09.03.2021, 11:42
Für ein paar Augenblicke konzentrierte sich Lucien zu sehr auf Soula und das Seil, das sich um seine Hüfte straff spannte, um den nahenden Nebel zu bemerken. All sein Denken richtete sich darauf aus, sich gegen den Zug zu stemmen und gleichzeitig den eigenen Halt nicht zu verlieren. Doch in dem Moment, in dem die junge Frau ihm versicherte, dass es ihr den Umständen entsprechend gut ging und Josiah an ihre Seite trat, um ihr aufzuhelfen, bemerkte auch der Captain den hellen Dunst, der dem älteren Mann von der Reling gefolgt zu sein schien.
Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Taróns Warnung war zu präsent, um ihn nun nicht mit Misstrauen zu erfüllen, als die Sicht zunehmend schlechter wurde. Innerhalb von Sekunden schluckte der Nebel alle Farben, nahm der Welt um ihn herum ihre Sättigung. Dann verschwand das Meer in dichtem Weiß. Und mit ihm der Himmel, die Masten, das Krähennest – selbst der Bug der Sphinx war von seiner Position aus nicht mehr zu sehen.
Lucien stieß einen gedämpften Fluch aus, setzte mit zügigen Bewegungen dazu an, das Seil von seiner Hüfte zu lösen, als die feuchte Luft auch über seine Haut strich und ihm von einer Sekunde auf die nächste ein beißender Schmerz durch die Schläfe schoss. Reflexartig ließ er das Tau los, das dumpf auf die Planken schlug, und presste die Hand mit einem leisen Aufschrei gegen die Platzwunde über seiner Braue. Blinzelte gegen das Brennen, das ihm erneut die Sicht rauben wollte und jeden Gedanken über Nebel, Vögel und Schiff für einen Moment erstickte.
Gedämpft hörte er Josiahs Stimme und Soula, die ihm antwortete, und dann, deutlich näher, die von James. Irgendwelche Befehle? Gute Frage. Waren überhaupt noch alle an Bord? Wo war Talin? Sie mussten erst einmal herausfinden, ob es überhaupt allen gut ging. Shanaya? Skadi?
Lucien hob den Blick, das rechte Auge gegen den Schmerz geschlossen, die Hand nach wie vor auf die blutende Wunde direkt darüber gepresst. Kurz huschte sein Blick über den Mann direkt vor ihm, dann weiter zu Soula und Josiah. Machte vier, denen es einigermaßen gut ging. Irgendwo in seinem Rücken riefen Alex und Ceallagh Warnungen über das Deck. Beide waren also wohlauf. Und nur eine Sekunde später durchströmte ihn zumindest ein Hauch Erleichterung, als gedämpft Skadis Stimme durch den Nebel über ihnen drang und ihm bestätigte, dass auch sie noch lebte. Fehlten noch Shanaya und Talin, deren Situation ungewiss war.
Vorsichtig löste Lucien die Hand von der Schläfe, gab einen leisen Zischlaut von sich, als sich der Schmerz erneut in die Wunde hinein fraß. Doch er biss nur die Zähne zusammen und schob das Tau, das er achtlos zu Boden hatte fallen lassen, mit dem Fuß unter das Beiboot. Die tiefgrünen Augen huschten zu James zurück.
„Geh und sieh...“
Ein Hilferuf unterbrach ihn mitten im Satz, ließ ihm die Worte auf der Zunge gefrieren und nun war es der Schmerz in seinem Kopf, der einen Moment völlig in Vergessenheit geriet. Die Alarmglocke auf dem Achterdeck schrillte.
Mann über Bord.
Er wandte sich um, grob in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war, warf nur einen Seitenblick zum Achterdeck, das er im dichten Nebel gerade noch erahnen konnte. Irgendjemand war noch dort oben und zumindest bei Bewusstsein. Aber ob Greo oder Shanaya oder beide vermochte er nicht zu sagen. Und er hatte keine Zeit, um sich darum zu kümmern. Die Sphinx bewegte sich nach wie vor und auch wenn die Stimme jenseits der Reling nicht Talins gewesen war, konnte er sich nicht vollkommen sicher sein.
„Alex! Der Steuerbordanker! Runter damit!“,
rief er über die Schulter. Er hatte zwar keine Ahnung, ob die Kette überhaupt bis zum Grund reichte, aber allein das Gewicht des Ankers sollte sie langsamer machen – und sollte er unverhofft einen Widerstand treffen, konnten sie das Schiff zumindest im Ansatz wenden.
Er wandte sich an die drei, die unmittelbar bei ihm standen.
„Josiah, Fock- und Hauptsegel reffen, und zwar schnell. Ich übernehme achtern. James, Soula? Vorne am Bugaufbau befindet sich ein Lagerraum. Holt ein paar Netze und werft sie über die Steuerbordreling aus. Wenn ihr jemanden im Wasser seht, fischt ihn raus.“
Blieb zu hoffen, dass der, der da im Wasser trieb, gut genug schwimmen konnte.