recht, was er denken sollte, entschied sich aber jäh dafür, vom besten Szenario auszugehen, als Rayon ihn in seinen Gedanken unterbrach. Ohne Gegenwehr führte er seine Hand mit der Bewegung des Älteren und begann, zu verstehen, als dieser ihm das Tuch um die Wunde band. Skeptisch runzelte er die Stirn, verzog dann aber das Gesicht in einer Manier, die davon zeugte, dass er dem Frieden nicht traute. Für’s erste allerdings zeigte die simple Idee des Dunkelhäutigen tatsächlich Wirkung.
„Besser. Mal sehen, wie lange.“, nickte er mit einem Hauch von Zuversicht auf den Lippen. „Solange wir nicht wissen, ob es bloß brennt oder doch auch für die Lungen giftig ist, sollten wir schützen, was wir können.“
Rayon fuhr fort und abermals nickte der Lockenkopf zustimmend. Je schneller sie die Crew ausgerüstet hatten, desto besser. Die Arbeit der kleinen Gruppe nahm an Geschwindigkeit zu. Indes blieb ihnen nichts anderes, als zu rätseln und zu mutmaßen.
„Vielleicht Chelyia.“, murmelte er zu sich selbst, während er einen weiteren Stofffetzen erst in den Eimer mit Wasser tunkte und dann zur Seite legte.
Ja, vielleicht versteckte die dortige Bibliothek das Geheimnis vor ihnen. Aber warum? Machte man wirklich ein Geheimnis draus? War es so selten, dass es noch niemand beobachtet hatte? – Und zurückgekehrt war. Ihm wurde schlecht. Und auch der Gedanke an seine Freunde über ihnen machte das Gefühl nicht besser. Oder Sineca, die seitdem verschwunden war. Liam hoffte inständig, dass sie nicht über Bord gegangen war. Eigentlich wusste er, dass sie gut auf sich selbst aufzupassen wusste. Aber die Gefahr im Nacken säte Zweifel, Sorge und Angst.
„Ja, vermutlich.“
Seine Stimme klang nicht ganz so überzeugend, wie er es gerne gehabt hätte, aber sie hatten schon schlimmeres hinter sich gebracht. Eine explodierende Morgenwind beispielsweise, die seine Gedanken gleich wieder in eine Richtung trieb. Er biss sich kurz auf die Unterlippe und sah auf, als Rayon weitere Anweisungen gab.
„Klar, halb so wild.“, versicherte er dem Smutje und reichte ihm zuerst ein einzelnes Tuch, ehe er sich selbst eines davon um den Kopf band. Er bildete sich ein, dass ihm das Atmen einfacher fiel – oder es zumindest ein beruhigenderes Gefühl war als ohne. Manchmal war Einbildung eben doch ein Segen. Die restlichen, fertigen Tücher warf er in zwei Waschschüsseln des Lazaretts, während drei über blieben, damit auch Gregory, Elian und Farley es ihm gleichtun konnten. „Wenn ihr den Rest fertig habt, bringt sie hoch.“
Er nickte Elian zu, ehe er aufsah, Rayon eine der Schüsseln reichte und entschlossen gen Treppe blickte. Entschlossen, doch das mulmige Gefühl blieb. Das mulmige Gefühl, zu sehen, was dort oben auf sie wartete. Die Treppen nach oben nahmen die beiden Männer zügig. Kurz, bevor Liam die Tür aufstieß, warf er Rayon einen flüchtigen Blick zu, der eindeutig Bereit? zu bedeuten schien. Dann trat er das Holz auf und blinzelte in eine dicke Suppe aus gräulichem Nebel, der die Sphinx fest in seinem Griff hatte. Schemen der anderen konnte er lediglich erahnen. Er blieb an der Tür stehen und versuchte, sich zu orientieren.
„Hast du in all den Jahren je so dicken Nebel gesehen?“, fragte er und glaubte, die Antwort bereits zu wissen. „Na, vielleicht ziehen uns ja später die Meerjungfrauen heraus, hm?.“ Er schmunzelte Rayon entgegen, wenn auch ein wenig verloren. Aber das waren sie alle. „Talin! Die Tücher!“