14.02.2021, 10:40
Wie gefährlich kann so eine Seefahrt schon sein? Genau das hatte sich Néniel gefragt als sie, nach langem hin und her, den Entschluss gefasst hatte Asanu - und damit ihrem bisherigen Leben - den Rücken zu kehren. Es war ein seltsames Gefühl gewesen, diese Entscheidung zu treffen, dem Händler das bisschen Gold zu geben, welches sie besaß und an Bord seines kleines Schiffes zu kommen. Masita war ihr Ziel gewesen, aber das war Néniel im Grunde egal gewesen. Hauptsache Asanu würde hinter ihr immer kleiner werden und nicht wieder auftauchen. Doch was hatte sie sich für einen Plan für ihre Zukunft zurechtgelegt? Im Grunde keinen. Sie fuhr auf diesem Schiff in eine Zukunft die ihr schleierhaft vorkam und neben einem leisen Gefühl der Euphorie, nahm sie auch ein Anflug von Angst fest in seinen Griff. Angst, die sie - seit dem sie Segel gesetzt hatten - ständig begleitete und die sie versuchte auszublenden. Dabei halfen ihr die Gespräche mit Jonni, die sich eher um Tiere und Pflanzen oder seinen Cousin's drehten. Néniel selbst gab selten etwas von sich Preis, zu sehr befürchtete sie, dass der Name Valerius aus diesem Schiff bekannt sein könnte. Und wer hörte sich schon gerne Geschichten über eine kaputte Familie an, in welcher die Mutter wegen Ehebruch im Gefängnis saß und der Vater in seinen Psychosen gefangen war? Sie selbst würde sich das nur sehr ungern anhören wollen, geschweige denn davon berichten. Das würde das ganze Ausmaß der Verderbheit ihrer Familei, für sie nur wieder begreiflich machen.
Leise seufzte die junge Frau, stieß sich von der Reling ab und wandte sich gerade um, als ihr rote Segel ins Auge stachen. Sie kamen ihr bekannt vor und sie glaubte, dass sie sie am Hafen von dem sie abgefahren war, ebenfalls gesehen hatte. War das nicht das Schiff, auf dem es auch so 'viele' Frauen gegeben hatte? Néniel spürte, wie ihr Mund für einen Moment trocken wurde, ehe sie ein Stoß gegen ihre Schulter aus dem Gleichgewicht brachte. "Verzeihung, M'am.", raunte ein junger Seefahrer, von einer ihr - anfangs - unbegreiflichen Hektik erfasst.
Sie flohen. Das war nicht nur daran zu erkennen, wie der Captain ihres Schiffes die Anweisungen verteilte, sondern auch an der Tatsache, dass das fremde Schiff stets aufzuholen und sie als klares Ziel auszumachen schien. Ein seltsam aufregendes Gefühl beschlich die junge Frau, am Heck des Schiffes stehend und das andere Schiff taxierend. Natürlich erkannte sie nicht, was sich auf dem anderen Schiff abspielte und es war absurd, mit einer solchen Ungeduld darauf zu warte, was passierte - der Händler schien schließlich ernsthaft besorgt - doch Néniel konnte sich dieser Regung einfach nicht erwehren.
Der Nebel jedoch, fiel ihr erst dann auf, als er sie beinahe völlig umschloss. Ein seltsames und irgendwie unwirkliches Kribbeln zog sich über ihre Haut und das Holz unter ihren Händen fühlte sich ungewohnt und verbraucht an. Der Blick ihrer eisblauen Augen, löste sich von dem Punkt, welchen sie zuvor noch fixiert hatte und mit einem fragenden Ausdruck wandte sie sich um. Ein Schrei, der durch Mark und Bein ging, dröhnte über den Nebel hinweg an ihre Ohren und das Schiff unter ihr knarzte demütig. Die Mannschaft griff zu den Waffen und plötzlich wurde es sehr laut. Schüsse fielen und gerade als sich der Blick der blonden Frau gen Himmel richtete, saß sie wie das halb gefiederte, halb beschuppte Wesen den ohnehin angeschlagenen Mast - er war ihr zu Beginn ihrer Reise gar nicht so morsch vorgekommen? - mühelos unter seinem Gewicht zum Einsturz brachte. Holzsplitter stoben durch die Luft und Néniel wurde durch die Wucht des Aufpralls von den Füßen gehoben und landete unsanft auf dem Holzdeck des Schiffes. Ein scharfer Schmerz zog sich über ihre Schläfe und strahlte in ihren gesamten Kopf.
Es dauerte einen Moment bis sich die junge Frau sammeln konnte und wusste, wo oben und unten war. Nicht unweit von ihr lag ein Seemann, mit vor Schreck geweiteten Augen und einem verzerrten Gesicht, durch dessen Brust ein großes Stück Holz getrieben war. Erschrocken, nahezu panisch, betrachtete die Blondine das Bild einen Moment, ehe sie sich taumelnd aufraffte und sich umsah.
"Jonni? JONNI?"
Sie hatte das Gefühl, dass ihr Ruf von dem dichten Nebel geschluckt wurde, der in unnatürlichen Schlieren über das Deck des Handelsschiffes waberte. Wie kleine, gierige Finger umschloss er alles, was seinen Weg kreuzte. Das Holz wurde morsch, Eisen begann zu rosten. Néniels Blick glitt zu dem einzigen Beiboot. Eine Traube Männer hatte sich darum versammelt, keiner machte sich die Mühe nachzusehen, ob einer der Männer noch lebte, die bewusstlos und verteilt auf dem Schiff lagen. Das Herz der 25jährigen klopfte aufgeregt und ängstlich in ihrer Brust, verloren auf dem Deck stehend und nicht wissend, was sie nun tun sollte.
{AUF DECK DES HANDELSSCHIFFES - JÓN}