27.03.2021, 20:53
Too Young to Die
Rayon & Lucien | 5. Mai 1822 | Hauptdeck der Sphinx
Obwohl er in dieser Nacht keine Wachschicht hatte, war Rayon noch spät aus seiner Hängematte geklettert und hatte sich auf das Hauptdeck der Sphinx begeben. Er hatte den Schlaf eigentlich dringend nötig, doch seine Gedanken ließen ihn nicht schlafen. Gedanken, die ihn so schmerzlich an vergangene Zeiten erinnerten, an Ereignisse, die er eigentlich längst verarbeitet hatte, dass sich sein Herz in seiner Brust zusammenzuziehen schien, und dadurch die Frage aufwarf, ob er mit seiner Vergangenheit tatsächlich so im Reinen war, wie er immer geglaubt hatte.
Der Smutje hatte sich an die Reling gelehnt, die Ellenbogen auf das Holz gestützt und den Blick auf irgendeinen weit entfernten Punkt auf dem ruhigen Meer gerichtet, das vom Mond in ein nahezu mystisches Licht getaucht wurde. Er schloss die Augen und atmete einige Male tief ein, spürte die kühle Nachtluft in seiner Lunge und den lauen Wind auf seiner Haut. Die sanfte Umarmung der Elemente ließ das drückende Gefühl in seiner Brust etwas schwächer werden, aber es verschwand nicht. Dafür war die Wunde, welche die jüngsten Ereignisse in seinem Herzen hinterlassen hatte, zu frisch. Er hatte versagt, erneut. Wieder war jemandem, der ihm etwas bedeutete, Leid zugefügt worden, ohne dass er einschreiten konnte. Und diesmal hatte diese Person den ultimativen Preis bezahlen müssen.
Rayon öffnete die Augen wieder und richtete den Blick auf seine rechte Hand, die er unbewusst zur Faust geballt hatte und in der sich das einzige Erinnerungsstück an Scortias befand, das er besaß. Langsam lockerte er den Griff um den kleinen Gegenstand und blickte ihn nachdenklich an. Irgendetwas in ihm hatte ihn hier an Deck der Sphinx getrieben, um ihn der See zu übergeben, die Erinnerung loszulassen, nicht nur an den Tod des Schiffsjungen, sondern auch an das, was dadurch wieder an sein Bewusstsein geklopft hatte - mit der gleichen Subtilität, die Trevor regelmäßig an den Tag legte, wenn er etwas von ihm wollte. Nun jedoch brachte er es nicht übers Herz, die Statue von Feuerbart und dadurch das Andenken an den Jungen loszulassen. Sie hatten sich nicht allzu lang gekannt, aber nichtsdestotrotz hatte Rayon sich für ihn verantwortlich gefühlt. Und diese Verantwortung hatte er sträflich vernachlässigt, als er sich auf der Insel, auf der ihnen die Kopfgeldjäger aufgelauert hatten, vom Rest der Crew getrennt hatte, um seine Kräutervorräte aufzufrischen. Die Mannschaft der Sphinx hatte um ihr Leben gekämpft, und er war ihnen nicht beigestanden. Sicherlich gab es dafür Gründe - schließlich war er selbst von einer kleinen Gruppe angegriffen worden und konnte nur knapp mit seinem Leben entkommen... doch was war dieses Leben wert, wenn er nicht einmal in der Lage dazu war, es dafür zu nutzen, jemanden zu schützen, der sein ganzes Leben noch vor sich hatte?
Eine einzelne Träne bahnte sich ihren Weg die Wange des Schiffskochs hinab, als er ein Geräusch in seinem Rücken wahrnahm. Schnell schloss er die rechte Hand erneut und ließ die Statue darin verschwinden, richtete seinen Blick wieder auf das Meer und atmete erneut tief ein, um die düsteren Gedanken zumindest für den Moment zu verscheuchen.