20.12.2020, 21:01
Lucien nickte nur mit einem grüblerischen Laut und nahm Shanaya das Fernrohr wieder ab. Nur ein, zwei Sekunden dachte er darüber nach, dann hob er das schlanke Hilfsmittel wieder an und setzte es ans Auge, um einen weiteren Blick über das fremde Deck schweifen zu lassen.
„Dann sollten wir uns vorsichtshalber darauf gefasst machen.“
Er wusste, dass Liam bereits für Ersatzholz und Werkzeug gesorgt hatte, für den Fall, dass sie Schäden davon trugen und schnell handeln mussten. Aber vor allem sorgte Lucien sich in dieser Lage um Masten und Segel. Weniger um die Löcher im Rumpf. Vielleicht sollten sie auch den Lastkran entsprechend vorbereiten, um mit dessen Hilfe das stehende Gut wieder aufzurichten, sollte es zum Ernstfall kommen.
Doch obwohl die Reaktion des Handelsschiffes Shanayas Vermutung wahrscheinlicher machte, dass sie sich dem Kampf stellen wollten, wirkte der junge Captain erstaunlich zuversichtlich. Käme es zu einem Gefecht, würde der Nebel sie zwangsläufig einholen. Dann mussten sie nur so lange manövrierfähig bleiben, bis Ceallaghs Vögel ihnen unwissend in die Hände spielten. Das war zwar noch lange kein so erfolgversprechender Plan, wie der, den sie eigentlich verfolgten, aber ein bisschen lag die Kunst wohl auch im Improvisieren.
Wieder ging ein gewaltiges Donnern durch den Rumpf der Sphinx. Das Schiff erzitterte und eine zweite Kugel sauste quer über das Wasser. Sie verfehlte ihr Ziel nur knapp – was ja auch ihre Absicht war – und dieses Mal erreichte sie die gewünschte Wirkung. Nur ein paar Sekunden später schwenkte der Schoner vor ihnen zur Seite und Lucien, der noch immer das Fernrohr am Auge hielt, musste schmunzeln.
„Na, geht doch.“ Das Fernrohr absetzend wandte er sich wieder an die Schwarzhaarige, hörte sie nur leise mürrisch brummeln, ohne sicher zu verstehen, was sie sagte. Doch das, was er meinte, herauszuhören, ließ ihn noch ein bisschen selbstzufriedener grinsen, auch wenn er nichts darauf erwiderte. Stattdessen widmete er sich wieder ihrem Plan:
„Bleib so lange es geht außerhalb des Nebels. Und sei vorsichtig... Ich vermute, sie holen die Segel ein und das vielleicht nicht nur, weil sie in der Brühe nichts sehen können.“
Etwas, das sie nun auch tun sollten, wenn sie nicht am Ziel vorbei schießen wollten.
Lucien schob das Fernrohr zurück in die Tasche und trat wieder an das Geländer, das auf das Hauptdeck hinaus wies. Die tiefgrünen Augen huschten zu dem an der Steuerbordreling versammelten Grüppchen, suchten nach den passenden Gesichtern zu dem, was sie als nächstes tun mussten. Was genau die Aufmerksamkeit der Crew dort unten erregt hatte, ahne der Dunkelhaarige derweil nicht. Er hatte ganz andere Dinge im Kopf, als einen an sich harmlosen Nebel.
Ganz intinktiv wandte er sich schließlich an Tarón, um die weitere Aufgabenverteilung zu koordinieren. Wohl nicht zuletzt deshalb, weil er schon nach der Flucht von dieser Kopfgeldjägerinsel Vertrauen in dessen Erfahrung und Fähigkeiten gefasst hatte. Er traute ihm zumindest einen geschulten Blick dafür zu, wer für was am besten geeignet war:
„Tarón, sie steuern in den Nebel! Wir müssen Segelfläche reduzieren. Nur ein wenig, damit wir nicht zu schnell sind. Und wir brauchen jemanden im Krähennest, der dieses Schiff im Auge behält, bevor wir es komplett verlieren. Ceallagh! Wo ist Ceall?“