01.04.2021, 12:50
Leise und kontrolliert die Luft ausstoßend fuhr Lucien mit der flachen Hand über den frischen Verband um seine Hüfte, der sich kaum unter dem lockeren Leinenhemd abzeichnete. Er fühlte sich müde, kraftlos, hatte laut Gregory viel Blut verloren. Und obwohl er gut aß und es bereits zwei Tage her war, stolperte das Herz in seiner Brust immer wieder, nahm ihm für einen Augenblick die Luft zum Atmen.
Das war nichts, was er dem Schiffsarzt gegenüber erwähnen musste. Nichts, was er seiner Schwester gegenüber erwähnte. Nichts, was er nicht kannte. Dennoch bereute er zumindest in diesem Moment, Talins Schicht übernommen zu haben. Obwohl er ohnehin nicht wirklich schlafen konnte und keine Position fand, in der das Liegen erträglich war.
Und offensichtlich war er auch nicht der Einzige, der keinen Schlaf fand. Im Moment fuhr die Sphinx lediglich mit Rumpfcrew, damit der Rest der Mannschaft sich von den zurückliegenden Ereignissen erholen konnte. Umso überraschter war Lucien, Rayons hünenhafte Gestalt an der gegenüberliegenden Reling zu entdecken, als er nur beiläufig den Blick von den Tauen des Hauptsegels hob, deren Knoten er zum wiederholten Mal an diesem Abend überprüft hatte.
Einen Moment lang hielt er inne, beobachtete den Dunkelhäutigen, der den Blick auf irgendetwas in seiner Hand gesenkt hielt. Was es war, konnte Lucien in der Dunkelheit zwar nicht ausmachen, doch dass der Smutje tief in trüben Gedanken versank, konnte selbst der jüngere Captain schon allein an seiner Haltung erkennen.
Mit routiniertem Handgriff zog er auch den letzten Knoten straff – ein Ruck, den seine Wunde mit einem protestierenden Stechen belohnte – und wandte sich der gegenüberliegenden Reling zu. Seine sich nähernden Schritte mussten gehört worden sein, denn noch bevor er ihn erreichte, ging ein kleiner Ruck durch den Älteren, mit dem sich seine Hand um den Gegenstand schloss, den sie hielt und sein Blick wieder hinaus aufs Meer wanderte.
„Na? So spät noch auf den Beinen?“,
fragte er mit ruhiger Neugier in der Stimme, noch bevor er Rayon ganz erreicht hatte und neben ihm an der Reling stehengeblieben war. Eine Hand fand das Geländer, sodass er sich mit der unverletzten Seite dagegen lehnen konnte, während die tiefgrünen Augen das Profil seines Gegenübers musterten.
„Wenn ich mich richtig erinnere, hast du doch frei, oder nicht?“