12.12.2020, 20:31
Voller beherrschender Ungeduld tippte Shanaya ein paar Mal mit der Spitze ihres Stiefels auf die Planken unter ihren Füßen. Mit jedem Schritt, den sie näher an das Handelsschiff heran kamen, wuchs diese Ungeduld, die junge Frau schluckte immer wieder dagegen an. Aber der Nebel, der näher und näher rückte, feuerte dieses Gefühl nur noch einmal etwas mehr an. Er schien sich perfekt an ihr kleines Abenteuer anzupassen, bot eine wunderbare Kulisse für das, was sie vor hatten. Die Überlebenden würden sich Geschichten erzählen, dass das Schiff, das für den Untergang der Morgenwind verantwortlich war, plötzlich aus dem Nebel auf sie zu gekommen war. Greo, der kurz zu ihr gekommen – und schnell wieder verschwunden hatte, hatte diese Ungeduld zu spüren bekommen. Und Shanaya hatte da eine vage Idee, wieso er Reißaus genommen hatte.
Irgendwann waren auch die anderen verschwunden und nun war sie mit Lucien allein hier oben. Was nichts daran änderte, dass die Schwarzhaarige versuchte, alles im Blick zu haben. Die Mitglieder der Crew, die sie von hier aus sehen konnte, das fremde Schiff… so viel wie möglich eben. Winzige Fehler konnten über Sieg und Niederlage entscheiden – und wer wäre sie, irgendwelche Fehler zu zulassen, wenn sie sie vermeiden konnte?
Das Knallen der Kanone ertönte und Shanayas Herz machte einen schnellen Sprung, ließ die blauen Augen gebannt der Kugel folgen, um keine Reaktion der Gegner zu verpassen, während ihre Hände sich fester an das Rad darin klammerten, bis die kurze Erschütterung wieder nach ließ. Allerdings… geschah irgendwie gar nichts. Von ihrer Position war es schwer auszumachen, was sie nun taten. Sie drehten nicht bei, auch die Segel wurden nicht verändert. Shanaya konnte sich jedoch nicht vorstellen, dass sie vollkommen unbeeindruckt waren, selbst wenn sie ahnen würden, dass es nur ein Warnschuss war. Die Lippen zu einer grübelnden Miene verzogen, richtete die junge Frau den hellen Blick herum, betrachtete die Nebelwand, die unaufhörlich weiter auf sie zu kam. Als Lucien seiner Schwester erneut zu rief, dass sie noch ein Mal feuern sollten, richtete die Schwarzhaarige ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Deck, auf die kleinen Gruppen, die sie sehen konnte. Erst, als der Captain in ihrer Nähe sich an sie wandte, legten sich die hellen Augen wieder auf ihn.
„Das werden wir sehen...“
Diesen Satz ließ sie bewusst offen, nahm das Fernrohr entgegen, durch das der Dunkelhaarige eben noch geblickt hatte. Ohne zu zögern hob sie es an, versuchte zu erkennen, was auf dem anderen Schiff vor sich ging.
„Schwer zu sagen, ob sie in die Ecke gedrängte Hunde spielen. Oder ob sie einfach nur planen, die Kanonen von Bord zu werfen, um dem Unausweichlichen zu entkommen.“
Noch einige prüfende Blicke, ehe sie das Fernrohr wieder in Luciens Richtung hielt.
„Aber sie scheinen den Nebel tunlichst meiden zu wollen. Spricht dafür, dass sie sich hier nicht auskennen und ihn nicht als Fluchtmöglichkeit nutzen können. Das macht die Hunde-Variante wohl etwas wahrscheinlicher...“
Denn manchmal blieb Angriff die beste Verteidigung.
[Am Steuer | Lucien | ?]