02.02.2021, 15:22
Seine Anweisung hatte Shanaya kaum erreicht, da spürte der junge Captain bereits, wie sich die Sphinx ein Stück zur Seite neigte. Wie sie ihren Bug nach Nordwesten ausrichtete und die Wellen sich an ihrem Rumpf brachen. Wie die Segel sich in den Tauen drehten, um vor dem Wind zu bleiben. Allein die Art, wie sich das frisch aufpolierte Schiff mit Leichtigkeit bewegte, hätte ihn in diesem Moment zum Lächeln bringen können – ebenso die Tatsache, wie selbstverständlich ihre Navigatorin seiner Aufforderung nachkam. Obwohl er ganz genau wusste, wie sehr ihr das Abenteuer unter den Nägeln brannte, in das sie sich beide gleichermaßen stürzen wollten.
Doch Lucien lächelte inzwischen nicht mehr. Mit gerunzelter Stirn lauschte er Taróns Erklärung und wo zuvor nur fragendes Unverständnis gelegen hatte, spiegelte sich nun skeptischer Unglaube auf seinen Zügen. Um Jahre gealtert? Was sollte das bedeuten? Es gab nichts... nichts, wovon er je gehört hätte, das diese Auswirkungen haben sollte. Nicht in dieser Welt, zumindest. Selbst Beiros... selbst er hatte nie von solch einem Phänomen zu erzählen gewusst und sein Weg hatte ihn weit, weit über die Grenzen der Ersten, Zweiten oder Dritten Welt hinaus geführt. So viel weiter, als Luciens begrenzter Verstand reichte.
Das Holz des Taljenblocks knackte vernehmlich, lenkte seinen Blick wieder nach unten und er sah gerade noch, wie die morschen Späne lose zu Boden rieselten. Dann führten Taróns Worte ihn zu Trevor, der sich just in diesem Moment in ihr Gespräch einmischte. Wäre ihm seine Hand mal abgefault, dann wäre er damit vielleicht beschäftigt genug gewesen, um den 21-Jährigen nicht schon mit seinem Luftholen zu nerven. Wie genau stellte sich der Spinner das vor? Einen Nebel einzufangen? Es war immer noch ein Nebel, kein verdammter Molch.
„Und wie genau soll das funktionieren? Willst du ihn bis dahin vielleicht in ein Gurkenglas sperren?“,
warf er ihm sarkastisch entgegen, bevor er leicht die Augen verdrehte und schließlich seinem eigentlichen Gesprächspartner zunickte, um ihm zu versichern, dass er verstanden hatte. Auch, wenn er nicht verriet, was er von alledem hielt. Trevor verbannte er kurzerhand aus seinen Gedanken. Er hatte in diesem Moment bei Weitem wichtigeres zu tun, als sich die Ideen eines Irren anzuhören. Spätestens, als Ceallagh wieder zu ihnen stieß und ihm eine ganz andere Entscheidung abverlangte.
Bisher hatte er lediglich beschlossen, sich vorsorglich von diesem Nebel zu entfernen, bis Tarón ihn aufgeklärt und von dessen Gefährlichkeit überzeugt hätte. Die Verfolgung ihrer Beute gänzlich abzubrechen stand bis dahin nicht zur Debatte, auch wenn deren Flucht in den weißen Dunst einen Erfolg mehr als unwahrscheinlich machte. Auch ohne Vögel. Doch da ihnen nun Ceallagh im Kampf gegen diesen neuen Gegner ebenfalls nur wenig bis gar keine Chancen einräumte, blieb ihm eigentlich nichts anderes übrig, als abzubrechen und den ursprünglichen Kurs nach Norden einzuschlagen. Gegen einen riskanten Kampf hatte der Dunkelhaarige nichts – aber er würde sie nicht mutwillig in eine aussichtslose Lage steuern.
Mit einem frustrierten Laut fuhr Lucien sich mit der Hand über die Augen und hob dann den Blick zu Ceallagh. Man hörte ihm an, dass ihn das, was er schließlich sagte, gewaltig fuchste.
„Wir drehen ab und setzen wieder Kurs nach Cheliya.“ Dann winkte er ab. „Meinetwegen schnapp dir eins von diesen Hühnern. Kann nicht schaden, zu wissen, womit wir es zu tun haben.“
Er wollte sich wieder Tarón zuwenden, setzte dazu an, ihn nach weiteren Einzelheiten zu befragen. Doch ein naher, ohrenbetäubender Schrei an Steuerbord ließ ihn herumfahren. Das Rauschen eines gewaltigen Flügelschlags fegte übers Deck, übertönte alle Geräusche. Ein dunkler Schatten legte sich über die Sphinx. Aus purem Reflex griff Lucien nach dem Heft seines Degens, auch wenn der ihm angesichts des Wesens, das sich über ihnen erhob, nicht mehr genutzt hätte, als ein Zahnstocher. Für einen Moment konnte der 21-Jährige ohnehin nichts anderes, als in einer absurden Mischung aus Unglaube und Faszination hinauf zu starren, bis sich der Anblick des Vogels in sein Gedächtnis eingebrannt hatte. Jedes Detail, jede Feder, jede rot glühende Schuppe.
Dann ging plötzlich ein gewaltiger Ruck durch das Schiff, brachte Lucien aus dem Gleichgewicht. Er taumelte und als sich das Schiff unter dem Gewicht des Angreifers bedrohlich auf die Seite neigte, riss es ihn geradewegs von den Füßen.
Um ihn herum gab es nichts, wonach er hätte greifen können, um sich festzuhalten. Seine unfreiwillige Schlidderpartie Richtung Backbordreling endete deshalb – glücklicherweise – erst, als er unsanft mit der Seite gegen das große Beiboot prallte, das in der Mitte des Hauptdecks in seiner Vertäuung schaukelte. In dem heillosen Chaos um ihn herum griff er nach einem der Seile, hielt sich daran fest. Eine Sekunde später prallte irgendetwas hart gegen seine Schläfe, rollte scheppernd weiter in die Tiefe und sauste von Bord.
Lucien fluchte, drückte die freie Hand gegen seine Braue, hinter der beißender Schmerz tobte, und blinzelte gegen das grelle Weiß an, das ihm für einen Sekundenbruchteil die Sicht genommen hatte. Dann hob er den Blick, versuchte, sich zu orientieren. Zu sehen, wo Ceallagh und Tarón waren und was, bei allen Acht Welten, mit seinem Schiff geschah.
Nur eine Armlänge von ihm entfernt ragte der Hauptmast in die Höhe. Er sah daran hinauf, entdeckte das frei über dem Meer hängende Krähennest und den gewaltigen Vogel, der sich daran festzuhalten schien. Und der sie nur deshalb nicht alle ertränkte, weil er nicht vor hatte, auf ihnen zu landen, sondern noch mit den Flügeln schlug, um sich in der Luft zu halten. Doch von den beiden Frauen, die dort sein sollten, sah Lucien in diesem Augenblick nichts.
Unwillkürlich wandte er den Kopf zum Achterdeck, suchte zunächst nach der Tür, die unter Deck führte und an der Talin zuletzt gestanden hatte. Nichts. Sie war nicht dort. Wo war sie? Unter Deck? Gestürzt? Über Bord gegangen? Er konnte nicht richtig denken.
Mühsam kämpfte Lucien sich auf die Beine, zog sich am Beiboot hoch und registrierte nur am Rande, wie irgendjemand irgendetwas von 'schießen' zu irgendjemand anderem brüllte. Gute Idee. Alles, Hauptsache, sie bekamen diesen Vogel dazu, das Schiff loszulassen. Er musste nach Talin sehen. Und nach... Sein Blick ruckte ein Stück weiter nach oben, zum Steuer, das völlig unkontrolliert ausschlug. Shanaya?!
Sein Kopf schien explodieren zu wollen.